Des Dichters Antwort

Ich lasse bei dieser Feststellung, nicht zu vergessen diesen Leidensweg, mal einen anderen den Kommentator geben.

Sein Faust, seine Gestalten (-Krüppel), sie lernen oder lehren Philosofie usw. Als ob sich all dies anders als durch's Leben lehren, lernen läßt.

Überhaupt hat er sich auch zu anderen Hütern des mehr oder minder Wahren, des Guten und des Schönen trefflich geäußert.

Auch diese ganzen goetheschen Jüngelchen, Oberlehrer, Dichterlinge, Kaiserchen, Bennchen: man merkt es ihnen allen an, sie haben alle ‹ihren› Goethe, ihre Kehrrichttonne viel zu gut gelernt.

Ob sie nun Bahr, Hoffmannsthal, Kerr, Hauptmann oder weiß der Teufel, wie sonst sich diese Friseure nennen: was ist von ihnen heut noch lebendig? fast nichts, und stellt man sich vor, daß manche dieser schmierigen Sudler ihre ‹Werke› resp. ihren Auswurf bereits ‹gesammelt› — wer liest sie heut noch? Menschen nicht, höchstens Oberlehrer und greisinnenhafte Intellektuelle.

Dehmel resp Dämlich: (so ein Tichter war dieses Kamel:) gläubig greifen wir zur Wehre / für den Geist in unserm Blut / Volk tritt ein für seine Ehre / Mensch dein Glück heißt Opfermut / dann kommt der Sieg, der herrliche Sieg ... /
Mensch! Wat, dat is scheen dapfer?
Oder Mann — ein blöder Jesuit. Ach und zum Kotzen langweilig, was für brave folgsame Muttersöhnchen spinnt sein Sacharinhirn.

Vom größten Schuften Hofmannsthal ganz zu schweigen! Hi, hi! wie nur ein Vieh Hugo heißen kann ... Man könnte sie alle der Reihe nach aufhängen diese Bürschelchen: Mäxchen Brod, wozu ein dutzendekliges, philosofisch sein sollendes Geschwätz, da ist mir wirkliche Philosophie schon lieber als so übel verwässerte. Kellermann, Ponten, Haselclever, Werfel, Hauptmann, Schnitzler: elendes Gewäsch, natürlich bei allen mit sozialer Tunke: Die Dollarfürstin, die ein Spital gründet etc.

Ach, sie sind ja alle heute schon erledigt, total erledigt.

Unsre Zeit eben hat Schriftstellerei zum leichtesten Handwerk erniedrigt, denn es gibt Schuster, Schneider, Könige, Feldherrn und andere Gauner, die gute Bücher geschrieben haben. Aber von all diesen heutigen Schmierern kann keiner schustern, schneidern — nur zum Krieg resp. Massenmord waren sie tauglich.

Und auch die besseren unter ihnen, sofern es überhaupt noch welche gibt, sie haben alle vergeßen, daß alle richtige Kunst fragmentarisch ist.

Ein Vogel singt, wie sich's gehört, der Fisch schwimmt. Warum wollen diese ‹schaffenden› Laffen soviel voraus haben: sie werkeln, formen, arbeiten und feilen, machen einfach noch mehr Dreck aus ihrem Dreck.

Herrlich, wie dieser Massenmörder Goethe vertrottelt war, dieser Vater aller Curt Mählerchen.

Man höre: Über gothische Baukunst: «kauzende, übereinander geschichtete Heilige der gothischen Ziereien — unsre Tabakspfeifen Säulen...»

Oder: «In Indien möcht' ich selber leben, hätt' es nur keine Steinhauer gegeben ... die indischen Götzen sind mir ein Graus ... der Italiener darf sich keiner eignen Baukunst rühmen ...» und später natürlich schmiert dieser Geck über Paladio: «es ist wirklich etwas Göttliches, völlig wie die Form des großen Dichters ...»

Für ihn ist E. Th. A. Hoffmann «unerträglich ... pathologischer Fall.»

Seine Gemeinheit Beethoven gegenüber ist mehr als schamlos.

Sein Faust, seine Gestalten (-Krüppel), sie lernen oder lehren Philosofie usw. Als ob sich all dies anders als durch's Leben lehren, lernen läßt.

Es liegt mir fern, diesen Verbrecher zu kapitelisieren, seine Schweinereien und Trotteleien aufzuzeichnen, ich habe Wichtigeres zu tun, sei es auch bloß überhaupt Nichts zu tun. Ich verweise auf das Treffliche, was Heine, Börne, Grabbe, Nietzsche und andere Ehrliche und Kluge, über dies Aas festgestellt.

Auch Seb. Brunner, Alex. Baumgartner, Postkuchen, Eugen Dühring, J.K. Manso (1759 – 1826), J. Froitzheim (F. von Sesenheim), Chr. Fr. Nicolai, Willmann, W. Menzel, I.G.A. Wirth, Tolstoi und viele Andere wussten klar und tapfer Bescheid.

Und recht erfreulich, daß auch die Jüngeren nicht vergreist: so stand im ‹Sturm› 1921 Richtiges. Und C. Sternheim, R. Hülsenbeck, M. Hermann-Neisse, E. E. Kisch bemerkten viel Wichtiges.

Den andern fehlt eben der Mut, gegen diese Seuche zu kämpfen, sie bleiben eben Affen, die wacker im Chor mitgrunzen.


Jakob Haringer

Der hier auszugsweise wiedergegebene Text erschien zuerst 1929 in der von Haringer herausgegebenen Zeitschrift Die Einsiedelei. Ein Stundenblatt als Nummer V-VIII im Berliner Strom-Verlag.

Hier ist er zitiert nach: Leichenhaus der Literatur oder Über Goethe, hrsg. und eingeleitet v. Hansjörg Viesel, hier: I Die kleinen Männer mit den großen Aussichten; Lager-Schaden 1, Karin Kramer Verlag, Berlin 1983 (2. Aufl.), S. 5–8; genehmigter Nachdruck in: Laubacher Feuilleton 10.1994

 
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Literarische Achtziger

Während des Stöberns zwinkerte mir ein Buch zu, dessen Autorennamen ich kürzlich gelesen hatte im Zusammenhang mit einer gerade erfolgten Lektüre. Darin wurden Zeiten, vor allem aber Begebenheiten beschrieben, die mir völlig fremd waren. Nie hatte mich Popmusik interessiert, geschweige denn irgendein deutscher Schlager, und in den Achtzigern hatte mich die Vorstellung noch fest im Griff, aus mir könnte mal das werden, was meine Mutter sich immer so gewünscht hatte: etwas. Das, was aus mir dann werden sollte, das hatte sie damit sicherlich nicht gemeint, aber auch ohne Paragraphen oder Ziffern und Zahlen hatte ich keine Kapazitäten frei, um meinen Blick über das Sichtfeld meines Gewächshäuschens zu werfen, das ich mir gebastelt hatte. Oder so: Ich habe mich in dem Maß nicht dafür interessiert, wie es sich nicht für mich interessierte.

