Nachtfahrt Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster, siebter Teil und Schluß. Er schalt sich selbst einen selbstbetrügerischen Moralapostel. Zumal er sich nicht sicher war, ob er letztlich nicht doch mehr einer nicht genutzten Chance nachtrauerte. Denn was hatte sie schon Verwerfliches getan? Im Gegenteil, seinetwegen hatte sie nicht nur die Heldinnentat vollbracht, seinen Bruder zu heiraten, sondern darüber hinaus auch noch das geleistet, was er von anderen gerne einforderte, aber selbst eher selten in die Praxis umzusetzen in der Lage war, vielleicht auch, da es ihm nie jemand wirklich abverlangte: Durchhaltevermögen, gepaart mit viel Phantasie. Und ehrlich war sie obendrein gewesen. Zumindest hatte er den Eindruck, daß es sich so abgespielt, daß sie in integrer Absicht gehandelt haben könnte, denn wer mochte sich sonst eine solche Geschichte ausdenken? War es am Ende das, von dem er sich seit langem wünschte, es würde ihm geschehen, was gemeinhin als Liebe bezeichnet wurde? So fühlte sich irgendwie in ihrer Schuld. Da er ohnehin nicht einschlafen konnte, sann er darüber nach, sie vielleicht anzurufen und sich zu entschuldigen, als das Telephon klingelte. Vermutlich würde sie das sein, er würde die Gelegenheit nutzen, sie um Vergebung zu bitten, ihr als Entschädigung eine Einladung in seine Wohnung anbieten, wo sie gerne für sie beide kochen dürfe, und auch für den richtigen Champagner würde gesorgt. Der Rezeptionist kündigte ihm jedoch einen Mann an, der unten bei ihm stünde und sich nicht abweisen ließe, der behaupte, sein Bruder zu sein und dringende familiäre Mitteilungen zu haben. Nachdem der Bruder die Tür des Apartements geschlossen hatte, war sein ausholender Schlag gekommen, der ihn vermutlich zur Straße befördert hätte, hätte der Heizkörper den Schwung nicht gestoppt. Es hatte sehr wehgetan, beim Hinfassen an den Hinterkopf meinte er, Blut gefühlt zu haben, auch seine Kinnpartie war schmerzerfüllt. Dennoch hatte er den Eindruck, ohne Brüche davongekommen zu sein. Zumindest in sitzender Position war ihm daraufhin eine aufrechte Haltung gelungen. Sein Bruder stand regungslos an der Stelle, an der er zugeschlagen hatte. Ruhig hatte er zu sprechen begonnen. Seine Frau habe ihn über die Taxizentrale um Anruf gebeten und ihm genauestens geschildert, was vorgefallen war. Nachdem sie sich seiner fortwährenden und immer heftiger werdenden Zudringlichkeiten erwehrt habe, sei er wutentbrannt aus dem Haus in die offenstehende Garage gestürmt und habe mit dem Austernmesser alle acht dort gelagerten Reifen zerstochen, vier für den Winter sowie vier weitere, die er in Kürze aufziehen lassen wollte. Nicht dafür, daß er sich an seine, übrigens alleine ihm gehörende, das nur nebenbei, schließlich habe er viel Geld für sie bezahlt, Frau herangemacht habe, nicht deshalb habe er ihm eine Quittung erteilt. Über solche Schicksalsschläge käme er hinweg, daran sei er gewohnt. Was er allerdings seinen Reifen angetan habe, das sei entschieden zu weit gegangen. Ein sehr alter Film der Erinnerung schien mit einem Mal anzulaufen, einer aus den siebziger Jahren, der diese Abstrusitäten zeigte, von denen man meinte, solche Abläufe hätte das Leben nicht wirklich zu bieten. Es war seinerzeit verwunderlich genug gewesen, daß er vom Bruder gar aufgefordert worden war, dessen Heiligtum zu chauffieren. Das geschah höchst selten, meist nur dann, wenn die Müdigkeit ihren Tribut forderte. In dieser Nacht konnte das jedoch nicht der Fall gewesen sein, da er nach einer Spätschicht den ganzen Tag geschlafen hatte. Nach einer Weile hatte der wie ein rigider Fahrlehrer beifahrende Bruder ihn auf einen zwar noch fernen, aber letztlich doch rasch näherkommenden, auf der Fahrbahn liegenden Gegenstand aufmerksam gemacht. Trotz der zunehmend heftiger, geradezu hektisch werdenden Warnungen hatte er sich magisch angezogen gefühlt und war in geradezu traumwandlerischer Zielsicherheit darübergefahren, obwohl ausreichend Platz zum Ausweichen gewesen wäre, da sie weit und breit die einzigen Nachtfahrer zu sein schienen. Vermutlich ein Stein war es, der von einem ungesichert schuttbeladenen Lastkraftwagen gefallen sein konnte, einer von hunderten oder gar tausenden vielleicht und über eine Strecke von vielen Kilometern möglicherweise. Aber er hatte ihn getroffen. Der Reifen war völlig zerstört gewesen. Ein etwa faustgroßer Streifen war aus dem Pneu herausgerissen worden. Den Wagen auf dem Seitenstreifen der Autoroute anzuhalten, stellte keinerlei Problem dar, auch nicht, den Reifen zu wechseln, wobei der Bruder sich trotz mehrfachem Angebot nicht helfen lassen wollte. Behutsam hatte der den kaputten Reifen anschließend in eine Decke gewickelt und in den Kofferraum gebettet, als ob ein oder gar sein Kind getötet worden wäre, am Ende gar jenes, das ihm nicht vergönnt war, während des Bruders Frauen im Gegensatz zu ihm mit Freude gebärten. Die Rückfahrt in die Wohnung, die sich seinerzeit direkt neben einem recht düsteren Ort befand, war quasi von drückendem Schweigen erfüllt. Seine Tasche solle er packen und gehen, hatte er ihm damals mit von Trauerschmerz geprägter Stimme bedeutet. Mit einem Mal war ihm klar geworden, wann sie beide sich das letzte Mal gesehen hatten. Es war, bevor er alle Familienbande gekappt hatte. Das Ende.
