Bevor der Handwerker kommt ...

Alle Lust gewichen? Ob's nicht die Luft ... Nein, die Pumpe pumpt, wundersamerweise gegen allen Überdruß, hartnäckig, fächelt mir Sauerstoff sogar noch ins Hirn hinein, gegen alle schulmedizinische Logik, als wolle sie mich so alt werden lassen wie meinen neunzigjährig inmitten von selbst erzeugtem Rauch und der Hausbar eines mittlerweile auch abgerissenen Hotels mitten in der großen Inselstadt sanft entschlafenen Vater, der nur mal vorbeischauen und sich nach meinem Befinden erkundigen wollte. Daß es Madame Maman vermutlich ihrer Verbissenheit wegen geschafft hat, noch älter zu werden, thematisiere ich nicht weiter. Soviel vielleicht: Trotz allen gesunden Lebens zu Lasten anderer hat sie doch die letzten zwanzig Jahre ihres Gramlebens im Bett verbracht. Auf diese Weise mag ich kein Bett nutzen. Dann schon lieber Schlaf. Doch auch der kann Lust bedeuten. Wenngleich häufiger anstrengende, fröstelnd machende, gerade im Nachhinein, beim Sortieren. Und bisweilen bin ich dann auch schonmal um meinen guten Ruf besorgt, wenn's feuchte und schäumende Träume sind. Dann aber immerhin lustige.

Doch sich an die Musen ranschleichen müssen, sie umschwirren und beschwärmen, auf daß sie einen küssen, wie das so ist, wenn man älter geworden ist, ich weiß nicht ... Flugblattumschwirrt stünde vielleicht Verführung vorndrauf, aber da ich in labyrinthische Gemächer gezwungen werde, irgendeiner Ariadne nachlaufen muß, nenne ich's Schreiblustprostitution, so würde ich's jedenfalls nennen, lebte ich in der Realität der Jugend und nicht in einem Lebensabschnitt der Selbstbezogenheit. «Egoismus» nannte gestern eine der vielen, hier aber ärgsten, weil ständig danebenstehenden Fernsehfehlbesetzungen, was eigentlich schlicht Eigennutz hätte genannt werden müssen. Ich nutze nicht, ich bin. Mein Ego ist ich. Und der andere. Doch auch der ist ich. Wie all die anderen. Mal hier-, mal dorthin eben. Meine immer wieder mal pluralistischen Iche werden zwar schonmal von der schlechten Seite beherrscht, aber landen meist immer irgendwie in der Schlußerkenntnis des Romantischen. Und dazu gehört so etwas wie Reinheit — einer Blauen Blume vielleicht? Auf jeden Fall nicht so eine Art synthetisches Freudenhaus.

Aufs An- oder Hin(ein)schleichen dorthin habe ich nämlich sozusagen doppelt keine Lust, auch dann nicht, wenn dort ein paar Musen ihr leichtes Lager aufgeschlagen haben, das hat mir die zurückliegende Zeit ausreichend abverlangt: «seriöse» Texte verfassen, bar jeder assoziationsgeladenen Möglichkeit zwischen den Zeilen, die sofort verstanden werden in dem Sinn, wie es an Journalistenschulen oder anderen Schreibwerkstätten der Hoffung auf Zukunft gelehrt wird, wie man Kindern die zuvor praktizierte Freiheit der Malerei abdressiert, sind sie einmal im Kindergarten bei den pädagogisch gebildeten Tanten abgeliefert worden, wie die Verleger es sich wünschen: sich bei den «Ausführungen in den Grenzen einer vernünftigen Volkstümlichkeit zu halten», die sich allerdings als unnütz erweist, da die sich das ebenfalls wünschenden Adressaten tatsächlich anderes interessiert als eigens für sie klar gefilterte Information, da sie nämlich lieber gar nichts interessiert, weil sie so weitermachen wollen wie bisher. Eine solch verlogene, weil durchlöcherte Nachrichtenwelt produzieren, das ginge (relativ) leicht, schließlich schüttelt das die jahrzehntelange Routine aus dem weiten Kopf eines zum Devoten erzogenen Botschafters verlangter Verständlichkeit. Nun aber bin ich angekommen im Traum, und in dem gibt es solches nicht mehr, der bietet keine Klarheiten, schon gar nicht die erwähnten, der ist wirr, der ist es, der herumtoben will. Und diesen Furor wenigstens mir selbst zu bändigen, ihn soweit geordnet zu Papier zu bringen, auf daß er mich oder noch zwei weitere zum erneuten Sinnieren bringt, deshalb werde ich jetzt auch noch genötigt, zu den professionellen Musen zu gehen, um mir ein paar dieser scheinbaren Liebesküsse abzuholen. Es ist verdammt, zu harte Arbeit, den Galan geben zu müssen. Vor allem, wenn man nie einer sein wollte, ein solcher Höfling, der zumindest zunächst zu nichts anwesend sein darf, als den Damen feinfühlig irgendwelche Gebildetheiten in die zarten Öhrchen zu flüstern, auf daß sie ihre Gunst erweisen ...

Dann schon lieber diesen Schlaf.
 
Mo, 22.06.2009 |  link | (4012) | 16 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Sirren, nicht Sirenen

Heute erinnert er sich gut an den neben ihm stehenden, ihm bekannten Galeristen, der ihn gefragt hatte, ob ihm nicht gut sei und ob er ihm helfen könne, sich dabei allerdings nicht vom Fleck rührte. Ein anderer, den er bereits seit einiger Zeit prüfend beobachtet hatte in der Vermutung, es könne sich dabei um einen lange nicht gesehenen und auch langerwarteten Freund halten, wiederholte die Frage des Untätigen, wurde allerdings sofort aktiv, als er die Instabilität des Körpers bemerkte, mit einem Griff unter die Arme, ließ ihn sanft zu Boden gleiten und legte seine Füße auf die Fußrasten des von einer hinzugeeilten Frau herbeigezogenen Barhockers.