Ich ging einen Schritt auf das für ältere Bücherstuben typische hintere Eckchen zu, um das zu tun, was ich ebenfalls sehr gerne tue: mich mit Buchhändlerinnen und Buchhändlern zu unterhalten, wobei das Geschlecht eher unbedeutend ist, Hauptsache, die Verkäufer wissen ein bißchen was von dem, das sie verkaufen. Wenn sie hübsch und intelligent und belesen ist, in variabler Reihenfolge, setze ich durchaus Prioritäten. Mit einer Ausnahme bin ich mit viellesenden Frauen nunmal immer besser klargekommen. Aber es soll ja auch kluge und gebildete und hübsche Männer geben. Betreffend der ersten beiden Fälle war es hier der Fall.

Der Autor gehöre zwar auch dieser Generation an, meinte er, aber das Buch lese sich völlig anders als das, das ich zuletzt gelesen habe. Mit dem war ich auf Empfehlung des Herrn über Mumien, Analphabeten und Diebe unterwegs um den südlich gelegenen Appendix von Hamburg, mit den «Mucken», einem Synonym für tanzmusikalische Auftritte nicht nur, wie ich mittlerweile weiß, des Heinz Strunk, war auch bei ihm zuhause und habe mir unter anderem von ihm erklären lassen, weshalb unser Ältester so gerne seine These plakatiert, daß Fleisch sein Gemüse sei, während er die fünfte kleintransportergroße Ladung des büddenwarderinnischen Bratens in sich hineinkaut, dabei glücklich glotzend wie die Kuh, bevor sie in ihm verschwand. Sie war anregend, die nicht ganz so aufregende Dauerreise über die Dörfer im Dithmarschen, zwischen dem Hamburger Blinddarm und dem heidischen Celle und den Gasthöfen mit ihren heidnischen Balztänzen und sonstigen Besäufnissen, in denen die Tristesse des Schlagers rauf und runter schöngesoffen wurde zum schönen Mädchen von Seite eins. Vor diesem Lesestoff hatte ich bezüglich der außerhalb meines Reviers gelegenen deutschen achtziger Jahre literarisch bis dahin Unterprivilegierter das 630 Seiten starke Vergnügen mit Sven Regener und dessen Neue Vahr Süd, mit dessen Herrn Lehmann und seinem vielleicht nicht ganz so kreativen militärischen Alltag. Ich war also eingewiesen in eine mir bis dahin völlig unbekannte Epoche norddeutscher Kultur (bei der ich allerdings meine Zweifel habe, ob sie sich in dieser Ausformung von der westlichen oder südlichen wesentlich unterschied und unterscheidet; der Osten hat kulturell ja andere Wege beschritten).

Als Wegweiser zu diesem anders skizzierten Lageplan der Achtziger setze ich hier eine Besprechung ein, um auf eine Möglichkeit hinzuweisen, wie man im Fall nicht ganz so aufmerksamen Lesens neben die Spur geraten kann, die ein Autor gelegt hat. Vom Protagonisten heißt es bei Christoph Mann, für mich ein wenig zu sehr in vielleicht genretypischer Coolness : «Er sieht prächtig aus und bekommt was er will. Ob es nun dieser oder jener Job ist (auf 250 Seiten hat er 3 Jobs) oder eine der vielen Frauen, die ihm über den Weg laufen: Sonntag nimmt alles mit und lässt nichts anbrennen.» Genau das tut er eben nicht, unser Sonntag. Denn eigentlich brennt ihm sein Leben weg, ganz langsam, wie unter einer glimmenden Glut verkokelt es. Ich habe da nichts an Zynismus gelesen. Sarkasmus ja, passagenweise bitterer Sarkasmus ist das, aber einer der leiseren Töne. Auch nirgendwo Nihilismus. Ein Nichts, durchaus, auch ein Nein, zum Zustand, aber das bedeutet nicht Nihilismus, nicht einmal in der sprachlich verschlanktesten Version.* «Der Grundton des Buches oszilliert zwischen melancholisch und zynisch», heißt es in der Besprechung, «und Rocko Schamoni brilliert auf dem Instrument der Buchstaben. Hin- und wieder steigert sich das Tempo in eine berauschende Orgie, auf welche dann aber stets der Abfall in eine verkaterte, am Boden kriechende Mattigkeit folgt.»

Es ist, im Gegenteil, durchaus brillant, wie wenig Schamoni brilliiiiert, wie er überall das Tempo rausnimmt, die «berauschende Orgie», von der ich im übrigen nirgendwo etwas gelesen habe, sondern eher von teilnahmslosen Bumsereien, die er auch noch verkleinert, sie in verhaltenem, dem Kammerton des Buches entsprechend, allenfalls lakonischem Duktus als melancholisches In-sich-Zusammensinken beschreibt, den Kater lediglich hinnimmt, da er, um im Bild zu bleiben, auf der Suche nach einer artgerechten, allerdings weniger desolaten Begleiterin ist. Und die begegnet ihm ja auch ständig, in seinen Träumen. Bis ganz zum Schluß, da tritt sie tatsächlich auf den Plan. Aber so überraschend sie auftaucht, so rasch ist sie wieder weg. Wie das eben so ist nach dem Aufwachen. Und damit ist das Buch zuende. Was nicht bedeutet, daß es das Ende der Geschichte ist. Verschmitzt wirft Schamoni ein Garnknäuel hin, aus dem die Leserphantasie sie sich seinetwegen weiterhäkeln kann, vielleicht ihm auch aus dem Labyrinth hilft, das Ariadne ihm in die Hand gedrückt hat. Wenn er denn mag. Ich für meinen Teil habe ihr nachgeblickt, der Schwarzhaarigen, als sie aus der Schanze heraus in der Zukunft verschwand.

In der Quintessenz dieses Buches wurde ich sogar an Eric Rohmer erinnert, auch wenn dessen Filme in einem gänzlich anderen Milieu spielen. Es ist lediglich ein anderer Alltag, in dem sich der Leerlauf spiegelt. Und genausogut ließe sich die sehnsuchtspralle Hoffnungslosigkeit einiger Romantiker hineininterpretieren, die Schamoni mit seinen Sternstunden der Bedeutungslosigkeit aufscheinen läßt.