Problemlösung Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, hier sechster Teil. Sie stellte die Flasche vor ihn hin und meinte, von mädchenhaftem Kichern begleitet, das sei Männersache. Zunächst wollte er aufbegehren und auf diesen erzieherischen Unsinn eines in nicht allzu langer Zeit untergehenden und deshalb wohl langsam zur Besinnung kommenden Jahrhunderts verweisen, was bei ihr allerdings offensichtlich noch nicht angekommen wäre. Doch sofort wurde er sich der Absurdität seines emanzipatorischen Unterweisungsversuchs klar und unterließ ihn deshalb, zumal ihm ein südlich gelassenes Lächeln ins Gesicht gefahren und ihm gleichermaßen warm geworden war. So enthielt er sich des Kommentars, begann gar selber zu glucksen und öffnete das Gefäß mit dem Nektar. Sogleich hatte er den Duft in der Nase. Der war wahrlich einzigartig, und er fragte sich, weshalb er immer gezwungen war, alleine deshalb ins Mutterland fahren zu müssen, um an solchen Stoff zu kommen. Denn anderswo gab es solchen Geschmack nicht. Unter dem Siegel brut trank man weltweit Champagner meist bekannter, unter ein illustres Dach gebrachter Marken, die ihn für die Massenproduktion aus allen erdenklichen Lagen derart zusammenschütteten, daß er alle Jahre wieder immergleich roch und schmeckte, als ob es keine Witterungs- und sonstige Einflüsse gäbe. Keller gab es ohnehin nur noch für die teuersten Gewächse und den Tourismus. Oder aber eben bei den kleinen Produzenten, die sich den Unbilden des geschmacklosen Auslandmarktes nicht aussetzen wollten. Mit einem Mal merkte er, wie leicht klischeehafte «Heimatgefühle» mit ihm durchgingen. Vermutlich war der Ritt auf dem burgundischen Faß in Zielrichtung Champagne doch zu intensiv und anhaltend, am Ende gar leichtfertig. Waren sie sich während des Essens gegenübergesessen, hatte sie nun beinahe direkt an seiner Seite, an der Rundung des Tisches Platz genommen und hielt ihm mit glühender werdendem Gesicht ihre leere Flûte hin. Mit der Befüllung der beiden Gläser schienen sich bei ihm die Photographien abzumelden und mit ihnen alle Fragen nach dem tatsächlichen Zustandekommen seines Besuchs in der Heimatstadt und damit im hiesigen Haus. Bevor er ihr mitzuteilen vermochte, wie angenehm das Leben auch ohne dieses ständige Nach- oder gar häufig quälende Hinterfragen sein könnte, hob sie ihr Glas und wünschte ihm gurrend Gesundheit. Mit einem lächelnden Nicken erwiderte er ihren Wunsch und roch an seinem Glas. Dieser Duft, der sich mit dem ihres knisternd näherkommenden Haares vermischte sowie der avant-goût waren kaum zu überbieten. Möglicherweise doch, kam er wieder etwas durcheinander, schloß den Gedanken jedoch dahingehend kurzerhand ab, daß er ihm derartig auf jeden Fall noch nicht in die Synapsen gefahren sei. Sie rückte noch etwas näher an ihn hin und schaute ihm intensiv in die Augen. Wohlig sah er sich im funkelnden Dunkel der ihren gespiegelt und begann zunehmend, alle Zweifel abzustreifen und sich einem abzeichnenden Finale zu öffnen. Da ging ein leichter Ruck durch sie. Sie spüre, was ihn hauptsächlich beschäftige, also werde sie es ihm nun endlich erklären und damit hoffentlich das Problem gelöst haben. Nur um ihn gehe es, nicht um seine Mutter, nicht um seinen Bruder oder andere Verwandtschaft, alleine um ihn. Und damit auch um sie. Um sie beide. Sein Bruder habe sie nie wirklich interessiert. Doch da sie aus Thailand hinaus und auch unbedingt nach Europa wollte, habe sie sich die lothringische Herkunft ihres leider zu früh verstorbenen Vaters zunutze gemacht, was ihr letztendlich auch einiges erleichtert habe, zumindest dem Bruder gegenüber. An eine professionelle Agentur habe sie sich gewandt, die im besonderen Ehepartner in Europa vermittle, mit Schwerpunkt Frankreich. Recht bald habe sich der Kontakt entwickelt. Nach zwei Telephonaten seien Briefe ausgetauscht worden. Kurze Zeit später sei die Möglichkeit des Telefax' hinzugekommen, die jedoch nur dem Faktischen gedient habe, als ein Aufeinandertreffen feststand, für das der Bruder im übrigen um einiges mehr als zwanzigtausend Francs an die Agentur habe zahlen müssen. Einem der Briefe hatte er ein Bild von einem jungen Mann beigelegt, von dem sie sofort sicher war, daß nur er es sein konnte, den sie begehrte, auch wenn der mittlerweile um einiges älter geworden sein dürfte. Von ihm hatte der Bruder ihr vorgeschwärmt, von dessen warmem Wesen und Wissen, von dessen Weltgewandtheit und beruflichem Erfolg. Mittlerweile sei ihr klar, daß er sich seinerzeit mit fremden Federn schmücken wollte, zumal der junge Mann noch Student gewesen sein mußte zu dieser Zeit, also beruflich noch nicht gefestigt sein konnte. Doch vor gut drei Jahren, da sei das für sie unerheblich gewesen. Alleine diesen jungen Mann wollte sie haben, ihn zumindest zunächst einmal kennenlernen. Um das zu ermöglichen, um auf jeden Fall im Land bleiben zu dürfen und nicht darin als Sans papiers herumirren zu müssen, schließlich gälte ihr Papa als Deserteur nach wie vor als Vaterlandsverräter, auch wenn der Krieg bereits beendet war, als er in Thailand Urlaub nahm, deshalb habe sie quasi in Kauf nehmen müssen, den eigentlich wenig attraktiven und überdies recht eingefahrenen Mann zu heiraten. Ein paarmal sei sie ihren sogenannten ehelichen Pflichten nachgekommen, sie seien nicht von Bedeutung gewesen und auch, da sie sich zunehmend abgeneigt zeigte, bald nicht mehr gefordert worden. Was nicht heiße, daß damit alle Probleme gelöst seien, sehe der Bruder sich doch in einer Art Besitzrecht. Hin und wieder vergnüge sie sich mit Freunden, die ebenfalls aus den Ländern um das ehemalige Indochina stammten, unter ihnen übrigens der Lieferant des Champagners. Erst nach intensiver Befragung habe ihr der Bruder gestanden, diesen jungen Mann seit bald zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen zu haben, da es zu einem irreparablen Zerwürfnis gekommen sei. In winzigen Häppchen schließlich habe sie die Familienverhältnisse und damit erfahren, daß ein Aufeinandertreffen aus familiärem Anlaß kaum möglich sei. So habe sie nach anderen Möglichkeiten gesucht. Mit Hilfe ihrer Freunde, von denen einer bei der Verwaltung des Départements und ein weiterer bei der Police nationale tätig sei, sei sie an weiterführende Information über den Gesuchten gekommen. Nicht nur seinen Wohnort im Ausland samt privater Anschrift und Telephonnummer habe sie so in Erfahrung bringen können, auch, welcher beruflichen Tätigkeit er nachgehe und daß er seit einiger Zeit an der Universität von Toulouse lehre. Also sei sie dorthin gefahren und habe ihn sich angeschaut, ein Bild von ihm gemacht, ihm zugehört bei seinen Vorträgen und Gesprächen mit den Studenten. Das habe ihren Wunsch nach einem Zusammentreffen verstärkt. Direkt auf ihn zuzugehen habe sie sich nicht getraut, da der Bruder zunehmend ablehnend auf Fragen nach dieser Verbindung, zuletzt gar nur noch herablassend oder gar böse reagiert habe. Vor einigen Wochen nun sei sie gebeten worden, die im Pflegeheim befindliche und ihrer multiplen Sklerose wegen nahezu bewegungsunfähige, zudem in die Jahre gekommene Mutter zu besuchen, von der ihr Gatte im übrigen ebenfalls nicht sonderlich freundlich spräche, möglicherweise, da die mit Vorliebe in der Vorbildfunktion des jungen Mannes herumtaumelte, obschon oder auch weil sie den rund zwei Jahrzehnte nicht gesehen habe. Die sporadischen Besuche ihres anderen Sohnes fänden vermutlich in erster Linie deshalb statt, weil der sich dadurch eine Erbschaft mindestens in Höhe des größten verfügbaren Mercedes erhoffte. Doch bei dieser Gelegenheit sei ihr die Lösung ihres Problems gekommen. Einen der Freunde habe sie überreden können, besagtem jungen Mann den Tod der Mutter zu übermitteln. Die telephonische Benachrichtigung sollte stattfinden, wenn der seinen Lehrverpflichtungen nachkomme, also mit Sicherheit sich nicht in seiner Wohnung aufhielte. Die Dame des Sekretariats der Universität sei überaus freundlich und auskunftswillig gewesen, was die jeweiligen Aufenthaltsorte ihres mittlerweile gar fest berufenen Professors betraf. Und der säße nun hier bei ihr und tränke mit ihr Champagner und würde sich hoffentlich bald an sie und sich in sie hineinschmiegen. Er war aufgestanden, um im Hotel anzurufen. Selbstverständlich könne er auch um diese Uhrzeit noch ein Zimmer haben, als Inhaber der Carte fidélité sei schließlich jederzeit für ihn reserviert. Selbst auf die Gefahr hin, an seinen Bruder zu geraten, rief er nach einem Taxi. Kaum fünf Minuten später stand eines vor der Tür, dessen Chauffeur ihm durch das Fenster betrachtet unbekannt schien. Er verabschiedete sich knapp von der wie völlig entleert dasitzenden Schwägerin und fuhr in die Herberge, in deren Garage ohnehin sein Wagen auf ihn wartete, um ihn aus diesem Moorleichendunst der Blutsverwandtschaft herauszufahren. Das Ende naht.