Das Gesicht des Galeristen, bei dem er unter fester Beobachtung stand, so wurde ihm später berichtet, sah dabei aus, als ob dieser gleich einen Kreislaufkollaps erleiden würde. Im Nachhinein hätte er ihn gerne gefragt, ob man besser die Plätze tauschen solle; eine solche Bemerkung hätte dessen Hautfarbe sicherlich leicht aufgerougt. Die seine muß zusehends transparenter geworden sein, und immer häufiger vernahm er, wenn auch sich zusehends entfernende Rufe wie «Warum kommt denn da keiner» oder «Mein Gott, brauchen die aber lange» oder «Das sind ja jetzt schon zwanzig Minuten». Wie lange die tatsächlich gebraucht haben, daran kann sich niemand erinnern. An soviel dann aber doch: erst kamen Rettungssanitäter, und der (im Haus anwesende) Arzt brauchte dann nochmal so lange.

Nein, nicht der Wein, der am Stand ausgeschenkt wurde, war schlecht (wurde er nicht ohnehin ausgetauscht auf seine Anmerkung hin, der Chardonnay des vergangenen Jahres sei besser gewesen?). Sicher, von Beginn der Veranstaltung an hatte er ihn ja ständig verkostet oder auch weidlich genossen. Aber er war's nicht, auch nicht das Glas Champagner zwischendrin. Auslöser vielleicht, aber nicht Ursache. Die saß in seiner Schaltzentrale oben, wie sich herausstellen sollte. Möglicherweise ein bereits bei der elterlichen Fertigung ungewollt angelegter Defekt, wie beim sogenannten Montagsauto vielleicht, ein von wochenendübermüdeten Arbeitern nicht korrekt verlegtes oder bereits zuvor schadhaftes winziges Kabel, dessen überdies zu dünne Isolierung infolge eines zu bewegten Lebens blankgescheuert worden war und den unvermeidlichen Kurzschluß verursachte. Der Motor kündigte mit einigen Rucklern die bevorstehende Abschaltung an.

Ein Omen hatte es ja gegeben. Am frühen Morgen hatte der Radioplauderer darauf hingewiesen: Man möge vorsichtig sein mit dem Gasgeben, denn es sei Freitag, der 13. Doch er neigte nicht unbedingt dazu, solchen Lebensweisheiten Beachtung zu schenken.

Er hatte, Platitude hin oder her, Glück im Unglück insofern, als ihm nichts besseres geschehen konnte, als vom irgendwann dann doch hinzugekommenen Arzt (einen Herzinfarkt hätte er nicht überstanden) in eine Art Schlachthaus überführt worden zu sein. Magengeschwür hieß es, eine Magen-Darm-Spiegelung wollte man dann vornehmen, drei Ärzte wedelten dem sich im Dämmerzustand Befindlichen mit einem Papier vor dem Gesicht herum. So etwas wie eine Einverständniserklärung dafür, daß man ihm in all seinen Innereien herumwühlen dürfe, wie der Ausprobierergeist lustig sei, das weiß er heute. Kein Kopfschütteln war es, sondern ein eher kraftloses Hin und Her des Kopfes, das offenbar dennoch als Nein erkennbar war. Daraufhin hatten sie ihn völlig bekleidet, einschließlich der Schuhe, in ein Bett gelegt, neben einen frischoperierten alten Mann, den man unverrichteter Dinge wieder zugeklappt hatte angesichts der Metastasen. Endstation? Für forschende Experimente unbrauchbar? Immerhin schlossen sie ihn an irgendwelche Flaschen mit irgendwelchen Flüssigkeiten an.

Als er nach einer Weile aus dem Dämmern erwacht war, überkam ihn eine schreckliche Furcht vor dem, was da kommen könnte. Sie gab ihm die Kraft, sich aufzubäumen und zu fliehen aus diesem Krankenhaus, ins Hotel. Von dort aus rief er eine fachkundige Freundin an. Ob sie ihm bitte die Kanülen entfernen könne. Sie forderte ihn auf, sich umgehend in ein Taxi zu setzen, hin zu ihr. Dort setzte sie ihn auf ihr Sofa, befreite ihn von den noch an ihm hängenden Kabeln und Ösen und bereitete ihm einen Tee. Als er die Tasse zum trinken ansetzte, rutschte er nach unten weg. Der Rest ist Erzählung der Retterin:

Der Notarzt sei quasi in Sekundenschnelle dagewesen. Die Fachkenntnis der Freundin hatte sie die richtige Telephonnummer wählen und entsprechende Vorabinformationen liefern lassen. Hatten ihn die Krankheitstransporteure am Tag zuvor noch liegend bewegt, wurde er nun, nachdem man ihn einigermaßen zurückgeholt hatte, in einen Rollstuhl gesetzt, da solche Fälle vorsichtshalber grundsätzlich aufrecht transportiert werden sollten. Nicht schneller als zehn, maximal fünfzehn Stundenkilometer fuhr der Krankenchauffeur, bei eingeschaltetem Blaulicht, jedes Schlagloch umkurvend, um, wie er der neben ihm sitzenden Freundin erklärte, «kein eventuelles Blutgerinsel auf den Weg zu bringen».

Dann erinnerte er sich selbst wieder, anfänglich wie aus weiter Entfernung, Jahre danach immer näher: an dieses einige Male auftretende Sirren, das, wie auf der Freundin Sofa, jedesmal erneut das Loch ankündigte, in das er jeweils anschließend gleiten würde; an diese freundlichen Ärzte, an diese liebevollen Krankenschwestern, an die fröhlichen allmorgendlichen Besuche der Freundin, die ihm immer ein kleines Präsent vorbeibrachte, bevor sie in der Neurologischen Klinik nebenan ihren Dienst antrat; an seine flehentlichen Bitten an den leitenden Arzt, in die Heimat zu dürfen, an dessen Hinweis, es sei zu gefährlich, an das anschließende Wohlfühlen, nachdem die Einsicht Einzug gehalten hatte, bedingt auch durch die vielen Besuche; an den Flug nachhause, Wochen später, bei dem die eigens angereiste ehemalige Gefährtin ihn umsorgte wie nie all die gemeinsamen Jahre zuvor, an die fast komisch anmutende Fahrt im Rollstuhl übers Rollfeld zum extra nahe geparkten Turbopropellerflieger, obwohl's problemlos auch zu Fuß gegangen wäre, an die ihn nachgerade umturtelnden behutsamen und sorgsamen Stewardessen, auch wenn sie mehr als vorbereitet, vielleicht besser «geimpft» worden waren über die Ex- und dafür nun Wiedergeliebte mit ihren unverkennbaren Bühnengenen; an das Hotel in den Voralpen, in das er gebracht werden wollte, da er Sanatorien nicht ausstehen konnte, wo ihm dann ein Aufenthalt wie im Sanatorium bei personeller Dauerpräsenz samt einem Winter wie auf der Kitschpostenkarte beschert wurde, der einer Verfilmung eines Mannschen Stoffes gleichkam.