Er hatte recht, der freundliche Buchhändler der Bücherklause Uhlenhorst (der übrigens kostenfrei zustellt!), sie lesen sich ganz anders als die anderen Chroniken der achtziger Jahre (von denen Herr Lehmann noch aufs Lesen wartet). Zum nächsten Mittagessen werde ich gerne wieder zu früh sein und in die Papenhuder Straße 36 gehen. Oder vielleicht legen wir den Termin fürs Déjeuner doch auf dreizehn Uhr. Um zwölf öffnet schließlich die Weinhandlung.

* Es ist nicht nur ein Begriffsproblem, das viele haben. Sprache ist wie ein Organ, das verkümmert, wenn man es nicht fordert, wie das Gehirn beispielsweise. Auch Sprache verlernt sich. Gut, dazu muß man sie samt Begrifflichkeiten erstmal gelernt haben. Aber man sollte nicht so tun, als ob alles klar sei. Vielleicht auf der Andrea Doria. Aber nicht auf der gesamten See. Diese allergröbsten, klappentextartigen Vereinfachungen, die sich dann als sogenannte Umgangssprache äußern, zerstören sie. Inhaltlich, in ihrer Bedeutung. Und komme mir niemand mit dem Hinweis: Sprache lebe nunmal. Wird ihr Inhalt ausgekippt, ist nichts mehr da.
 
Mi, 19.11.2008 |  link | (3619) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Altes Haus in Traumstadt

«Ehe er ganz vergessen wird», schrieb mir einst Hans Pfitzinger ins laubumkränzte Poesiealbum, «— ich weiß ja auch nur, daß er hochbetagt im Jahr 1965 gestorben ist, und weil ich just erst in selbigem nach München gekommen bin, hab ich ihn nicht mehr kennenlernen können gekonnt.

Das Gedicht ist einfach zu schön, und recht gut gegen einsetzende Herbstmelancholie geeignet ...»
In der Traumstadt ist ein Lächeln stehngeblieben;
Niemand weiß, wem es gehört.
Und ein Polizist hat es schon dreimal aufgeschrieben,
weil es den Verkehr, dort wo es stehngeblieben, stört.
Und das Lächeln weiß auch nicht, wem es gegolten;
Immer müder lächelnd steht es da,
kaum beachtet, und gescholten und geschubst und weggedrängt, wenn ja.
Langsam schleicht es sich von hinnen;
Doch auf einmal wird es licht verklärt
Und dann geht es ganz nach innen —
Und du weißt, wem es gegolten und gehört.
Was war Traumstadt? Und wer war Peter Paul Althaus? «Wer guckt den Bayern unter den Rock? Schamlos und frech?» fragt Tilman Urbach in BR-online (leider nicht mehr im Netz) und klärt auf: «Peter Paul Althaus, Schwabinger Dichterfürst, Bohemien, hellsichtiger Kauz — in der Dichterklause verschanzt hinter Schifferklavier, Zigaretten und Cognac, ans Bett gefesselt von einer eigenartigen Krankheit, der Melancholie, dem Weltekel: Das bunte Nachkriegsschwabing des Wirtschaftswunders ist Peter Paul Althaus verdächtig. Was bleibt, sind die Verse. 1951 erscheinen seine Traumstadtgedichte.»

Einige Information mehr gibt Karl Ude, Vater des Daueroberbürgermeisters von München, preis: Er schrieb 1975 zum zehnjährigen Todestag von PPA, wie er einprägsam genannt wurde, im Münchner Stadtanzeiger: «Mit dem Tod war er jahrelang auf vertrautem Fuß gestanden. Er hatte sich von den Münchner Stadtvätern auf dem Nordfriedhof ein ‹kommodes› Ehrengrab schenken lassen und die Inschrift für seinen Grabstein entworfen, aber der Tod vergönnte dem ergreifend schwach und gebrechlich gewordenen Poeten immer wieder eine Gnadenfrist. In der Nacht zum 16. September 1965 war es dann doch soweit — Peter Paul Althaus zog sich für immer von Schwabing zurück, für das er so etwas wie Mythos und Gewissen geworden war.» Zu lesen ist die gesamte Ehrung PPA — mythos UND gewissen schwabings, versehen mit biographischen Angaben sowie einigen Photographien auf der Seite der Oswald Malura-Stiftung. Einige Gedichte sowie einen biographischen Text bietet die Seite Ein Dichter im Netz des Großneffen des Dichters. Die Kölner Nyland-Stiftung bietet ein Peter Paul Althaus-Lesebuch an. In dieser Anthologie wird deutlich, daß PPA eben nicht nur ein völlig in die Bohème Entrückter, sondern den aufgeklärten Romantikern zuzuordnen war.

«Das ist ein Unfug jetzt mit diesen sogenannten ‹zeitsparenden› Erfindungen, mit diesen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens — ein Handgriff und schon — diesen Stockgriffen, die auch als Zigarettenetui zu verwenden sind, diesen Tabakspfeifen, mit denen man zugleich Fieber messen kann, diesen Briefmarkenanfeuchtern, die man, wenn man gerade keine Briefmarken anzufeuchten hat, als Sockenhalter tragen kann!

Das ist schon ein ganz verdammter Unfug mit diesen zentaurenartigen, janusköpfigen, hermaphroditischen Nichtfischnichtfleischerfindungen, diesen zeitsparenden Gebrauchsgegenständen.»

Nicht nur diese seinerzeit für den Simplicissimus verfaßte Geschichte sollte man zuende lesen, eben diese vom Flügel, in den eine Addiermaschine eingebaut ist, «so daß man am Schluß einer Piece von Chopin oder Beethoven genau feststellen kann, wieviel Töne das betreffende Stück hat, ohne erst mit einem Bleistift alle Noten nachzählen zu müssen». Alles von Peter Paul Althaus ruft nach dem Platz neben den vielen anderen zu lesenden oder wiederzulesenden Büchern (nicht nur) aufm Nachtkasterl, in einer anderen Welt als der der Traumstadt auch Nachtkästchen genannt.
... Wir sanften Irren, wenn wir zeitunglesen -
wir wissen, daß man in der Zeitung morgen alles andersrum erfährt;
drum halten wir, wir sanften Irren, wenn wir zeitungslesen,
die Zeitung vorsorglich schon heute umgekehrt. ...
Und sogar rezitiert gibt es ihn: von Rosemarie Fendel, Peter Lieck und Christian Quadflieg. Alle drei Bücher für Menschen mit Leseschwäche sind erschienen im Bielefelder Pendragon-Verlag (der aber auch solche zum Lesen anbietet).
 