Reifende Früchte Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter , vierter, hier fünfter Teil. Gegen achtzehn Uhr schob der Bruder ein außerordentlich umfangreiches Stück Quiche à la lorraine in den kleinen Strahlenkasten. Dabei gackerte er fortwährend etwas von einer «Junggesellenmaschine». Als er die beiden verdutzt fragenden Gesichter sah, erklärte er seiner Gattin, mit dem Kopf auf seinen mittlerweile mit einem Pastis ausgestatteten nahen Verwandten weisend, von dem da, dem Kleinen, habe er das. Das sei früher dessen Bezeichnung für den so verachteten Mikrowellenherd gewesen, den der ja nicht benötige, da er selber und richtig koche oder sich bekochen lasse. Er erinnerte sich. Tatsächlich befand sich in seinem Haushalt längst ebenfalls ein solcher, den er sogar selbst gekauft hatte, wenn auch mehr aus Mitgefühl mit den Werkern, denen zusehends mehr abverlangt wurde, nachdem der Gründer der Fabrik in der Normandie dieselbe seinen Mitarbeitern «überlassen» hatte. Doch da er unmittelbar danach keine weiteren Gedanken mehr an dieses Ereignis verlor und ihn auch nie benutzte, was auch kaum möglich gewesen wäre, war er doch nahezu unerreichbar weit oben aufgestellt worden und ihm somit der möglicherweise tatsächlich von ihm geprägte Begriff abhanden gekommen. Des Bruders Gedächtnis indessen schien von der Zeit ihrer beider letzten Begegnungen zu zehren, die weit davor lag. Ob er seine Hure de cochon nicht möge, fragte sie ihn, sie habe den Schweinskopf eigens für ihn gekauft. Sie könne ihn ja zubereiten, er äße ihn morgen, er habe schließlich eine Junggesellenmaschine, aber nun müsse er sich hinlegen, er habe eine anstrengende Nachtschicht vor sich. Er schlang das enorme Stück Speckkuchen hinunter und verließ die Küche, ohne den Gesprächspartnern auch nur einmal in die Augen geschaut zu haben. Nach dem Ausschlafen werde er abreisen, teilte er ihr lakonisch mit, er wisse nicht, was er hier ansonsten zu tun habe. Zunächst einmal gut essen, entgegnete sie, in etwa einer Stunde sei alles bereit. Und ob sie nicht, schob sie fast ein wenig herausfordernd lächelnd nach, auch eine kleine Begründung für seine Anwesenheit sein könne. Die Vorstellung habe durchaus etwas Appetitliches, dachte er, aber sagte es nicht. Er vermied eine klare Antwort, indem er lediglich nickte. Lieber nahm er von dem weißen Burgunder, den sie für ihn geöffnet hatte mit der Bemerkung, der Bruder tränke so etwas leider nicht, lieber mal ein Bier oder auch zwei, die nähme er dann allerdings inmitten der Kollegen. Für später habe sie ihnen beiden noch eine schöne Flasche Champagner kühlgestellt, ein Freund sei in einer kleinen Kellerei tätig, die diesen ambrosischen Trank ausschließlich für Franzosen produziere und der bereits nach Aphrodites Meeresschaum rieche. Auf das Essen freute er sich, durchaus auch auf das Danach, die Unterhaltung mit ihr, die zusehends aus dem Bild eines eurasischen Dummchens heraustrat, das er von ihr gezeichnet hatte. Andererseits begannen ihm ihre Koketterien zunehmend auf die Nerven zu gehen. Er mochte es nicht, wenn Frauen sich als Damen gerierten und damit alle Natürlichkeit an der Garderobe abgaben, weil sie glaubten, Männern damit gefallen zu können oder zu müssen. Selbst wenn er ihren Kulturkreis berücksichtigte, der ohnehin von einem früheren Jahrhundert sowie der Kolonialisation beeinflußt schien. Er kannte diese Attitude, die häufig besonders von Menschen gepflegt wurde, die in den Niederadel eines passablen Einkommens erhöht worden waren, aus anderen französischen Kolonien, selbst dann, wenn es ehemalige sein sollten, wo der Mann noch als jemand gesehen wurde, zu dem mehr oder minder raffiniert aufgeschaut werden mußte. Auf ihn wirkte das als alberne Geziertheit, und die war ihm ein Greuel. Diese Haltung wurde ihm des öfteren zum Vorwurf gemacht, die einmal in der spöttelnden Bemerkung der in Österreich sozusagen gerne in der Diaspora lebenden Freundin gipfelte, er sei gar kein richtiger Franzose oder einer, dem die vielen Auslandsaufenthalte die Wurzeln gekappt hätten. Seine «schöne Arlesierin», wie er sie hin und wieder nannte, hatte es eines Künstlers wegen nach Graz, den Artisten dann ins tiefe Klagenfurt verschlagen, was ihren gewohnten Vorstellungen von Süden zuwiderlief. Worauf sie jedoch nicht etwa in die von ihr bei jeder Gelegenheit gepriesene heimatliche Region am Rand der Camarque zurückkehrte oder zumindest, wie so viele Menschen vom Land, in die weltweit gloriolisierte Metropole der Grande Nation eintauchte. Sie blieb. Aber nicht etwa aus verletztem Stolz, den man ihr zuhause nicht ansehen sollte. Da genoß sie lieber ihren Status als eine Einäugige unter diesen Blinden, die Frankreich aus dem Fernsehprogramm, allenfalls von einem verlängerten Wochenende um Montmarte, Montparnasse und Quartier Latin kannten. Kaum ein gesellschaftliches Ereignis gab es, zu dem sie als «Pariserin», die ihre Hauptstadt auch nur von einigen Wochenenden her kannte, nicht eingeladen worden wäre. Möglicherweise hatte es jedoch auch mit ihren hervorragenden Deutschkenntnisen zu tun, an die sie als Studentin der Germanistik an der Universität zu Montpellier sowie in Bett und Küche des Hochschullehrers gelangt war, des gemeinsamen Freundes aus Köln. Zurückblickend meinte er auch, dieses offenbar von Frauen geforderte Verhalten an seiner Mutter oft genug erlebt zu haben, häufig dann, wenn ihr ein Gläschen mehr verabreicht worden war, und durchweg während ihrer vielen gemeinsamen überseeischen Aufenthalte, obwohl sie verantwortlich im Beruf stand, nicht zuletzt deshalb materiell bestens versorgt war und diese Selbsterniedrigungen nicht notwendig gewesen wären. Der fremderzogene und wohl deshalb leicht andersgeartete Bruder konnte aus diesem Grund über solche Erfahrungen nicht verfügen. Um die Situation zu entzerren, kam er wieder auf die Photographien zurück. Mit leichtem Entsetzen, von dem er nicht wußte, ob es echt oder gespielt war, wehrte sie ab. Später, entgegnete sie mit abgesenkter Stimme, wenn er aus dem Haus sei. So überließ er sich zunächst seinem Schicksal, das außergewöhnlich schmeckte. Seit er zweimal bei dem Freund in Paris zu Gast war, hatte er nicht mehr so gut thailändisch gegessen. Leider war der unlängst nach Brasilien versetzt worden, so daß er seither keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, in den Hochgenuß dieser Küche zu kommen, diesem idealen Konglomerat unterschiedlicher asiatischer und europäischer Regionen. Dieser Freund war es auch, der ihm den Rat erteilte, solche Restaurants grundsätzlich nur in Begleitung jener seiner Landsleute aufzusuchen, die selbst für eine eigene ausgezeichnete Küche bekannt waren. Seine Schwägerin könnte eine solche Begleiterin sein. Doch diesen Gedanken verwarf er rasch wieder, war ihm doch nicht an einer Restauration familiarer Antiquitäten gelegen. Andererseits schufen