Nie tat ihm irgendetwas weh, keinerlei Schmerzen hatte er während dieser seltsamen Vorgänge in seinem Kopf. Aber ein Loch befand sich darin, das mit Erinnerung aufzufüllen sehr, sehr lange dauern sollte. Die schönste, die allerdings immer vorhanden war, ist dieses Sirren. Es Sirenen zu nennen, wäre profan. Zumal es ihm einmal das unvergeßliche Bild ankündigte, sich von oben zuschauen zu dürfen, wie andere ihn zurückzuholen sich bemühten.

Es gelang zwar, aber alles sollte sich ändern. Er hatte fortan eine andere Perspektive eingenommen beim Betrachten der Welt.
 
Mi, 21.01.2009 |  link | (3309) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Abgeschottet

Kriege haben andere Schauplätze. So isses, lieber Hans. Das hier ist kein solcher Ort. Daß dieser aber keine Agora, meinetwegen kein Hyde-Park der Propagandaschlachten sein würde, war klar, seit ich diesen Bunker der Glücksseligen hier eingerichtet habe. Aber daß es auch keiner der Philosophien und politischen Theorien von Roy Black, Ralph Siegel oder Brigitte und Beckenbauer ist, weißt Du genauso wie ich. Außerdem gibt es in der Netzwelt ausreichend bis (zu) viele Plätze, auf denen einem die selbstgebastelten und professionell gefertigten Meinungsraketen um die Ohren fliegen. Unter anderem bei Dir da drüben. Dagegen ist wahrlich nichts einzuwenden. Aber das hier bleibt kriegswaffenfreie Zone.

Ließe ich das zu, wäre hier bald alles gelb von Senf. Auch von meinem eigenen. Und der wäre möglicherweise ungenießbarer als der anderer. Weil ich unter Umständen immer wieder mal daran denken müßte, wo meine Wurzeln liegen. Ich will meine Meinung dazu hier alleine deshalb nicht äußern, weil meine Informationen nicht ausreichend sind (andere beziehen ihre Kenntnisse gar über jemanden, der jemanden kennt, von dem er gehört hat, daß es da jemanden gibt, der wiederum anderswo gesagt hat). Meine Perspektive könnte die sein: daß da irgendwann mal was war. Und es ist einfach zu lange her, daß ich das letzte Mal im Land war, und Kontakte dorthin habe ich auch keine mehr. Ich ließ sie einschlafen, auch die blutsverwandtschaftlichen, nachdem ich damals beschlossen hatte, nicht Soldat werden zu wollen und deshalb die Koffer wieder ausgepackt hatte. Ich zog es vor, mich von allem Möglichen zu trennen und erstmal eine ganze lange Zeit nächtelang tanzen zu gehen. Dennoch, später dann auch recht intensiv, habe ich meine kritische Meinung in beide Richtungen immer wieder zum besten gegeben, auch innerhalb des einen oder anderen Forums. Es hat daran nichts geändert. Nirgendwo. Bei und in mir allerdings hat's Änderungen gegeben in den letzten Jahren. Einschneidende. Unter anderem deshalb wird das hier auch kein Markt(schreier)platz für den Verkauf von aktuellen Querschlägern werden.

Und es ist ja nun wirklich nicht so, als ob hier nur das Bild vom «Döschi-Doktor zum Knuddeln» in spätwinckelmannscher Manier geklöppelt würde. Die Blicke hier stellen ja keine reine Ich-Suche oder -Flucht dar, wie etwa das erwähnte, aber doch wohl kaum repräsentative «Foto mit den Kindersitzen aufm Fahrrad», sondern sie leuchten das eine ums andere Mal wahrlich auch ein Innen aus, das mit Inhalten gleichzusetzen ist. Aber schlaglichtende Stalinorgeleien finden eben nicht statt. Ohne jeden Zweifel ist das hier eine Insel, meinetwegen zudem eine, in deren Mitte sich unterirdisch ein Bunker, vielleicht sogar einer mit dem Ortsnamen france musique, befindet, in den ich mich bisweilen flüchte. Dort wird dann musiziert, wenn auch nicht so professionell, wie manch einer sich das vorstellt, wie Professionalität zu klingen hätte. Letztere ist abgehakt. Ich habe mich endgültig dem rein Dilettantischen zugewandt. Und manchmal kriege ich darin Besuch, in meinem Laienbunker (wenn's gerade mal nicht kracht).

Dochdoch, ich höre die Einschläge. Aber ich muß sie nicht auch noch sehen.
 
Sa, 17.01.2009 |  link | (2217) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Donner und Gloria