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Wohltemperierter Punk

Es gilt, das Bild von den Deutschen, die von Deutschen allzugerne in den Worthungerturm von Pisa weggesperrt werden, (wenigstens) ein bißchen zu korrigieren, na ja, der Einzelheit wegen vielleicht besser: zu retuschieren:

Gestern, von einem letzten Gruß kommend, in der S-Bahn Blankenese (für der monetären Geographie Unkundige: in diesem Hamburger Vorort leben überwiegend etwas noch ein bißchen besser Verdienende) in Richtung der pekuinär-konsumistischen Landungsbrücke Jungfernstieg. Ein junger Mann im Protestgewand des zwar eher angedeuteten, aber durchaus als ernstgemeint erkennbaren Punk, zurückgezogen in (s)eine autistisch scheinende Welt, die ohne Musik nicht mehr zu ertragen sei, allerdings und verblüffenderweise in einer Lautstärke, die andere nicht teilhaben ließ an seiner Angewidertheit von eben diesem unserem Planeten. Unsereins mutmaßte bereits, der junge, circa Zwanzigjährige höre am Ende gar nicht das, was häufig als Geräusch empfunden, sondern wohltemperiertes Klavier, als es sich auch schon ereignete: Er zog irgendwo zwischen Ketten und antifaschistischer Halsumwicklung sowie friedensbewerten und antirassistischen Knöpfen einen Briefumschlag hervor, nahm mit zartfühlenden Fingern den vermutlich nicht zum ersten Mal gelesenen Brief heraus und las still und immer wieder. Zwar hielt unsereins trotz schier übermächtiger Neugier diskreten Abstand, doch die altersbeeinträchtigten Augen stellten sich so scharf, um sowohl auf dem Umschlag als auch dem dreiblättrigen, vor- und rückseitig beschriebenen Brief zu erkennen: in akkurater, feiner Mädchenhandschrift die Botschaft, nach der es (vermutlich) einen denkenden und fühlenden Mikrokosmos gebe und glücklicherweise nicht alle Frauen des 21. Jahrhunderts Matt, unklug und irgendwie selber schuld ... seien.

Mit einem leichten Lächeln im Gesicht stieg unsereins dann in das stadträndisch parkende und ridende Gefährt, um einen anderen Zwanzigjährigen aufzunehmen und ihn zu dessen Freundin zu kutschieren. Und da erzählt dieser junge Wilde doch tatsächlich davon, er müsse dringend dorthin zu ihr, um die letzten hundertfünfzig eines dort liegenden, geschichtlich bedeutsamen, gestern begonnenen, insgesamt vierhundert Seiten dicken Buches zuende zu lesen. Nein, keine Piratengeschichte wie zu früheren Zeiten, von Störtebeker etwa und dessen tobenden Enteignungen, keine zeitvertreibende Weltablenkung, sondern bildungsvertiefende Lektüre mit wissenschaftshistorischem Hintergrund, und die auch noch als spannend bezeichnend. Und da, die Verblüffung hatte sich noch nicht gelegt, kehrte es in die kalkigen Alterswindungen zurück: Seine Gefährtin liest ja selber so einen Kram, und zwar mit soviel Genuß, daß offensichtlich die Lust sogar überspringt auf junge Männer, die vor gar nicht allzu langer Zeit nichts anderes zu tun hatten, als mit rollenden Bügelbrettern über die Koppel zu fliegen und dem Ortsbullen sowie den Restdörflern Ängste vor der vor nichts zurückschreckenden Jugend einzujagen.

Womit wir beim hiesigen Dauerthema wären, gestern an anderer Stelle aufgenommen.
 
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Faß ohne Boden

Vom Sinn und vom Leben der Sprichwörter

Als Kaiser Vespasian (9 – 79 unserer Zeitrechnung) auf die Idee kam, auch noch den Urin zu besteuern und sich deshalb von seinem Sohn Vorwürfe machen lassen mußte, hielt er seinem Sprößling Münzen aus dieser Steuer unter die Nase und fragte ihn, ob dieses Geld etwa stinke.

Die Redensart «Ein Faß ohne Boden» zielt unter anderem auf die Vergeßlichkeit derjenigen hin, denen sofort alles wieder entfällt, was man ihnen eben beizubringen versucht hatte. Einen solchen Tölpel namens Strepsiades läßt Aristophanes in seinem Stück Die Wolken auftreten, aber auch Sokrates oder Platon haben deshalb diese Formulierung angewandt.

Von Sprüchen, die wir alle kennen und mit denen wir tagtäglich (oftmals falsch) umgehen, handelt dieses Buch. Genauer: von Sprichwörtern. Zusammengetragen und literaturhistorisch erläutert hat sie der im 15. Jahrhundert geborene und bis ins 16. Jahrhundert aktive Erasmus von Rotterdam. Der Gelehrte geriet mit seinem Appell an die Vernunft, auch in Glaubensfragen, seinerzeit zwischen die Mühlsteine der römischen und der reformatorischen Kirche.

Mit diesem Kompendium im Bücherregal kann man manch einen, der von der politischen oder journalistischen Kanzel herunter mit gebildeten Sprüchen um sich wirft, in die Zwickmühle bringen. Man kann aber auch (ohne solch finstere Absichten) das eigene vermeintliche Wissen auf seine Richtigkeit hin abklopfen beziehungsweise es (respektive eine Party) bereichern, also besser, hintergründiger sein als jede Quizsendung, deren Gewinn meistens nicht mehr wert ist als eine Reise nach Jerusalem.

Vor allem aber: Man wollte den Rechner ohnehin mal ausschalten, sich in die Ecke setzen und, wie es bei Oma und Opa immer so schön hieß, ein gutes Buch lesen. Und man setzte sich bei der Sprichwörter-Suche auch nicht der Gefahr aus, sich in diesem hausbackenen Wikipedia-Geheimwissen zu verhakeln, das sich so unbestäubt vervielfältigt wie das akute Verständnis von Esoterik. Gut, so schnell wie über eine Suchmaschine geht das Finden nicht, aber dafür erfährt man auch ein bißchen was über die Hintergründe und die (Ge-)Zeiten der Geschichte. Überdies ist es nunmal angenehmer, sich in einem Buch festzulesen als sich im weltweiten Web hoffnungslos zu verirren.

Leider ist das sehr schöne, bibliophile, mit 50 Vignetten ausgestattete Büchlein von Manesse nicht mehr im Handel (jedenfalls nicht neu); aber auch Manesse ist ja im Schlund eines Verlagsmolochs verschwunden. Dafür bietet Reclam es an — und auch noch sehr preisgünstig.

Dem Verlagsmoloch, der (auch) Manesse gefressen hat, ist dennoch ein kleines Lob zu zollen. Immerhin hat er ein weiteres der feinen Bücher des großen Humanisten (noch) nicht verramscht (obwohl es doch schon seit 2002 angeboten wird ...): Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit

Dem Lob der Faulheit folgend sei hier der Klapppentext des Verlages wiedergegeben. Nein, nicht nur der Bequemlichkeit folgend, sondern weil es einigermaßen unsinnig ist, bereits einmal treffend Formuliertes (vermeintlich) verbessern zu wollen.