die unterschiedlichen Genüsse samt dem Wein aus der Nähe von Beaune eine sinnliche Atmosphäre, in der ihm zusehends wohler wurde. Kreuz und quer hatte sie sich durch das Angebot der Märkte gekauft, auch bretonische Austern hatte sie aufgetischt und tatsächlich thailändische Garnelen ergattert. Erst jetzt verstand er es richtig, das entrückte Gesicht des Bruders angesichts der Fülle, wenn der wohl auch eher an die Kosten gedacht haben dürfte. Vier hochwertige Qualitätsreifen samt Felgen, Auswuchtung, Montage und einem Servicevertrag für zwei Jahre dürften sicher einen Gegenwert darstellen. Oder vielleicht zwei Monate täglich Quiche Lorraine. Bis etwa elf Uhr am Abend aßen sie und tranken in einem fort. Dann war ihm nach dem angekündigten Champagner als Krönung des abendlichen Mahls. Sie schüttelte den Kopf, schenkte ihm noch einmal nach vom Grand Cru aus der Bourgogne und meinte, erst sollte ihr Gatte aus dem Haus sein. Dieser besondere Champagner und damit die Verbindung zu dessen Lieferanten löse unter Umständen heftige Reaktionen bei ihm aus, das wolle sie vermeiden. Kurz danach schlurfte sein Bruder in die Küche, sah die immer noch üppigen Reste der Tafelei, warf leicht unwillig den Kopf hin und her, murmelte Unverständliches, das nicht freundlich klang, und verabschiedete sich. Durch das geöffnete Fenster hörten sie, wie der gute Stern angelassen wurde und sich entfernte. Sobald das Geräusch des abfahrenden Diesels, von dem ein Freund einmal meinte, ein solches Auto klänge immer, als ob dessen Motor defekt sei, nicht mehr zu hören war, stand sie auf, ging in den Keller und kam mit einer dort gekühlten Flasche zurück, deren Etikette ihm bekannt vorkam. Und richtig, es war dieser Schaumwein, den seine Gastgeberin Meeresschaum genannt hatte und der ihm vor einiger Zeit von einer Ecuyère de cuisine in Verneuil einmal kredenzt worden war, ein Jahrgangschampagner, wie es ihn ausschließlich im Land gab und von dessen Fruchtbarkeit er wußte. Eine Fortsetzung fehlt sicherlich noch. Vielleicht auch zwei.
Duftmarken Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter Teil. Er entließ sich aus dem Grübeln über diese Seltsamkeiten und ging zum direkt nebenan gelegenen Badezimmer, um sich frischzumachen. Wie bereits im unteren Geschoß kam ihm eine Duftmischung aus leichter Muffigkeit und synthetischem Geruchsaufheller entgegen, wie er sie auch aus anderen französischen Haushalten des Nordens kannte. Sogenannte Düfte erfreuten sich im Land der Frische außerordentlicher Beliebtheit, nicht nur im Norden. Einer ansonsten überaus wohlriechenden — Napoleon kam ihm dabei in den Gegen-«Sinn», der in einem Brief an Josephine schrieb, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim — und überhaupt appetitlichen jungen Frau, die im österreichischen Süden lebte und nicht allzuoft in den ihres französischen Zuhauses kam, hatte er bei seinen Besuchen von seinen regelmäßigen Reisen via Italien stets drei preiswerte Artikel mitzubringen: zum einen einen bestimmten nußartigen, aber auf ihn doch eher künstlich wirkenden Brotaufstrich, da der vom italienischen Hersteller in ihrem Heimatland weicher, geradezu dünnflüssig hergestellt wurde; der zweite war ein Raumgas, das den im Laboratorium produzierten Lavendel der Haute-Provence suggerierte; sowie der dritte, ein speziell für Frankreich kreiertes und etwas wie Maiglöckchen vermittelndes Geschirrspülmittel eines belgischen Produzenten. Daß sie an kein erwähnenswertes Baguette und andere Selbstverständlichkeiten französischen Lebens kam, daran hatte sie sich gewöhnt. Aber ohne diese synthetischen Geruchsnoten wollte sie nicht leben. Die Neugierde ließ ihn wieder hinausgehen auf den Flur des Obergeschosses. Ob es überall so roch, wollte er wissen. Er öffnete die direkt neben dem Bad gelegene Tür. Es handelte sich dabei offensichtlich um das eheliche Schlafzimmer, stand doch ein sehr breites Bett darin. Andererseits nichts auf eine männliche Anwesenheit schließen ließ, auch keine zwischenzeitliche, und mit Sicherheit nicht die seines Bruders. Dazu war das Zimmer zu angenehm schlicht, ein wenig zu feminin und zudem mit einigen buddhistisch oder auch indisch anmutenden Wandbehängen samt auf einem Stuhl abgelegter, in eine ähnliche Richtung weisende Literatur ausgestattet. Von alldem konnte er sich, nicht nur nach den Worten der mütterlicherseits hinzugeheirateten Stiefschwester, nicht so recht vorstellen, daß der Bruder es in unmittelbarer Umgebung zulassen oder gar goutieren würde. Und es roch, abgesehen von leichtem Parfumschimmer, auch zu neutral. Offenbar wurde es des öfteren gelüftet. Und dann erinnerte er sich, wie rasch er am Telephon war, als seine Frau ihn aus dem Schlaf gerufen hatte. Demnach dürfte er seine Ruhestätte im unteren Bereich des Hauses haben. Es lag auch nahe, denn immer wieder fuhr er auch Nachtschicht, wie er meinte, innerhalb der Gesprächsrunde der Taxifahrer vernommen zu haben. Vom Geschäft war die Rede, das am Freitag ab Mitternacht begänne, manchmal sogar Fahrten bis ins rund sechzig Kilometer entfernte Nancy einbrächte und das man sich selbstverständlich nicht entgehen lasse. Heute war Freitag. Nachdem er weitere Neugier unterdrückt und sich ein wenig aufgefrischt hatte, ging er hinunter. Sein Bruder saß vor dem Fernsehgerät, das er nicht ausschaltete und auch kaum aufblickte, als er in den Raum trat. Es war offensichtlich und wie früher, man hatte sich nicht sonderlich viel zu sagen. Auch das geschwisterliche Wiedersehen nach zwanzig Jahren ergab keinen Wissensdurst. Das schien eine der wenigen Gemeinsamkeiten zu sein, die sie hatten. So bedeutete er dem Bruder, sich ein wenig umschauen zu wollen und fragte, ob es recht sei. Das kurze Nicken des Kopfes, dessen Blick gebannt auf das Gerät gerichtet war, in dem gerade Piloten verschiedener automobilähnlicher Gefährte dabei waren, sich gegenseitig von der Strecke zu rammen, wertete er als Einverständnis. Bevor er sich abwand, schaute er noch einmal genauer hin und sah, daß der eher flaumige Bart die in der Jugend heftige und offenbar noch immer nicht ausgestandene Akne nicht verbergen konnte. So richtete er seinen Blick auf das Ambiente. Es war die obligatorische Einrichtung der meisten Franzosen, die beim Einzug in eine Wohnung oder ein Haus sich einmal eine solche zulegten und dann nie wieder das Bedürfnis nach Erneuerung spürten. Auch der röhrende Hirsch, hier in Form einer Phototapete, die ein Stück recht dunkel bewaldeter nördlicher Vogesen darstellen könnte, wäre da nicht das elsässisch wirkende Dörfchen im Hintergrund, dürfte seit dem Hausbezug die Wand zieren. Die Vergilbung, sicherlich hervorgerufen von den selten ausgehenden und seltsam riechenden Zigarillos, deren Art er meinte, vor langer Zeit in Deutschland gesehen und gerochen zu haben, würde sicherlich halten bis zum Ableben des Hausbesitzers. Für solche Neuerungen