Die Computerei war nie meine Welt. Anfänglich habe ich sogar laut aufgeschrien, als man meinte, ich dürfe mich doch dem Fortschritt nicht verweigern. Das war zur Zeit der Anfänge einer feierabendlichen Tätigkeit, zu der ich das tun wollte, was mir tagsüber während der Redaktions- und Lektoratsarbeit nicht vergönnt war: ein Blättchen in die Welt hinauswehen zu lassen, auf dem eine andere kulturelle Wirklichkeit zu lesen war. Damals kostete es noch richtig viel Geld, Texte in den Satz zu geben. Also mußte eine elektronische Schreibmaschine her, von der aus man die Konvolute direkt in ein Layout kippen konnte. Etwa zeitgleich ging das auch bei uns im Verlag los. Da saß ein eigens dafür eingestellter Jungdynamischer, der allerdings mit allem möglichen zusammengestoppelten namenlosen Technikkram eine funktionierende Computermaschinerie aufzubauen trachtete. Das erbrachte eine heftige Verweigerungshaltung meinerseits, zumal ich mir aus den oben erwähnten Gründen gerade so einen niedlichen Classic zugelegt hatte, dessen weichwariges Innenleben auch technischen Analphabeten wie mir die Möglichkeit bot, einigermaßen unfallfrei durch die digitale Welt zu stolpern. Also machte ich unserem Geschäftsführer unmißverständlich klar: Solch ein Gerät oder nie. So wurde ich der erste Apfelnutzer in unserem Haus; später sollte das nicht eben kleine Verlagsgebäude eine einzige riesige Obstkiste werden. Als sich abzeichnete, daß wir auch für unsere Freizeitbeschäftigung nicht um eine größervolumige Maschine herumkommen würden, um die exorbitanten Druckvorstufenkosten zu umschiffen, wollte ich unbedingt einen Quadra haben. Aber dieses zauberhafte Monstrum kostete Anfang der Neunziger ohne ein Stück Software 16.000 Mark; Photoshop oder QuarkXpress etceterapepe sollten jeweils zwischen 3.500 und 5.000 Mark zu Buche schlagen. Da mußte auch ich passen, und wir legten uns unter meinem ständigen Gejammere für 10.000 inclusive aller Weichteile eine sogenannte Dose zu. Aber mich hat da nie jemand drangekriegt. Für diesen abgrundtief häßlichen Rechenpanzer (wobei wir bereits formalästhetisch höherwertige Kriterien hatten walten lassen) war eine nicht nur aus paritätischen Gründen wohlansehnliche Dame zuständig, die sich ohnehin besser damit auskannte, da es das an Universitäten gängige, weil sehr viel kostengünstigere System war.

Auch wenn ich nun bald zwei Jahrzehnte mit dem Rechner zugange bin, hat das an meiner Technikphobie nichts geändert. Selbst die Tatsache, daß ich sehr bald alle Möglichkeiten nutzte, die sich auftaten, die mir gar viele Freiheiten brachten, etwa das segensvolle Arbeiten von allen Orten dieser Welt aus, so habe ich alles, was über die Nutzung in der Art der verlängerten Schreibmaschine hinausgeht, nichtmal mit spitzen Fingern angefaßt. Meine These war immer: Ich tapeziere und streiche doch auch keine Wände oder repariere Autos, dafür sind andere zuständig, ich nehme denen doch die Arbeit nicht weg. So hatte ich auch durchweg, einem Arzt vergleichbar, meinen persönlichen Computertechniker, der meine immer wieder mal von mir verursachten Totalabstürze korrigierte beziehungsweise das Gerät wiederbelebte oder aber, wenn sich's ergab, hier wie dort die eine oder andere neue Maschine zum laufen brachte.

So suchte ich verständlicherweise grundsätzlich nach Systemen, die so bedienerfreundlich oder auch idiotensicher sind, wie das bei den (überdies formal meinem Geschmack entgegenkommenden) Apfelprodukten nunmal der Fall ist. Naheliegend war also, alles zu vermeiden, was nach Komplikationen aussehen könnte, als auch ich meinte, mich auf das Terrain des weltweit einsehbaren Tagebuchs begeben zu müssen. Deshalb suchten andere und ich uns gemeinsam einen Anbieter aus, der solches anbot: Layout raussuchen, Text reinkippen, hier ein bißchen fett und da ein wenig kursiv, auch das Einsetzen von Links denkbar einfach — und fertig. Doch dann setzten sich dort diejenigen durch, die meinten, man müsse das Angebot attraktiver machen. Es obsiegten die Programmierfrickler. Die dann ihre Neuerungen noch nichtmal in den Griff bekamen, die Userloser also die Tests zu absolvieren hatten, etwa so, wie das in der Automobilbranche bis hin zum besternten Luxobil mittlerweile usus zu sein scheint. Es ging so gut wie nichts mehr. Wir kündigten, die nicht eben günstige Jahresmiete war gerade entrichtet worden, lösten das Gemeinschaftsprojekt auf, klinkten uns aus und sahen uns jeweils anderweitig um.

Und ich landete ausgerechnet hier bei Blogger.de, wo ein Großteil via HTML bewältigt werden wollte, in einer Sprache, von der ich zum ersten Mal überhaupt hörte und die mir in den Ohren klang wie technisches Kishuaheli. Doch glücklicherweise gab es schlichte Vorlagen, vor allem aber in verständlichem Deutsch verfaßte Bedienungsanleitungen — an denen beispielsweise die VG Wort sich ein Beispiel nehmen sollte —, die eine enorme Erleichterung darstellten. Sogar ich bekam das hin. Und gestern nun ritt mich der Computerteufel. So gut gefiel mir seit einiger Zeit die zurückhaltende, sich den unaufgeregten und deshalb so angenehm zu lesenden Inhalten von bufflon unterordende und sie gleichermaßen aufwertende Seitenarchitektur, daß ich die ebenfalls und unbedingt haben wollte. Worauf, kaum angefragt, unmittelbar eine — im übrigen typisch für die Blogger.de-Gemeinde — ungemeine Hilfsbereitschaft einsetzte, die es mir ermöglichte, HTML hin oder her, in dieses wunderschöne, vom Großbloggbaumeister geschneiderte Gewand zu schlüpfen. Selbstverständlich schaffte ich es, einer Kleinigkeit wegen es mir erst nochmal zu zerstören. Doch ein bißchen was hatte ich mir dann doch gemerkt, etwa nach dem Prinzip, das der mir mehr als hilfreiche bufflon mitgeteilt hatte:

«Sehen Sie, wenn man weiß, an welchen Rädchen man drehen muß, läßt sich das Maschinchen recht einfach bedienen. Wenn nur alles so einfach wäre.»

Und vermutlich schaffe ich es nun ja sogar eines Tages, mal ein Bildchen einzusetzen. Aber wahrscheinlich werde ich das dann doch sein lassen. Denn zum einen ersaufen wir in diesem Bilderkram, und zum anderen bin ich eben textlastig. Ein alter Holtzbock eben.

Nochmal großen Dank an alle!
 