«Die Weltherrscherin Torheit verkündet die Wahrheit, und sie tut es lachend: Dank ihrer dienstfertigen Zofen — Eigenliebe, Schmeichelei, Vergeßlichkeit, Faulheit oder Lust — hat sie das ganze Erdenrund ihrer Macht unterworfen und ist nun Königin selbst über Könige.

In diesem Meisterstück vorurteilsfreien Denkens erweckte Erasmus von Rotterdam die ironische Lobrede zu neuem Leben. Mit unübertroffener Leichtigkeit und rhetorischer Eleganz, rhythmischem Zauber und einzigartiger Musikalität zielt seine Rede nicht auf eine bestimmte Person, sondern auf alle denkbaren Dummheiten und Laster. Das Lob der Torheit ist ein unterhaltsames Buch, das in seiner scharfsinnigen Überzeichnung zum Lachen reizt. Die philosophische Tiefe des Buches besteht darin, daß die Torheit — ob als Forscherdrang oder Spielleidenschaft, Aberglaube oder Adelsstolz, Sophismus oder Eitelkeit — nicht nur als verdammenswertes Laster gesehen wird, sondern auch als notwendige Illusion, damit das Dasein überhaupt erträglich wird. Weisheit bedeutet demnach für Erasmus Erkenntnis der eigenen Beschränktheit und gelassenes Sich-Abfinden mit dem illusionären Charakter des Lebens: Torheit ist die wahre Weisheit, eingebildete Weisheit ist Torheit.»

Wer mehr (in der Ecke sitzend) über Erasmus von Rotterdam lesen möchte: Uwe Schultz hat ein empfehlenswertes, spannendes «biographisches Lesebuch» geschrieben, das die gesamte Epoche, die Auseinandersetzungen um die Reformation — auch um Martin Luther — umfaßt, also Aufklärung im besten Sinne:

Erasmus von Rotterdam: Der Fürst der Humanisten

Leider scheint das Buch vergriffen zu sein, doch wird es vereinzelt immer wieder angeboten, oftmals sogar recht günstig. — Wer rasch sachkundige Information sucht, dem sei geholfen, mit einer Besprechung des Buches von Goedart Palm unter: Erasmus von Rotterdam

Am Rande: Unserem Nachwuchs ist es unter Androhung einwöchiger Gartenarbeit oder vierwochenendlichem Gitarrenentzug untersagt, Bücher über einen bestimmten Versandhandel zu kaufen. Zunächst einmal gibt es für solche Einkäufe Buchhandlungen. Selbst der Landbewohner kommt mindestens einmal pro Woche ins Städtchen oder gar in die Stadt. Und ein Telephonat reicht aus, denn nahezu jedes Buch wird in der Regel von einem auf den anderen Tag geliefert. Außerdem macht es Spaß — zugestanden: zumindest den Alten —, in Buchhandlungen zu stöbern — und sie am Leben zu erhalten. Und wenn's denn gar nicht anders geht, dann eben meinetwegen auch via Internet. Aber nicht bei eben diesem Anbieter, der alles andere plattmacht.
 
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Krimileser

bin ich eigentlich nicht. So hatte ich den überall rumliegenden Volltreffer auch geflissentlich ignoriert, da ich irgendwie gegen Geheimtips und deren in der Regel nachfolgendem und dauerhaftem Rummel angeboren resistent bin. 1995 sollte es allerdings noch friedlich zugehen in den Buchhandlungen, als Total Khéops von Jean-Claude Izzo in der 1945 von Marcel Duhamel gegründeten Série Noire, der Schwarzen Reihe von Gallimard mit ursprünglich ausnahmslos harten US-Thrillern, erschienen war. Erst um einiges später sollte der französische regionale Kriminalroman aus dem Boden schießen wie ein Pilz, der tief unten darauf gewartet hatte, zur Delikatesse ausgerufen zu werden. Dann bekam das Ganze Warenhauscharakter, stapelten sich etwa um die Jahrtausendwende bei der FNAC, dem größten Handelsunternehmen des Landes von allem möglichen Irgendwas mit Medien, allüberall die Bücher auf den eigens bereitgestellten Tischen im Centre Bourse, quasi mein Durchang zum Alten Hafen. Das war noch ein Grund mehr, die Policiers des Ex-Journalisten großräumig zu umschiffen.

Dann aber: Als ich Anfang des Jahrtausends meine Kartons gepackt hatte, da Joseph Roth in mir seit langem heftig virulierte («Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille») und Ariane Ascaride und Robert Guédiguian mich nach l'Éstaque abgeordnet hatten, wurde ich interessanterweise von einem deutschen Kollegen selig auf Izzos Polars aufmerksam gemacht; der Kollege war zugleich Freund, der meinen Heimatfindungsentschluß sehr gut verstand, sicherlich nicht zuletzt deshalb, da er ein mit einem rabenschwarzen Franzosen verheiratetes blondäugiges Töchterlein samt einem milchschokoladenbraunen Enkelkind hatte, die er allesamt gerne besuchte da unten in Montpellier. Zumal überall in der Gegend immer feine Reben rankten.

Seiner Leseempfehlung konnte ich blind Folge leisten, da er als jahrzehntelanger (früher heimlicher, denn unter Intellektuellen war das ebenso verboten wie das Reisen auf den Grünen Hügel oder Ausflüge ins Fußballstadion) Krimileser mich bereits einmal erfolgreich losgeschickt hatte, hier ins von mir ohnehin sehr gemochte Amsterdam von Janwillem van de Wetering. Mit dessen Commisaris bin ich dann auch intelligent-komisch und auch literarisch anspruchsvoll (unvergessen die Dauerschmunzelei beim Rattenfang) in den Sträßchen um die Grachten unterwegs gewesen; später oder vielleicht auch früher, genau weiß ich's nicht mehr, kam von ihm noch der Hinweis aufs schwedische Grau von Sjöwall-Wahlöö, das allerdings als Stadtplan für Stockholm nicht so geeignet ist.