mochte man nicht ins Portemonnaie greifen. Das tat man um so mehr für das Essen. Im Land gab man gut zwanzig Prozent seines Einkommens dafür aus. Allerdings zweifelte er an, ob das in diesem Haus ebenso der Fall war. Der heutige Einkauf der Schwägerin schien ihm eher eine Ausnahme zu sein. Um nach ihm zu sehen, ging er dem Geklapper der Töpfe nach, hinüber in die Küche. Die allerdings machte auf ihn den Eindruck, wie ihre Haupt- oder einzige Akteurin jüngerer Generation zu sein. Überrascht war er, sich inmitten einer in letzter Zeit Mode gewordenen sogenannten Cuisine américaine zu befinden, gemäßigt zwar, aber ausreichend für zwei Menschen, die wohl nicht allzu häufig Besuch bekamen, und mit Sicherheit nicht so alt wie der Hausherr. Die Köchin bewegte sich anmutig und lächelnd inmitten von Gerüchen aus fernöstlichen Kräutern und Gewürzen, die ein hohes Maß an Sinnlichkeit verströmten. Ja, das hier sei ihre kleine europäische Kochkiste, ihr petit sanctuaire. Etwas größer hätte sie es sich gewünscht mit etwas mehr fröhlicher Helligkeit und auch ausgestattet mit «offenem Feuer», womit sie das in Frankreich zum Kochen lieber benutzte Gas gemeint haben könnte, aber sie habe dem Gatten glücklicherweise zusätzliches Gerät abtrotzen können, sonst würde das nicht so recht mit dem indochineschen Mahl für den Ehrengast. Da fielen ihm die Photographien wieder ein, und da er nicht annahm, sein Bruder hätte sie für ihn bereitgelegt, fragte er sie danach. Bevor sie sich zur Seite drehen konnte, sah er, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Offensichtlich stammte diese Art Heiligenbildchen tatsächlich von ihr, und sie hatte sie wegzuräumen vergessen. Oder aber, wohl wissend, daß ihr Mann nie einen Fuß in diesen Haushaltsraum setzte, bewußt für ihn und wie zufällig aufs Bügelbrett drapiert? Langsam drehte sie sich ihm zu und bedeutete ihm mit einem zwar ernsten Gesicht, in dessen Augen er allerdings ein Flunkern zu erkennen glaubte, ihm das erklären zu wollen, aber bitte erst später, wenn der Bruder aus dem Haus sei. Sie habe ihn einfach nicht davon überzeugen können, die Nachtschicht für den doch wahrlich seltenen Besuch ausfallen lassen zu müssen. Von jahreszeitlich bedingten Imponderabilien zum Stillsitzen verurteilt, wollte das kleine Präsent noch raus. Eine Fortsetzung dürfte allerdings aus der Kälte des nahenden nächsten Jahrzehnts kommen.
Bewegung Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter Teil. Wie sollte er sich verhalten? Bereits die Küsse für die Mutter, auch wenn sie landesübliche auf die Wangen waren, hatten ihn Überwindung gekostet. Und nun dieses grizzlyartige Wesen, aus dessen rötlichbrauner Behaarung etwas Grau durchblitzte, womit die Farbigkeit der Person sich erschöpft hatte. Bestimmt dreißig Kilo hatte er zugenommen seit der letzten Begegnung, es konnten auch vierzig sein, es verlor sich ein wenig bei diesem Hünen, der ihn um zwei Köpfe überragte und die ihn immer wieder einmal hatten rätseln lassen, welche verwandtschaftliche Erbmasse dafür verantwortlich zu machen sein könnte bei elterlichen Formaten wie auch dem eigenen, die weniger Altnormannisches assoziierten als mehr mittelasiatische Reiterei. Der ein wenig an Thor erinnernde Koloß nahm ihm seine Nachdenklichkeit ab, indem er ihn umarmte und ihm anschließend heftig auf die Schulter klopfte. Wie in alten Zeiten, als er ihn unzählige Male gebeten hatte, das zu unterlassen, er sei schließlich kein Römer. Frühstück gebe es später, bei den Freunden. Hierbei regte sich massiver Protest in ihm. Nein, ohne einen Kaffee verlasse er dieses Haus hier nicht. Kaum hatte er es ausgesprochen, stand eine geradezu widerspenstig gelockte Blondine vor ihm, die dem Aussehen nach die frische Tochter eines Sammlers von Pferdefüßen oder ähnlichen Feinheiten aus der Bretagne oder der Normandie sein konnte, und reichte ihm lächelnd eine Tasse mit seinem südlichen Lebenselexier. Hastig schüttet er das passable Gebräu hinunter. Er würde noch einige Tassen benötigen. Das war vermutlich das einzige, das er von der Mutter hatte: Kaffee, zu jeder Zeit und wo auch immer man sich aufhielt. Den Bruder hatte er nie welchen trinken sehen. Seine Hoffnung lag nun alleine bei seiner Schwägerin und deren Ankündigung, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Ohne Kaffee würde er auf dem Absatz umdrehen und das Haus verlassen. Aber das auch für den Fall, daß man extra für den Kaffeekauf nach Deutschland führe, «der Qualität wegen». Sein Wagen stand in der Hotelgarage. Er durfte ihn dort stehen lassen, das hatte er mit dem Direktor des Hauses vereinbart. Es waren nicht sonderlich viele Gäste anwesend zur Zeit. Er hatte kein Bedürfnis, mit seinem Bruder über Autos zu sprechen. Dazu käme es zwangsläufig, sähe er die Type. Einen solchen Franzosenschrott könne man nicht fahren, allenfalls schnell verkaufen, die Neger da unten in Afrika nähmen sowas gerne, hörte er den begeisterten Anhänger des deutschen Sterns sagen, ihn anheben zu einem sicherlich seit Jahrzehnten gehaltenen Vortrag. Deshalb ließ er es lieber gleich und sich in guter rechtsrheinischer Wertarbeit herumkutschieren. Das schließlich war des Bruders Profession, die sich leidenschaftlich seines Leben bemächtigt hatte, über die ging bereits in jungen Jahren nichts, auch daran dürfte sich nichts geändert haben. Als er eingestiegen war in das schwarze Gefährt, das auch in seinem Herkunftsland gerne als Traktor bezeichnet wurde, fragte sein Chauffeur ihn, wie er eigentlich in die Heimatstadt gekommen sei. Er gab vor, bis Paris geflogen zu sein und von dort aus seine Reise mit der bummeligen Bahn fortgesetzt zu haben. Diese abwertende Bemerkung über ein von ihm nicht sonderlich geschätztes Verkehrsmittel würde ihn milde stimmen, und da der Bruder früher schon nicht geflogen war, weil er unter anderem die Sicherheit des Transportmittels Flugzeug stark anzweifelte, dürfte der die Umständlichkeit einer solchen Reiseroute nicht bemerken. Frankreich verfügte über ein dichtes Netz regionaler Flugverbindungen, und so gab es von allen möglichen Flughäfen aus raschere Wege nach Metz beziehungsweise Nancy. Als Taxifahrer sollte er das wissen, aber Paris klang einleuchtender. Und die Frage nach dem Fahrzeugtyp war damit rascher vom Tisch. Zumal die Autofrage auf andere Weise schnell wieder aufkommen sollte. Auf dem Weg zu den Kollegen waren sie. Denen habe er heute früh zu Schichtbeginn bereits von seiner Ankunft berichtet, und einige unter ihnen seien ihm sicherlich noch bekannt, er ihnen auf jeden Fall. Daß das zwanzig Jahre zurücklag, kam ihm in seinem mikrokosmischen Blick auf die Welt nicht in den Sinn. Er ahnte, worüber gesprochen werden würde oder auch gestritten. So war es denn auch, nachdem ein paar der Herren, an die er sich allesamt nicht erinnerte, ihn begrüßt hatten wie einen in der Fremde verlorenen Sohn. Doch bald