Sa, 10.01.2009 |  link | (3219) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Kladden und Zettelkästen

oder was auch immer — um inspiriert die Frage von Nnier in meine (fast) tägliche Tagebuchnotiz auswalzend hinüberzuführen —, die haben ja nicht nur die Dichter und Denker und Buchhalter, nicht nur die literarischen, alle Zeiten benutzt, auf daß etwas nicht in den hinteren Hirnwindungen verschwinde und erst dann wieder auftauche, wenn bereits die fünfte Autobiographie gedruckt ist. Das war sogar noch notwendig, als die Schreibmaschine erfunden worden war, etwa die olle des Heideeinsiedlers, der seine Schmidtiomanien in sie hineinhackte.

Auch ich habe irgendwann damit angefangen, durchaus schon, bevor ich beschlossen hatte, ein großer Romancier zu werden, also bereits vor den Zeiten, als das Herz voll wurde. Und genutzt habe ich diese Merkmittel sogar vermehrt, als der Computer als angeblich arbeitserleichternde, wenn auch ein wenig unhandliche Gedächtniskrücke erfunden worden war. Wenn man unterwegs ist, sieht man sich genötigt, besondere Bewegungen im Geiste zu notieren, aber da es nicht jedermanns Sache ist, angesichts jeder Elfe, die an einem vorüberschwebt, die Klappe des Rechners zu betätigen, um jede Besonderheit, etwa deren güldenen Haarsträhnen oder fischigen Füße, zu notieren, man vielleicht überhaupt nicht zu denen gehört, die ständig an solch einen Rechenschieber gekettet sein möchten oder der möglicherweise auch hinderlich sein könnte beim Abtauchen in die Archäologien eigener Meeresträumereien, da hat man eben so einen Kasten. Na ja, Kasten vielleicht nicht, aber immer ein Blöckchen oder Büchlein oder ein Moleskine, wie die gepflegte und gebildete, ja immer irgendwie künstlerisch angeatmete Bloggerwelt es grundsätzlich sein eigen nennt, in dem man festhält, was unbedingt nicht vergessen werden will oder aus dem ja nochmal was werden könnte. Hinzu kommt, daß ja bekanntlich offensichtlich alles, das man notiert hat, sich so eingebrannt hat in die organische Festplatte, daß man es oftmals gar nicht mehr übertragen muß in die elektronische, die zuhause oder im Hotel darauf wartet, zugetextet zu werden.

Zettelkasten also. Bei mir müßte das eigentlich Zetteleien heißen. Irgend so einen Fetzen Papier trage ich immer am Leib. Kladden und Blöcke und gar aufbewahrungstechnisch erforderliche Kästen oder Laden tragen so auf und hemmen den Fortbewegungsdrang, wenn man im dünnen Hemdchen hüpfend über die Dünen kommt oder sich der Möwenangriffe erwehren muß auf der Îles Ratonneau. Also ein Stummel weich gleitenden Bleistifts sowie ein paar Blätter zurechtgerissenen Papiers in die linke Hinter(n)tasche (die rechte ist seit Urzeiten dem fein säuberlich beschnittenen geldwerten vorbehalten) für die Allzeitbereitschaft, zumindest stichwortartig festzuhalten, was an Besonderheiten auf mich zugeflogen kommt und Niederschlag finden könnte in einem gewaltigen Werk, das weit über 630 Seiten hinauslappt oder in einem Anmerkungsappendix aufgeht (so sich jemand bereiterklärt, sowas zu drucken und so zu verlegen, daß man es nicht ständig in irgendwelchen modernen Antiquariaten suchen muß).

Nun, aus dem großen Romancier ist nichts geworden (wenn ich auch darüber sinniere, es doch nochmal zu versuchen, wobei mich die Mühsal daran auf Distanz dazu hält: Das ganze Gestern wirklich nochmal lesen?). Aber aus dem Schuhkarton vollgekritzelter Zettel wurde in Teilen wenigstens ein elektronischer Block. Zugestandenermaßen habe ich es doch immer wieder getan: es in den Rechner verklappt, was aus dem beschriebenen Hinterteil kam. Und so manches Mal scheine ich dieses paradoxe Gefühlerlebnis namens Déja-vu zu haben. So ging ich neulich in Marseille ins Kino oder spazierte die die Corniche entlang und hatte jeweils den Eindruck, das alles doch bereits einmal erlebt zu haben. Und tatsächlich, die Ereignisse fanden sich als erweiterte Notizen im Computer wieder. Ich habe sie dann mit aktuellen Eindrücken aufgefrischt und hier hineingesetzt.

Aber geradezu mysteriös wird's, wenn man eigene Erlebnisse nahezu identisch bei anderen aufgeschrieben wiederfindet. Das ist mir passiert bei Kurt Tucholsky. Er lieferte in seinen Schnipseln, dieser anderen und für ihn typischen Art von ausformulierter Zettelwirtschaft, in den Zwanzigern eine Beschreibung des Ferry Boat, die eine schier unglaubliche Nähe zur eigenen aus den Neunzigern hatte: «In Marseille fährt diese wunderschöne alte Personenfähre für drei Francs vom Quai du Port hinüber zum Quai de Rive Neuve oder von dort aus zur gegenüberliegenden Mairie, dem barocken Rathaus aus dem siebzehnten Jahrhundert.» Aber er war's ja auch, der diese denkwürdige und von mir immer wieder gern zitierte Formel kreierte: Es gibt keinen Neuschnee.

Was einem bei solchem Gekreisle alles einfällt: Das eigentlich Seltsame daran ist, daß mir bei wirklich (ge)wichtigen Versuchen, etwa denen, mich über die Künste zu äußern und nicht selber welche zu produzieren, alles aus dem Kopf auf die Tastatur fällt, ohne Struktur und doppelte Notizen. Aber möglicherweise wiegen die dann doch nicht so schwer wie der eigene Weltschmerz.
 
Di, 06.01.2009 |  link | (2988) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Henri II. de Hambourg

Feier- oder Jubeltag ist heute, auch für mich. Also gehe ich jetzt ebenfalls ein bißchen feiern.