So kam es dann, daß ich tatsächlich zunächst Total Cheops, na ja, nicht unbedingt als Reiseführer, aber als die Unterhaltung begleitende Sekundärliteratur zur Stadt und deren Umgebung genutzt habe. Das meiste hatte ich mir selbst ergangen und erfahren, gerne habe ich Joseph Roth und Kurt Tucholsky zu Rate gezogen, aber das meiste hat mir der dann doch etwas jüngere Jean-Claude Izzo erklärt, vor allem die Mentalität der Marseillais. Selten, daß es keine Übereinstimmung zwischen seiner Meinung und meinen Erfahrungen gegeben hätte. Und da ich als leidenschaftlicher Liebhaber dieser Stadt und deren Umgebung, überhaupt des Landes (meiner Mutter) aber auch jeden Fitzel Information ergriff und kritisch gegenlas oder -schaute, kam ich bald zu dem überzeugenden Schluß, daß nahezu alles an Reiseführern und -filmen unbrauchbar ist, weil in der Regel an der Oberfläche, mit den gängigen, weil besser verkaufbaren, aber deshalb nicht wirklicher werdenden Klischees herumgekritzelt wird, allzuoft auch noch Fehler falsch abgeschrieben werden (beispielsweise die unausrottbare Mär vom riesigen Fischmarkt am Alten Hafen, aus dem dann auch schon mal Frankreichs größter wird). Mich interessieren aber keine Platituden, Preise für Hotels oder Softdrinks oder Cocktails oder all das, das die ein kleines bißchen besser verdienenden Fritzchens und Lieschens für ihren Wochenendtrip mit dem Billigheimer-Lufttransporter ab Hamburg-Blankensee, Frankfurt-Hunsrück oder Rom-Ciampino benötigen. Das eine bekomme ich mit, indem ich selber, wohin auch immer, hinfahre, an der Réception danach frage oder mir am Ort die Getränkekarte anschaue. Mit einer Wein- oder Menueempfehlung wie die von Izzo gelange ich allerdings bereits sehr viel tiefer in die Innereien von Einheimischen.

Das kann ohnehin nur Literatur leisten. Das wird bei Camilleri und Sizilien nicht anders sein (ich habe noch viel Zeit, werde ich so alt, wie mein Vater geworden ist). Und der Krimi, das wissen wir, hat sich längst emanzipiert vom literarischen Quartett ff. und solchen fernsehbepreisten Wertungen wie: Das ist für mich keine Literatur!

Aber das werte ich jetzt nicht. Jedenfalls nicht hier. Auf den Urheber solcher und anderer Sätze geht gerade ein Füllhorn an Meinungen runter, in deren überwiegend positiven ich mich nicht unbedingt einreihen muß. Allenfalls auf diese Weise.
 
Mo, 13.10.2008 |  link | (2502) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Verlorene Seelen

Mit einiger Verwunderung stelle ich fest, wie groß das Interesse an Frankreich hierzulande (entgegen meinen Erfahrungen) dann doch ist. Damit meine ich jetzt nicht unbedingt der Deutschen (und die unter ihr leidenden?) leitenden Dame, die öfter in der königlichen Prachtnähe des Pompadour-Palais' de l'Élysée zu sehen ist als im Berliner Führerbunker; ihr sind die höfisch an sie hingehauchten Handküsse des dortigen Ersten Ungarn unter der Tricolore, dessen Ich küsse Ihre Hand, Madame, ich wollt, es wär' Ihr Mund samt weiterem (angedeuteten!) Austausch von Körperflüssigkeiten sichtlich angenehmer als die militärischen Knickser- und Dienereien unter der britischen Glasglocke des Kaiserreichs. Mir schwebt eher die Literatur vor. Aber auch dabei weniger ein Albert Camus, von dessen Existentialismus offensichtlich sogar das deutsche curriculare System nicht loskommt. Auch nicht, was verständlich wäre angesichts der aktuellen filmischen neueren Geschichtsschreibung, ein RAF-Sympathisant wie Jean-Paul Sartre. Aber wer kennt den überhaupt noch? Und mit dem Niedergang des Feminismus sind in den Bahnhofsbuchhandlung auch die Stapel mit den Büchern von dessen Muse Simone de Beauvoir merklich geschrumpft. Gemeint ist auch nicht das aktuelle Gerenne nach den (in deutscher Sprache kaum vorhandenen und deshalb Druckereinachtschichten fördernden) Produkten eines skandinavischen Preisträgers, der selten zuhause, aber eben Eigentümer eines französischen Passeport ist. Nein, es geht um einen Schriftsteller, den es bei mir hier wegen eines Software-Fehlers (?) von Blogger.de aus den Tiefen des Archivs nach oben gespült (sowie angenehme Begleiterscheinungen mitgebracht) hat und bei dem es die Zählautomatik oben aus dem G 5 rauszuhauen droht. Es ist, als hätte er bei der alljährlichen Literaturlotterie der Stockholmer Dynamit-Schmiede den Sechser plus Zusatzzahl gelandet.

Hat's mit der Verruchtheits-Mär vom Sündenpfuhl und Zentrum des südfranzösischen Verbrechens zu tun, das nicht unterzukriegen ist, obwohl es dort seit Jahrzehnten nicht mehr kriminelle Aktivitäten gibt als in jeder anderen vergleichbaren Stadt? Mit ziemlichem Amusement erinnere ich mich an die weitaufgerissenen Augen des Direktors eines großen deutschen Kunstmuseums, mit denen er mir von seinem Erlebnis berichtete, das ihm seine seit den fünfziger Jahren tief in der deutschen Fürchteseele verwurzelten (Vor-)Urteile bestätigte: Da hätten sich doch, in unmittelbarer Nähe zum Vieux Port rund dreißig, es mögen auch vierzig gewesen sein, Männer zu Boden geworfen. Er habe nur noch auf die Maschinengewehrsalven gewartet. Doch dann, welche Enttäuschung, die Touristentruppe aus Arabien hätte dann doch nur in Richtung Heimat darniederliegend gebetet.

Man hat doch gar keine Zeit mehr dafür. Wie in Hamburg oder Rotterdam kommen die Container in Europas drittgrößtem Hafen angezischt, werden in elektronischer Kraneseile be- und entladen, und ab geht's in einen chinesischen, um neuen Plastikmüll zu holen, auf daß er in Europa umverteilt werde. Hafen? Romantik? Es ist wie allüberall in diesen großen Hafenstädten. Vielleicht nicht so arg wie an den Landungsbrücken der deutschen Schwesterstadt, wo der Bratfisch aus dessen anderer, fernöstlichen zu kommen scheint, genauer: aus der Kunststoffproduktion von Shanghai und weiterer Umgebung. Denn das, was in unmittelbarer Nähe des überwiegend fremdenverkehrsgenutzten Alten Hafens eingenommen wird, ist dann doch bei weitem nicht so magenstrapaziös wie an seinem Hamburger Pendant.

Aber ich vermute ohnehin, daß es den meisten Lesern der Krimis von Jean-Claude Izzo gar nicht um menschliche Leichen geht, sondern um getötetes Getier und die es begleitenden Fruchtsäfte. Und weil sie die miserablen Reiseführer satt haben, deren Autoren allesamt daselbe voneinander und damit den einschlägigen Touristenprospekten abschreiben, was die Aussagekraft nicht unbedingt steigert. Denn wer die Krimis von Izzo liest, erfährt pro Buch mehr über diese Stadt kurz vor Afrika als in jedem noch so hochgepriesenen Nachschlagewerk oder Reportagefilm(chen).