kam man zum die Welt bewegenden Thema. Einmal mehr ging des Bruders Stern als Minderheit unter. Doch das focht ihn nicht an. Bei dieser Thematik war er gerne Exot. In anderen Bereichen war man sich schließlich einig. Beim Essen beispielsweise. Da herrschte der regionale Patriotismus vor. So war er dann doch auch recht bestürzt, als er sah, was seine Frau an argen Exotereien eingekauft hatte. Vermutlich dachte er zunächst an die Kosten, etwa, daß man dafür sicherlich vier neue Pneus bester Qualität erwerben könnte. Aber vorrangig dürfte gewesen sein, daß ein Teil des Einkaufs sich noch bewegte. Da die Gattin, ein zartes, geradezu filigranes Geschöpf, diese Bewegung offenbar vorausgesehen hatte, beeilte sie sich, ihm mitzuteilen, eigens für ihn habe sie eine Hure besorgt, auch das sei letztlich eine südostasiatische Spezialität. Damit sei er nicht ganz so ausgegrenzt von der heutigen, zu Ehren des Gastes etwas orientierteren Küche. Das kulinarische Mitbringsel für den Bruder wollte er gar nicht so recht anschauen, doch auch auf die anderen, ihn in all ihrer Farbigkeit schon eher beindruckenden Köstlichkeiten vermochte er sich trotz seiner eigentlichen Wahrnehmungsfähigkeit nicht recht konzentrieren. Um ein Haar hätte er laut ausgerufen: Wie kommt solch ein grober Klotz inmitten dieser Umgebung maschinell gestrickter röhrender Hirsche zu einem derart feinen Gebilde?! Mit einem Mal erinnerte er sich an die wie nebenbei einfließenden Worte der Stiefschwester, denen er keine Beachtung geschenkt hatte, was sie nicht davon abhielt, weitere Charakteristika zu liefern, die ihm nun im eigenen, von leichter Garstigkeit geprägten Wortformat präziser aufschienen. Es sei, nach einer über eine Art Wettbüro gekauften Philippina, die nach einem knappen Jahr gen London entschwunden sei, die dritte, über die erste wisse sie nichts, Ehefrau des Bruders. Diese staatlich sanktionierte Verbindung habe nun bereits seit drei Jahren Bestand. Über Katalog hätten sie sich kennengelernt. Kurz nach ihrem Eintreffen, eine Visitation in ihrem Land habe er aus Verkehrssicherheitsgründen abgelehnt, hätten sie geheiratet. Mit ausschlaggebend dürfte gewesen sein, als sich herausgestellt hatte, daß ihr Vater ein in Indochina stationierter Soldat aus einem lothringischen Dorf nahe der Grenze zu Deutschland war, der in thailändischen Urlaub geflohen und gleich dort geblieben sei. Sieben Kinder habe er hinterlassen. Jedes Jahr eines. Dann sei er erschöpft dahingegangen. Dem Bruder würde das sicherlich nicht passieren. Denn es habe den Anschein, als sei er derjenige, der nicht so recht zugange komme und nicht, wie zuvor gemutmaßt, seine Ehefrauen. Er traute seinen Augen nicht. In dem kleinen Zimmer, in dem vermutlich ansonsten die Wäsche aufbewahrt und geplättet wurde und das für ihn aufgeräumt worden war, lagen auf dem zur Seite gestellten Bügelbrett Photographien. Sofort hatte er sich darauf erkannt. Es waren Bilder ausschließlich von ihm und, bis auf eines, aus einer Zeit, als er sämtliche Familienbande längst gekappt hatte. Dieses eine konnte er seinem Bruder aus Höflichkeit geschickt haben. Es zeigte ihn als jugendlichen Bräutigam neben seiner Braut, die ihm an der Universität in Kopenhagen aufgefallen war, da sie grundsätzlich in Tracht erschien und immer in seiner Nähe Platz nahm. Zwar kam sie aus Südwestfinnland, akzeptierte jedoch, wenn auch widerwillig, seinen Wunsch, in diesem etwas anderen Rathaus zu heiraten, dessen Baumeister er sehr verehrte. Man hatte sich kurz danach in Freundschaft getrennt, sicherlich auch, weil sie ihre Heimatverbundenheit gar zu ungern ablegte. Auf den anderen Photographien war er als agil wirkender Redner in einer Umgebung zu sehen, die Hochschulcharakter hatte. Höchstens anderthalb Jahre alt konnten sie sein, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Gastprofessur im Südwesten Frankreichs angetreten, zugeschanzt von einem Freund mit Lehrstuhl. Wie zufällig lagen sie dort, als hätte man vergessen, sie wegzuräumen. Das bewegte ihn durchaus, machte ihn aber vor allem nachdenklich. Über eine Fortsetzung wird noch nachgedacht. Aber zunächst einmal habe sogar ich den jahreszeitlichen Ereignissen gemäße Verpflichtungen: Erma mam (das ist kleinmoritzisch und heißt in der Übersetzung: Erstmal was essen. Alles andere ist unwichtig.) Ich wünsche allen die dafür erforderliche Ruhe.
Lothringischer Eintopf Der Geschichte Ungleiche Brüder zweiter Teil. Ein unangenehmes Geräusch unterbrach seinen sanften und freudvollen Schwebeflug über das saftige Grün internationaler Begegnungen mit all ihren göttlichen Farbtupfern. Nach einer Weile identifzierte er es als typisches Gerassel eines Hoteltelephons. Die Uhr zeigte kurz nach sieben, aber man hatte ihm mit freundlichem, fast schon liebevollem Lächeln im Restaurant noch eine Flasche des besinnlichen Moulis serviert, den er von anderen Häusern dieser von ihm bevorzugten Kette kannte und der ihn einigermaßen in eine innere Gerade zurückbrachte. Das Gerassel endete, begann jedoch erneut, als er sich gerade hineinbegeben wollte in die Hoffnung auf die Fortsetzung seines Gleitflugs. Er würde seinen Bruder anrauzen, quasi zurückraunzen auf dessen Reaktion gestern abend, des einen senile Bettflucht sei möglicherweise ein ausreichender Grund für eine erneute Beendigung von Familienbanden. Am anderen Ende der Leitung flötete ihn Engelhaftes an mit tausenden von Entschuldigungen für die frühe Störung, aber die enge Verwandtschaft sei unterwegs auf dem Weg zu ihm und deren ausgeprägtes Organ sicherlich in Kürze zu vernehmen. Sie wolle ihn vorbereiten. Das täte sie nun auch, wenn auch anderweitig, auf dem Markt, wo sie mit Sicherheit auch ein paar Schalentierchen erstehen könne, wenn nicht dort, dann in den Galeries Lafayette, die hätten sogar häufig Garnelen aus dem Golf von Thailand. Überhaupt sei sie glücklich, ihn hier zu wissen, nicht nur, weil der Bruder, der seiner Heimat auch in der Küche streng verbunden sei und am liebsten dreimal am Tag das äße, woran sie sich mittlerweile zwangsläufig auch schon gewohnt hätte, an Quiche lorraine nämlich, die nähme er durchaus auch in einer Art Suppe mit viel Speck zu sich. Und froh mache sie sein Dasein, da ihr Gatte ihr mit leicht distanzierendem Gesichtsausdruck erzählt habe, sein Bruder nähme die seltsamsten Dinge zu sich, gerne Meeres- und Flußgetier, sogar Frösche, und schrecke auch vor fremdländischer Nahrung nicht zurück. Er wollte sie fragen, wie denn sie überhaupt zusammengekommen seien, erinnerte sich dann doch zunächst lieber an die chinesische Übersetzung der Frage «Wie geht es Ihnen»: Haben Sie heute schon gegessen? Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es schon wieder. Er telephonierte höchst ungern, und am frühen Morgen schon gar nicht. Seinen Bruder erwartete er. Doch es war erneut seine Schwägerin, die ihm noch einmal sagen wollte, wie froh sie über seine Anwesenheit sei und daß sie ihm diese auch so angenehm wie möglich ausstatten würde, auf daß er möglichst lange bleibe. Die Aussicht auf weitere Redeflüsse einer offenbar im Schweigen Inhaftierten und zwischenzeitig aus ihrem Gefängnis Ausgebrochenen ließ allerdings leichte Zweifel an seinem Wohlbefinden aufkommen, zumal das Telephon kurz nach dem Auflegen des Hörers schon wieder klingelte. Dieses Mal war es sein Bruder. Er stünde an der Rezeption und warte auf ihn. In fünf Minuten ginge es los, bellte er noch hinterher, er solle seinen Plunder zusammenpacken, viel habe er ja nicht. Sie schienen sich beide nicht geändert zu haben. Zwanzig Jahre zurückversetzt fühlte er sich, in eine Zeit, die ihm nicht sonderlich gut in Erinnerung und weshalb ihm die Trennung unter anderem von ihm nicht schwergefallen war. Er nahm seinen Weltbegleiter mit ins Bad, das kleine Radio mit allen erdenklichen Wellen. Ein wenig drehte er daran, und als Musik erklang, fixierte er sie, obwohl er eigentlich lieber Wort hörte. Irgendwie kamen ihm die sanften, fast zärtlichen Klänge buddhistisch vor. Radio France lehnte sich eine Woche lang, so der Moderator mit leicht ironischem Unterton, zurück im möglicherweise nicht ganz so bequemen Sessel der südostasiatischen Vergangenheit des Landes. Als er auf seinen immerleisen Sohlen am Ende der Treppe angekommen war und sich der Réception zugewandt hatte, sah er seinen Bruder sitzen, vertieft in eine Zeitschrift für Automobile oder deren Zubehör. Sofort hatte er ihn erkannt, und das trotz seines Vollbartes, der wenigstens dieses Arschgesichtgewächs übertünchte, wie er es früher nannte, das er nie ausstehen konnte an ihm wie an anderen, diese behaarte Oberlippe mit den beiden Streifen hinunter zum umwachsenen Kinn. Eine Gesichtsfrisur war das, die typisch war für Männer, die jeden verrosteten und sich vermutlich seines Besitzers wegen krümmenden Nagel aufbewahrten, weil der ihn, mangels sinnvollerer Beschäftigung, noch einmal würde geradeklopfen. Doch nicht haushalterisches Talent trieb solche Menschen zu solchen Sammeltaten an, sondern nichts als der schiere Geiz. Sie waren es, die sich die diffizilsten Besorgungen machen ließen, die oftmals mehrere Tage in Anspruch nahmen, und dann auf den Centimes genau abrechneten, unabhängig davon, wieviele Gallonen Gazol man verbrauchte. Seine Mutter hatte einen solchen geheiratet, nachdem sein Vater an den Spätfolgen des Aufenthaltes in Bergen-Belsen gestorben war. Jahrzehntelang Polizist war der, früher auf dem Dorf, dann via Vichy beziehungsweise Pétain in die gehobene Umlaufbahn befördert. Man hatte ihn in ihr gelassen, auch wenn er, was ihm allerdings nie nachgewiesen werden konnte, einige der Résistance seinen Gewehrkolben zierten. Vater sollte er ihn nennen, nachdem die beiden einen Tag nach Beendigung des Trauerjahres geheiratet hatten. Er sei schließlich ihre Jugendliebe gewesen. Sein Bruder ließ sich darauf ein. Es sei doch angenehm, endlich als Familie zusammengefunden zu haben. Das war einer der vielen Gründe dafür, daß er ihr eines Tages in seinem letzten Brief schrieb, er habe keine Mutter mehr. Den Bruder ignorierte er gar nicht einmal mehr. Er beglich per Kreditkarte seine Rechnung und sprach dabei mit der Rezeptionistin bewußt etwas lauter. Sein Bruder bemerkte nichts. Die Vergangenheit hatte ihn wieder. Er trat an sie hin. Über eine Fortsetzung wird noch nachgedacht.
Ungleiche Brüder Viele Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Im Zuge der Sprengung sämtlicher Brücken verwandtschaftlicher Art war auch sein Bruder unter diese revoiutionsartige Maßnahme gefallen. Zur Erlangung seiner Freiheit hatte er, wie andere Statuen einer rückblickenden Kultur, die einen Neuanfang unmöglich machten, alles in die Vergangenheit gerichtete vernichtet, selbst das, was ihm ihm früher einmal nahe war. Sein Bruder gehörte nicht unbedingt dazu, war der doch bei Menschen aufgewachsen, die zwar mit ihm verwandt, ihm aber immer fremd gewesen waren in ihrer kleinbürgerlichen Idylle. Zwar hatten sie einander hin und wieder besucht, doch meist war er es, der die große Entfernung auch der Strecke überwand. Der Bruder bewegte sich ungern über die Grenzen seiner kleinen Welt hinaus, fuhr zwar täglich mehrere hundert Kilometer, das jedoch in seinem Taxi, das er sich vor einiger Zeit zugelegt hatte, um seiner ungeliebten Tätigkeit als Disponent einer Spedition zu entfliehen. Die weitesten Entfernungen, die er bewältigt hatte, waren einmal die einer Fahrt nach Orly, der Kunde hatte den Zug verpaßt, und zum anderen der Besuch bei ihm in Kopenhagen, dieser ihm unangenehmen Stadt, die seine Sprache und seine Eßgewohnheiten nicht verstanden hatte, weshalb er nach zwei Tagen die gut tausend Kilometer in einem Stück wieder zurückgeeilt war. Eine weitere Reise hatten sie einmal gemeinsam unternommen. Nach einer fröhlichen Nacht im Kreis der Kollegen, in dem er von seinem Bruder immer stolzgeschwellt als der Studierte präsentiert worden war, obwohl er sich nach mehrmaligem Wechsel des Fachs und des Ortes eigentlich in den Anfängen seines Studiums befand, hatte einer von ihnen von einem Skiurlaub in den Alpen erzählt. Das brachte sie auf die seltsame Idee, mitten in der Nacht in Richtung Grenoble aufzubrechen. In einem verschneiten Städtchen dörflichen Charakters nahmen sie Café und Baguette mit Butter zu sich, gingen ein paar Schritte in die reizvolle Winterlandschaft. Eigentlich hatten sie noch vorgehabt, sich den Mont Blanc anzuschauen, von dem der Kollege geschwärmt hatte, das verhinderte jedoch die Müdigkeit. So traten sie nach dem kurzen Spaziergang, bei dem sie überdies extrem froren in ihrer der Festivität angepaßten Kleidung, die Heimreise an im für das Land, von Paris vielleicht abgesehen, exotischen dieselgetriebenen Mercedes, der ihm als die Krönung von Qualität galt. Nun war er, obwohl er es sich selbst untersagt hatte, doch wieder in der Stadt. Jemand hatte auf seinem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, seine Mutter sei gestorben. Obwohl er sich seinerzeit fest vorgenommen hatte, solche Nachrichten zu ignorieren, war er doch hingefahren. Allerdings hatte er sein Kommen per Telefax angekündigt. Der ihm auch stimmlich unbekannte Anrufer hatte seinen Namen zwar nicht genannt, dafür aber das Pflegeheim, in dem die Mutter zuletzt gelebt habe. Dort angekommen, sagte ihm die zwar freundliche, ihm aber etwas zu modisch und überdreht wirkende leitende Ärztin, man könne nicht behaupten, seiner Mutter gehe es gut, aber tot sei sie keineswegs. Er klärte sie über das aufgekündigte Verhältnis auf. Dennoch folgte die Krankengeschichte mit dem Abschluß, die multiple Sklerose habe sie vor einiger Zeit in das Bett gelegt, in dem sie nach wie vor läge. Als er daraufhin endgültig aufbrechen wollte, meinte sie, wenn er die weite Entfernung schon bewältigt