Nicht deswegen, nein! Da ist sonstwas vor, das ist nicht mein Quartier. Mir wurde schlicht schon wieder einer geboren, gestern, um acht Uhr zehn, 3.953 Gramm und 53 Zentimeter: Henri. Mit i! Wie Bergson oder Cartier-Bresson oder La Fontaine oder Lefebvre oder (Bernard-) Lévy oder Matisse oder Michaux oder Mitterand oder Poincaré oder der Quatre oder Rousseau oder Stendhal oder Toulouse-Lautrec oder so, in dieser Richtung, und, sei's drum, meinetwegen, als gebürtiger und wohl für alle Zeiten geborener Hamburger, Nannen.

Nein, eine Beteiligung meinerseits hat da nicht stattgefunden. Es liegt an der außerordentlichen Fruchtbarkeit der großräumigen Familie.

Ich freue mich sehr. Große Gratulation: C. und M.! Und H., selbstverständlich. Aber mußte das sein? Bei dem Sauwetter, meine ich. Ich wär' dringeblieben.
 
Mi, 24.12.2008 |  link | (3290) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Sechshundertdreißig Seiten

sind sozusagen eine lange Geschichte. Sie erzählt ein anderes Denken, ausgelöst durch einen nicht ganz undramatischen Vorgang in meinem Körper vor ziemlich genau zehn Jahren. (Wenn man es so betrachtet, fällt mir eben ein, habe ich am 12. November einen zusätzlichen Geburtstag, den ich aber nicht feiere wie auch nicht den anderen.) 2002 habe ich diese Denkspitzkehre, es ließe sich auch sagen: mein irgendwo im verkopften Irrgarten bis dahin verborgenes anderes Ich oder vielleicht sogar ein ganz klein winziges Etwas vom so oft ge- und mißbrauchten, aber immer noch von Arthur Rimbaud stammenden «Ich ist ein anderer», mit Blick auf meine geliebte Badewanne Mediterranée blitzartig als Roman aufgezeichnet, ganz schnell mit fliegenden Fingern, da ich befürchtete, es könnte sich wieder verflüchtigen. Als Roman und unter einem eigens dafür erdachten (neuen) nom de plume deshalb, da sich die Form unterscheiden sollte von dem, was ich sonst so notiert hatte in meinem (Berufs-)Leben. Es wurde eine dicke Schmonzette: Weltschmerz, auch anderes Leid, Glaube, Liebe, Hoffnung, aufgehängt an einem Schock, der die Erinnerung langsam wieder zurückkehren läßt, sich langsam auffüllendes, anschwellendes kleines Glück, das zum Fluß wird und als Bouche-du-Rhône, am Mund der Rhône also, einmündet in eine bessere Welt, die sich vor Afrika ausbreitet oder vielleicht sogar dort anlandet. Aber ebenso ließe sich vermuten, der andere Kontinent habe sich in mir breitgemacht. Keine kritischen Entwürfe mehr, sondern nur noch davon erzählen, daß es auch anders geht: Mikrokosmen miteinander verbinden, alles miteinander vereinen.

Zur Hälfte bereits gesetzt, kam das Aus für die kleine, finanziell ohnehin asthmatische Société d'édition. Sie wurde geschluckt von einem größeren Verlag, der neuen Geschäftsführung mißfiel mein Geschwurbel pseudo-philosophique. Ich wurde mit ein paar Francs abgefunden. Danach wollte ich nicht mehr. Ich habe zudem mittlerweile alles in meinem von jedweder beruflichen Hektik befreiten und deshalb stillen Kopf, wie die vielen Bilder im Süden, wo ich bewußt nicht (mehr) photographiere, da die übermäßigen Buntheiten einem nur die Phantasie verflachen oder gar plattmachen. Etwa so:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati eben.

Das war alles auch ganz gut so, denn kurz nach dieser Enttäuschung kam der neue Roman von Martin Suter heraus, der sich mit der Thematik beschäftigt, offenbar nicht nur mit der der Amnesie, sondern auch mit Leid, Liebe, Hoffnung, Freundschaft, Glück et cetera. Da hätte es mit Sicherheit geheißen: Hier hat einer ein Thema geklaut. Ich habe es vorsichtshalber auch nicht gelesen. Da habe ich dann doch jenen Tucholsky zu sehr gefürchtet, dessen Kaspar Hauser behauptet hat, es gebe keinen Neuschnee:
«In Polen lebte einmal ein armer Jude, der hatte kein Geld, zu studieren, aber die Mathematik brannte ihm im Gehirn. Er las, was er bekommen konnte, die paar spärlichen Bücher, und er studierte und dachte, dachte für sich weiter. Und erfand eines Tages etwas, er entdeckte es, ein ganz neues System, und er fühlte: ich habe etwas gefunden. Und als er seine kleine Stadt verließ und in die Welt hinauskam, da sah er neue Bücher, und das, was er für sich entdeckt hatte, das gab es bereits: es war die Differentialrechnung. Und da starb er. Die Leute sagen: an der Schwindsucht. Aber er ist nicht an der Schwindsucht gestorben.»
Auch würde ich das heute so nicht mehr veröffentlicht sehen wollen, jedenfalls nicht das ganze dicke fette Buch. Zumal es überholt ist, jedenfalls dort, wo es sich auf aktuelle politische und kulturelle Ereignisse bezieht. So nehme ich mir hier und da das eine oder andere Stückchen ohne aktuellen Zeitbezug heraus. Das Angenehme und bisweilen auch Überraschende daran: Es hat Bestand. Jedenfalls vor mir. Und manchmal auch vor anderen. Womit wir manchmal schon zu zweit wären (ohne ich und ich). Das reicht mir.

Es geht, werter Herr über Mumien, Analphabeten und Diebe, erst heute los. Die Dame, die mich zum Abheben bringen soll und die sich schon gerne mal überhebt, hat sich diesmal übergeben (nein, nicht so wie bei den vielen fruchtbaren Frauen hier, einfach irgendwas Überdrüssiges in Magen und Darm). So hat die Übergabe meiner eben später stattzufinden. Ich hoffe es klappt. Sonst muß ich doch mit dem Auto los, was mir aus Witterungsgründen nicht eben angenehm wäre. Bahn kann man zur Zeit ja vergessen, oder so: das tue ich mir nicht an.
 