À propos: Die Verfilmungen von Izzos Polars sind allesamt derartig niederschmetternd, daß man es tunlichst unterlassen sollte, seine Zeit mit den Klischees zu verschwenden, die da herausgearbeitet wurden, nicht zuletzt wegen des eher rechts und rassistisch denkenden Alain Delon in der Rolle des links fühlenden und immer menschenfreundlich agierenden Fabio Monatale. Interessanter- oder auch logischerweise hat eines der Bücher von Jean-Claude Izzo, die mich tatsächlich ergriffen haben und deren Qualität ich schon literarisch höher bewerte als die Krimis, auch eine um Längen bessere filmische Umsetzung erfahren: Les marins perdu, als Buch in deutsch erschienen unter dem Titel Aldebaran. Da ist etwas Seltenes geschehen: ein Film, der durchaus an die Nähe seiner literarischen Vorlage herankommt, und das, obwohl der Autor nicht mitgerabeitet hat, nicht mitarbeiten konnte, da er zur Erstaufführung des Films auf dem Festival von Locarno bereits drei Jahre tot war. Hier zeigt sich sehr viel ausgeprägter noch als in Total Cheops, Chourmo oder Solea der Izzo, der mit den Verlorenen Seelen leidet.

Wenn jetzt also der Blogger.de-Weichwaren-Stolperer auch noch mit dazu beitragen könnte, daß der eine oder die andere auch mal nach dem stillen Izzo greift oder ihn sich, durchaus gerne, ansieht, dann würde das meine Verwunderung sozusagen noch ein bißchen glücklicher machen (daß er auch noch Gedichte geschrieben hat, gehört ja nun wirklich nicht hierher).
 
So, 12.10.2008 |  link | (2221) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Graue Zeilen

Wer mit sonntäglichem Nickerchen-Entzug auf dem Sofa im Raum neben den frühnachmittäglich zum Kaffee brabbelnden Erwachsenen bestraft wurde, weil ihm mal wieder die ständigen Ermahnungen aus der Erinnerung abhanden gekommen waren, ein Buch nicht aufgeklappt auf die Innenseiten zu legen, dem haftet einige Jahrzehnte lang ein eigenartiger, nachgerade deutschkultureller Bezug zu selbigem im Kopfgewürm. Auf Buchmißhandlung steht Liebesentzug. Die Nachkommenschaft hat dies als eine der vielen Marotten des Alten verinnerlicht. Deshalb steht die junge Frau dem von einem gewissen Feixen begleiteten Kopfschütteln dieses Buchhalters einigermaßen fassungslos gegenüber, wenn er das von ihm verliehene und seit den Siebzigern leicht fleddrig in die Jahre gekommenen Taschenbuch mit Auszügen aus der französischen Aufklärungsliteratur* zurückerhält, von ihr eingeschlagen in Seidenpapier und zusätzlich geschützt von einer Plastiktüte, wohlweislich aus einer Buchhandlung. Bloß keine von einem Billigheimer! Am Ende gar noch einem, der überwiegend massig Ware aus dem Bereich inhaltsdürftiger Unterhaltung verhökert. Man kennt schließlich das Zornesgeäder an diesem sogenannten klugen Kopf. Und dann schüttelt der ihn auch noch dümmlich grinsend, nur weil man sich vorsichtshalber an dessen Kindheitsgeschichten erinnert, die er zum besten gibt, immer wieder vergessend, daß sie in eine Endlosschleife geraten sind.

Aber woher sollen sie auch wissen, die lieben, knapp einsneunzig langen Kleinen, daß dieser Biblioman die bibliothekarisch-mütterlichen Ordnungsinjektionen über die Jahre hin immer wieder revidiert hat und zu Unterscheidungen gekommen ist:

Hier der zu hütende und zu schützende Band aus dem zwölfbändigen Babylonischen Talmud, den er mit extrem spitzen Fingern unter arg verzögertem Zögern herausgerückt hat, da der Lehrer der Tochter der besten Freundin der Büddenwarderin auf die Idee gekommen ist, im Ethik-Unterricht vier Schulstunden lang ein paartausend Jahre Judentum abzuhandeln. Oder der Band aus der (vergriffenen, nur noch als Taschenbuch erhältlichen) Hamburger Ausgabe, in der Goethe seine Iphigenie versteckt hat, die am Hamburger Schauspielhaus auftritt und der der Deutsch-Leistungskurs einen curricular verordneten Besuch abstattet; mit diesen kleinen gelben Heftchen mag die bücherbeseelte Freundin des Jüngsten sich nicht abgeben, weiß sie doch um die weitaus höherwertigen Exemplare, die sich hinter dem arg giftigen Panzerglas des Apothekenschranks aus den Anfängen eines vergangenen Jahrhunderts befinden. Darin aufbewahrt sind neben Erstausgaben durchaus auch Paperbacks mit Äußerungen eines Herrn Nietzsche samt Kommentaren anderer. Gedruckter, nicht etwa handgeschriebener. Deshalb wurde die sorgsam gehütete Kassette ja erworben, da die zu studentischen Zeiten erworbenen Arbeitsexemplare vollgekritzelt und kaum mehr lesbar waren.

Und dort schließlich die unendlich vielen Taschenbücher, an denen das Kindheits- und Erziehungssyndrom abgearbeitet wurde. In sie wurde nicht etwa vorsichtig gekleckert, sondern gerotzt: mit hartem, unausradierbarem Bleistift, mit Kugelschreiber, weil das ganze Bäume beherbergende Papier dann doch zuviel der Füllfederhaltertinte aufgesogen hatte, mit leuchtfarbenen Stiften, weil man ja auch der Technik gegenüber aufgeschlossen jede Neuerung mitzumachen hatte. Selbstverständlich wurden sie aufgeklappt und mit den Innenseiten nach unten, also aufs Gesicht gelegt, sich auch mal draufgesetzt, in der Kneipe, im Café, manchmal auch zuhause, wo man sich allerdings eher seltener aufhielt, denn gelesen und geschrieben wurde in einer neuen Form von Gesellschaft, der die Gastronomie ihre Räume preiswert zur Verfügung zu stellen hatte. Rigide wurde ihnen Eselsohren verpaßt, da das farbige bis bunte Vielerlei heutiger weisesprüchiger werbetragender Merkzeichen nicht nur noch nicht kreiert worden war, sondern dem revolutionären Leserezeptionsverhalten zuwider gelaufen wäre. Das waren die Zeiten, in denen der bibliophil Aufgewachsene sich seiner Wurzeln erinnerte, der Geburtsstätten der großen Revolutionen. Zwar fühlte sich dessen Mutter den postaufrührerischen Folgen, dem aufstrebenden Bürgertum sehr viel näher, aber das war es ja gerade, dem man sich zu verweigern hatte. In den Urschoß zurückkehren, lautete die Devise.