habe, werde er doch sicherlich auch einen kurzen Besuch noch schaffen, sie sei davon überzeugt, daß seine Mutter sich sehr freuen würde, ihn noch einmal zu sehen. Überzeugt war er zwar nicht, aber er ließ sich überreden. Die Ärztin bat ihn, sich noch ein wenig zu gedulden, denn ein wenig müsse sie ihre Patientin vorbereiten. Und sie selbst hätte mit Sicherheit auch das Bedürfnis, schließlich sei sie eine Dame. Als er nach einer Stunde an ihr Bett im Einzelzimmer mit Aussicht ins Grüne trat, erkannte sie ihn nicht. Nicht einmal am Geruch, hatte er sich doch dazu aufgerafft, sie zur Begrüßung wenigstens landesüblich zu küssen. Dennoch fragte sie ihn immer aufs neue, ob er wirklich ihr Sohn sei. Das alte Mißtrauen brach sich unweigerlich Bahn. Was sie nicht hinderte, ständig auszurufen, wie glücklich sie darüber sei, daß er es geschafft habe und dann auch noch Arzt geworden sei. Sein Briefkopf sowie die der Ärztin überreichte Visitenkarte enthielten seinen Doktortitel, bei dem jedoch das Kürzel rer. soc. fehlte, das den Hinweis auf den Soziologen hätte geben können, der er am Ende in Deutschland geworden war. Und einen Doktortitel führten hier im Land nur Ärzte. Zwar hatte er der leitenden Medizinerin den Sachverhalt mitgeteilt, doch die hatte es entweder weggelassen oder die Mutter hatte es nicht verstanden oder nicht wahrhaben wollen. Nach einer Stunde, die ihm die Richtigkeit seines damaligen Beschlusses bestätigte, dieses Verhältnis zu beenden, verließ er die gepflegte Pflegeklinik, allerdings nicht, ohne zuvor an der Pforte die schriftliche Bitte zu hinterlegen, ihm zukünftig keine Mitteilungen mehr zukommen zu lassen. Er würde ohnehin in Kürze nach British Columbia auswandern, wo er in seiner Holzfällerumgebung überdies so gut wie nicht erreichbar sei. Da nun eine Notbrücke errichtet war, von der sich fragte, wer sie wohl in Auftrag gegeben haben könnte, beschloß er, wenigstens die Stiefschwester anzurufen. Seine Mutter hatte sie ihm angeheiratet, und trotz der anfänglichen Ablehnung seinerseits hatte sich damals ein gutes Verhältnis entwickelt. Rasch hatte er ihre Nummer herausgefunden, in Frankreich war das via Minitel ein leichtes. Sie lebte nicht allzu weit entfernt in Lorry-lès-Metz, was jedoch nicht von Bedeutung sein sollte, da er nicht vorhatte, sie zu besuchen. Aber die relative Nähe wollte er schon aus Kostengründen nutzen, denn die in Frankreich insgesamt um einiges billigeren Hotels schienen die Differenz beispielsweise zu den deutschen über die Telephongebühren wieder wettmachen zu wollen. Die Freude über den Anruf klang echt. Ein ausführliches Telephonat entspann sich, in dem ihm mehrfach versichert wurde, der Lieblingssohn seiner Mutter gewesen zu sein. Und nun sei ja alles wieder gut, nun sei er ja wieder da, nun könne die alte Familienbande ja wieder, nun gut, so zarte seien sie nicht gewesen, aber man müsse die Chance doch nutzen. Er legte auch hier die ausflüchtige Schwindelei von seiner bevorstehenden Auswanderung in unwirtliche und von der Außenwelt abgeschnittene Gebiete vor. Das wäre ein Grund mehr, einander zu sehen. Vor allem der Bruder würde ständig nach ihm fragen. Sie war von einer Insistenz, die ihn schließlich kleinbei geben und ihn versichern ließ, auch ihn zumindest anzurufen. Spät war es geworden, es ging auf Mitternacht zu. Da er fest entschlossen war, am nächsten Tag abzureisen, beschloß er, auch dieses Soll noch zu erfüllen und seinen Bruder anzurufen. Die Telephonnummer hatte die Stiefschwester ihm gegeben. Auch er lebte außerhalb, aber Saint-Julien-lès-Metz lag direkt an der Stadtgrenze. Auch das schien ihm unerheblich, hatte er doch auch in diesem Fall keine Begegnung vor. Er selbst kannte lediglich das Zentrum der Stadt, wo die Mutter früher, neben dem Häuschen an der Seine-Mündung, ihre große Stadtwohnung hatte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich mit jung klingender Stimme eine Frau, deren Französisch recht fremd klang. Doch sie verstand sofort, daß es sich bei dem Anrufer um den Bruder handelte, der gerne seinen Bruder gesprochen hätte. Das löste bei ihr ein lautes Entzücken aus sowie ebensolches Rufen nach dem Gemeinten. Er meinte dabei, durch die Telephonleitung ein fröhliches und erwartungsvolles, mädchenhaftes Gehüpfe zu sehen. Gut zehn Minuten dauerte es dennoch, bis der Adressat den Hörer übernahm. Ihn schien dieser Anruf allerdings nicht sonderlich zu beglücken, raunzte er doch etwas von Uhrzeit und Unverschämtheit, zu nachtschlafener Zeit anzurufen. Auch der Hinweis darauf, er spräche nach vielen Jahren zum erstenmal wieder mit seinem Bruder, hinterließ offensichtlich keinen nachhaltigen Eindruck. Wer nach hunderten von Jahren, so die Entgegnung, das Bedürfnis hätte, mit seinem Bruder zu telephonieren, der könne auch anrufen, wenn der ausgeschlafen habe. Im Hintergrund hörte er Geräusche, die nach in ein Glas gleitende Eiswürfel klangen, begleitet von heftigem, geradezu drängendem Gemurmel, das Mon Dieu, ton petit frère! Ton frangin! heißen konnte. Das sowie möglicherweise das gereichte Getränk mußte ihn ein wenig beruhigt haben, denn das Gegrummel wurde sanftmütiger. Was ihn denn auf einmal in die Heimat befohlen hätte? Er schilderte den Grund und fragte, ob er am Ende gar der Auslöser des Anlasses gewesen sei. Die Antwort war zwar Entrüstung, aber er hatte den Eindruck, sie wäre nicht unbedingt von Aufrichtigkeit geprägt. Ein Geplängel folgte, daß er mit seiner Ankündigung der morgigen Abreise abschloß. Das wiederum löste etwas aus, das in der Wiederholung wie Protest klang und zur Folge hatte, mit einem Mal die Frau als Gesprächspartnerin zu haben, die in ihrem charmant zwitschernden, von asiatischem Akzent geprägten Französisch heftig auf ihn einredete und ihn davon zu überzeugen versuchte, doch unbedingt zu bleiben. Dann übernahm wieder der Bruder, der die Meinung seiner Ehefrau, die sich im Lauf des Gesprächs als solche herausgestellt hatte, mit etwas dürreren Worten unterstrich, bevor er den Hörer erschöpft wieder an sie übergab. Sie ließ nicht nach, versprach ihm den Himmel auf Erden, verbunden mit einem prachtvollen Mal ihrer thailändischen Heimat und einem ebensolchen Bett in einem gemütlichen Haus. Alles in ihm lehnte sich auf, zumal er insgesamt wieder auflebende familiare Verbindungen auf sich zukommen sah. Andererseits, fragte er sich, was würde es ausmachen, einen Tag länger zu bleiben. Zumal die Aussicht auf ein gutes thailändisches Essen bestand, in dessen Genuß er zweimal gekommen war, als er in Paris Freunde besucht hatte. So sagte er schließlich zu. Er würde ihn morgen früh abholen, rief der Bruder von der Seite in den Hörer. Mit dem Taxi, dem seinen. Einem Mercedes. Wie früher. Über eine Fortsetzung wird nachgedacht. Zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster, siebter Teil.
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