Sa, 08.11.2008 |  link | (3246) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Handgeschriebene Scham

Einem an mich adressierten DIN-A4-Umschlag liegt neben einem handgeschriebenen Brief ein ebensolcher bei, dessen Urheber ich an der Handschrift sofort erkenne. Der eine bin ja ich. Meine Güte, wie lang liegt das zurück, als ich das verfaßt habe? Dreißig Jahre? Vierzig? Dann sehe ich es: letzteres ist der Fall.

Meine Schrift hat sich mehrfach geändert im Lauf der Jahrzehnte. Früher ragte sie gerade auf, fast weiblich anmutend; wie meine kindlichen Puppenspielereien. Das waren wohl die mütterlichen Einflüsse, diese nahezu unleserlichen, aber wunderschönen, von der Literatur besessenen und von der Vielschreiberei geprägten Abstraktionen dessen, das andere eine mißratene Aneinanderreihung von Staben nennen würden. Ich konnte es entziffern, lesen, sehr früh schon. Später kippte sie nach rechts, die meine, und wurde wesentlich kleiner, bekam wohl einen leichten Sehnsuchtsdruck von der sanfteren Seite, gleichwohl sie sich disziplinierte, sich den raumsparenden väterlichen Aufzeichnungen aus dessen Gesteinswelten näherte, in die ich ihn als sein ihm nacheifernder Sohn manchmal begleiten durfte, wenn es nicht allzu weit weg und hoch oben war in herz- und hirnbelastender dünner Luft. Bei dieser Form ist sie letztlich angekommen, wenn sie auch an Volumen zugenommen hat. Eine Synthese aus den Handschriften beider. Aber auch ein sich immer wieder wandelndes Bild der Schrift, Zeichen von Wankelmütigkeit und Zerrissenheit. Denn zwischendrin muß da immer wieder das ständige Mahnen der Mutter an Höhe und Größe am Tor zur inneren Prägung gerüttelt haben, Erhabenheit: steil nach oben, hoch hinauf.

Aber auch das gesamte zur Verfügung stehende Gebiet in Beschlag nehmend. Extrem hoher Papierverbrauch. Das jetzt hier und nach so langer Zeit vorliegende Bündel besteht aus Luftpostpapier; war das nicht vorhanden, habe ich ersatzweise das immer auf Lager befindliche Durchschlagspapier genommen. Ich erinnere mich: Die oftmals geschriebenen rund dreißig und auch schonmal mehr Seiten des normalerweise benutzten hellgrauen 120-Gramm-Papiers hätten jeden zu dieser Zeit üblichen Brief in ein portoteures Paket verwandelt.

Der Absender des an mich gerichteten und meinen Brief begleitende Brief ist ein Studienfreund. Dessen Mutter ist vor einiger Zeit hochbetagt gestorben; ihr Tod war Gesprächsstoff für viele Stunden. Sie war für mich das, was ich mir von der meinen immer gewünscht hatte: zwar nie unkritisch alles hinnehmend, aber immer sanftmütig differenzierend. Sie hörte mir zu, ob als vis-à-vis — zu ihr fuhr ich die vielen hundert Kilometer, so oft es mir möglich war — oder als Adressatin meiner Briefbomben. Und nie blieb sie, die alles andere als unterbeschäftigt war, mir eine Antwort schuldig. Zwar keine dreißig Seiten lang, aber immer ausführlich genug. Auch hörte sie sich meine jugendlichen Träumereien geduldig an. Nie vernahm ich aus ihrem Mund etwas von irgendeinem Ernst des Lebens. Wer unbedingt ein Dichter werden wollte, der würde es auch.

Daß ich keiner werden würde, diese frühe Erkenntnis mag sie still in sich hineingelächelt haben. Auch oder gerade dann, als ich ihr den langen, sehr langen Brief geschrieben hatte, der nun vor mir lag, da der Freund ihn im Nachlaß entdeckt hatte, in dem und mit dem ich mich als solcher präsentierte. Alleine etwa die zwanzig Seiten, zwar von mir geschrieben, aber nicht erdacht. Abgeschrieben aus dem Buch einer Schriftstellerin, die mein Vater mir in jungen Jahren mal empfohlen hatte, da sie auf eigenartige Weise Heimat und Vergangenheit vermittle, und von der ich deshalb wohl meinte, die kennt doch kaum jemand, das merkt doch niemand. Auch nicht die Befürworterin meiner dichterischen Zukunft, der ich mein Talent beweisen wollte.

Später habe ich einiges und gerne gelesen von dieser dann bedeutenden und zu recht gepriesenen Autorin, die erst mit knapp vierzig Jahren schriftstellerisch tätig wurde und der ich halb so alt mich so nahe fühlte, daß ich ihre Worte für die meinen ausgab. Aber dieser Brief an meine mütterliche Muse war wie der einstmals enge Kontakt zu ihr schon lange in der hintersten Erinnerungshöhle verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob ich es damals nicht wußte oder ob ich es meiner spätzünderischen Naivität schlicht ignoriert hatte. Sie war, so die leicht spitze Randbemerkung des Freundes, bevor sie sich Menschen wie mir, ihm als Sohn und anderen psychisch leicht deformierten Studenten zugewandt hatte, zwischendrin mal Lehrerin an einem Gymnasium. Für Literatur.

Ich war mir nicht im klaren darüber, daß man auch im fortgeschrittenen Alter noch schamesrot in einem Mauseloch verschwinden kann.
 
Di, 14.10.2008 |  link | (1763) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Seltsame Bewegungsunlust

überkommt mich seit einigen Tagen. Es mag daran liegen, daß ich mich zuviel bewegt habe oder vielleicht auch und daß mich zuviel bewegt hat in letzter Zeit, daß das (allerdings ohnehin seit langem leicht bemitleidenswerte) rechte Auge läuft und läuft, als ob es Auslauf hätte, es aber nicht hat, sondern wehtut, während das linke immerzu die irgendwo in der Welten Läufe versteckte Hoffnung weitersuchen möchte, was es allerdings nicht darf, da sie laut des göttlichen Herrn Nietzsche die Qual verlängere, andererseits ich neulich die durch Herrn Mark793 aufs Banner einer Anhäufung von Rebellen ohne Markt genagelte These vernommen habe, Herr Gott habe behauptet, der andere sei tot.

Also: ein wenig tot fühlt sich das alles an in mir. Wobei: ein bißchen tot ja ebensowenig möglich ist wie ein bißchen schwanger. Aber so fühlt sich das nunmal an: als ob sich etwas ausbreitet in mir, von dem ich weiß, daß es das nicht geben kann, nicht einmal zum Schein, da es mir an den erforderlichen Organen mangelt, also nichts ist als ein Nichts.

Da ich aber ebensowenig weiß, was ein Nichts ist, wird dieser mein Guck- und Schreibkasten eine Weile lediglich sporadisch geöffnet und bedient sein beziehungsweise werden. Vielleicht solange, bis der mein Hirn- und Denkgewirr besser als ich kennende Ophthalmo- wie Neurologicus herausgefunden hat, was es mit der buchstäblichen Stäbchenmaschinerie meiner Setzfabrik aktuell oder akut auf sich hat: nichts. Wenigstens nur ein bißchen davon.
 
Mo, 29.09.2008 |  link | (1685) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Ahnungsvolle Lehren

Erzählt mir ein Mensch, seine Familie sei von jeher an diesem einen Ort angesiedelt, werde ich hellhörig. Das mag mit dem kulturell bedingten Wandertrieb meiner Familie zusammenhängen, der mich von klein an und mein Lebtag lang immer irgendwie unterwegs sein ließ und mich bei solchen Äußerungen immer mißtrauisch werden läßt. Etwa bei der Büddenwarderin, die mir ständig was von den sechshundert Jahren erzählte, die ihre elterliche Schmiede in ein und demselben Dorf nahe der Ostsee ansässig sei. Dieses Pochen aufs Germanische und damit Berufen aufs väterliche Beharren machte mich dann doch irgendwie arg stutzig, zumal ich Schmieds Töchterlein hin und wieder (intensiver als sonst) anschaute und sie fragend darauf aufmerksam machte: Sieht so eine Germanin aus? Germanistin ginge ja noch durch, dazu darf man auch kleiner gewachsen sein und dunkle Augen zwischen hohen Jochbeinen haben. Daß die Studiererei längst ergeben hatte, sie sei vermutlich eine mehr oder minder rassereine, vor vielen Jahren mit über das Land hergefallene Ahnin wendischer Marketenderinnen, verkniff ich mir anfänglich um des lieben Friedens in der Liebe willen. Bis ich eines Tages nach der x-ten Wiederholung dieser väterlichen Indoktrination das Wasser des Wissens nicht mehr halten konnte und ihr auf einer Völkerwanderungskarte zeigte, wo sie aller Wahrscheinlichkeit vor dem sechsten Jahrhundert losgelaufen ist damals, als sie noch Ost-Slawin und okkupatorisch unterwegs war in Richtung der Angeln Land, um hier ein bißchen zu rauben und dort ein wenig brandzuschatzen. Nicht dies entsetzte sie, sondern vielmehr die Vorstellung, das könnte an das Ohr ihres gestreng auf germanische Herkunft bedachten Vaters dringen. Erzähl dem das bloß nicht! Doch nicht etwa, weil ihn das umbringen könnte ob des dann zerstörten Glaubens. Sondern weil er mich umbringen würde. Mich Ketzer sozusagen.

Er hat mich nicht nur am Leben gelassen. Sondern er hatte längst selber ein wenig über seine Herkunft studiert, seine Kenntnisse allerdings für sich behalten. Aus welchen Grund auch immer. Vielleicht, um den Mythos vom Germanischen nicht zu zerstören, den sich alle Norddeutschen mühsam aufgebaut haben wie die Bayern, die sich ebenso ahnenvoll für unverwundbar bairisch halten. Ich rannte also nicht nur eine weit geöffnete Tür ein, sondern er verwies gar auf eine hunnische Abstammung. Was ich dann doch für ein klein wenig kokett hielt. Wenngleich eine noch weiter (süd-)östlich gelegene Wurzel mir gar nicht so weit hergeholt vorkam. Denn ich erinnerte ich mich an eine alte Photographie, die den väterlichen Großvater von Schmieds Töchterlein zeigte. Mein lange zurückliegender Ausruf war in Vergessenheit geraten, aber nach soviel Offenheit dann doch wieder in die Erinnerung gespült worden: Ihr kommt ja aus Armenien! Denn der Opa war dem Vater von Charles Aznavour wie aus dem Gesicht geschnitten. Und der hieß noch Aznavurijan.

Aber zumindest waren unverbrüchliche Gemeinsamkeiten hergestellt. Sie wie ich väterlicherseits ganz weit im Osten verwurzelt. Einander kennengelernt vor vielen Jahren im anglischen Land. Lange Zeit danach wiedergetroffen in der neuen Heimat der Armenier.* Und nun lebend in Schleswig und Holstein, den Ländern vieler unechter Germanen. Na ja, ein paar reinrassige, wild mit ihrem Stammbaum rumfuchtelnde Wikinger gibt's schon auch hier. Auf deren Spuren waren wir kürzlich: in Haithabu. Und das hat Spuren hinterlassen. Bei mir zumindest.

Aber davon ein andermal. Denn ich muß mich erstmal erholen.

* Die Armenischstämmigen machen einen Großteil der aus anderen Ländern stammenden französischen Bevölkerung aus (viele davon leben in Marseille). Das hängt mit der Vertreibung und dem Genozid der Armenier durch die Türken zusammen. Neben Charles Aznavour ein paar weitere Namen bekannterer Auswanderer: Jouri Djorkaeff (Fußballer) Alain Proust (Autorennfahrer), Stéphane Kelian (Schuh-Fabrikant), des weiteren: Arshile Gorky (Künstler), William Saroyan (Schriftsteller), Aram Khachaturian (Komponist), Cherylin Sarkissian (Musik: Cher — Sonny and Cher) Kirk Kerkorian, (US-Investor), Artem Mikoyan, (Konstrukteur der russischen MIG).
 
Do, 28.08.2008 |  link | (1470) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 







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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5814 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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