Irgendwie und irgendwann scheint diese Sehnsucht nach dem Urzustand aus dem neukulturellen Ruder gelaufen zu sein. Es begann eines Tages damit, daß man diese Musik wieder zu hören, die Farben wieder zu tragen, ein gewisses gesittetes Benehmen wieder an den Tag zu legen begann, die einem die Kindheit vergällt hatten. Es setzte sich fort in der exzessiven Teilhabe an der Gestaltung von Büchern und Zeitschriften, im (beschriebenen) Erwerb von dann sorgsam gehüteten Gesamtausgaben. Die postrevolutionären, die bourgoisen Gene hatten einen wieder.

Die Kraft des Buches als Informationsträger für alle holt einen allerdings wieder ein, steht man in einer französischen Buchhandlung. Von den wenigen sorgsam gestalteten Bänden, für die sich nur einige Verlage als zuständig erachten, mal abgesehen: Welches Buch auch immer man aus dem Regal nimmt, ob sogenannte Hochliteratur oder die für die schlichtere Wissensvermittlung, jedes zweite wäre in Deutschland im Schredder gelandet, hätte der Druckerei Miese beschert, da sie das Buch hätte komplett neu drucken müssen. Nicht nur, daß einzelne Zeilen nur noch in blassem Grau gedruckt und damit kaum lesbar sind, sondern oftmals sind es ganze Seiten, für die man sich der vollen Nutzbarkeit wegen ein Zweitexemplar zulegen müßte (wie der Bekannte, der sich in den sich der wa(h)ren Werte besinnenden Achtzigern immer gleich zwei seiner großräumigen britisch-elendiglichen Limousinen zulegte, da eine immerzu in der Werkstatt stand). Und so ist es nur zu verständlich, daß französische Buchbetrachter ins Staunen geraten, wenn sie deutsche Bücher vor die Augen bekommen, solche zudem, die in deutschen Landen für die Tasche zubereitet werden. Die in Deutschland nach wie vor gerne in einen harten Umschlag, bisweilen auch in Leinen gepackten, am Ende gar noch mit Fadenheftung versehenen Seiten findet man eher seltener. Den einen oder anderen nationalliteralen Gott, nun gut, sei's denn drum, kommt er eben ins Regal, für den Besuch zur Ansicht oder für die Besinnung auf das, was da mal war. Aber im wesentlichen sind in Frankreich Bücher Artikel für den täglichen Gebrauch. Man liest sie, seien es nun die Enzyklopädisten*, André Gide, Molière, Emile Zola oder auch Polars wie die von Jean-Claude Izzo, und dann ab in die Ecke, auf den Stapel, irgendwo hin. Da gibt es nicht so ein Gewese.

So gibt der Betrachter ein solches Buch für die Tasche dann auch ganz vorsichtig und mit arg spitzen Fingern wieder zurück. Hätte er Seidenpapier parat, er schlüge es vorher darin ein. Man kann ja nie wissen, welche Restriktionen das nach sich ziehen könnte. Entzug wird auch im Land der Liebe nicht unterschätzt.

Aber warten wir's doch ab, vielleicht kommt die Restauration, nicht nur die des Buches, auch in Frankreich noch an ...

* Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers par une société de Gens de Lettres
 
So, 21.09.2008 |  link | (3039) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Fragmentarisches

«Offen gestanden halte ich die unterhaltsame, poetische Kritik für die beste, und nicht die kalte, algebraische Kritik, die unter dem Vorwand, alles zu erklären, weder Haß noch Liebe kennt und sich freiwillig jeder Art von Temperament entäußert. Da ein schönes Bild die von einem Künstler gespiegelte Natur ist, wird die beste Kritik diejenige sein, die zeigt, wie eben dieses Bild sich in einem einsichtigen und einfühlsamen Geist spiegelt. Demnach kann die beste Besprechung eines Bildes ein Sonett oder eine Elegie sein. — Aber diese Art Kritik bleibt Gedichtsammlungen und poetischen Lesern vorbehalten. Hinsichtlich der Kritik im eigentlichen Wortverstand hoffe ich, die philosophischen Köpfe werden mich verstehen: um gerecht zu sein, das heißt, um ihre Daseinsberechtigung zu haben, muß die Kritik parteiisch, leidenschaftlich, politisch sein, das heißt, sie muß unter einem ausschließlichen Gesichtspunkt erfolgen, unter einem Gesichtspunkt jedoch, der möglichst viele Horizonte eröffnet. — Die Linie auf Kosten der Farbe, oder die Farbe zum Nachteil der Linie zu preisen, ist zweifellos ein Gesichtspunkt; nur zeugt das von einem weder sehr aufgeschlossenen noch sehr gerechten Sinn und verrät eine beträchtliche Unkenntnis individueller Schicksale.»
Charles Baudelaire

Zitiert nach: Henry Schumann, in: Die Modernität Baudelaires, in: C. B. Der Künstler und das moderne Leben, Essays, ‹Salons›, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 408

Philosophie und Wissenschaft allein sind dieser unergründlichen Welt nicht kommensurabel, beide müssen daher poetisch werden, sagt Novalis. Und Harro Zimmermann schreibt dazu: «Wenn sich die Poesie mit ihren Mitteln der sprachlich-ästhetischen Konstruktion, mit ihrer technisch reflektierten Phantastik von den Denk- und Erfahrungsfesseln des Gewöhnlichen und Normierten zu lösen versteht, wenn sie Ergebnisse wissenschaftlichen Scharfsinns zu leuchtender Sinn-Bildlichkeit umzuschmelzen lernt, wenn ihr gleichsam die imaginierende Verrätselung ihrer Enträtselungserfolge gelingt, dann kann Sehnsucht zum intelligenten Ferment eines wirklichen Wissens werden. Das Fragmentarische und Verworrene, das Undarstellbare und Unbestimmte, so hat es der Philosoph Wolfram Hogrebe beschrieben, erscheint dann als Sinnverheißung an den Zauberworten und Wunderdingen der Poesie. Wie an der blauen Blume, die eine ‹Monstranz des Nicht-Wissens› darstelle. Ohne diese Sehnsucht besäßen wir keinen Sinn über die bloße Endlichkeit hinaus, wir wären nicht erkenntnisfähig. Die blaue Blume steht dafür, daß es ein abschließendes, ein beruhigendes und stillgestelltes Wissen nicht geben kann, sondern daß uns nur Endlichkeiten ohne Ende beschieden sind.»

Harro Zimmermann: Romantiker der praktischen Vernunft, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 70 vom 24./25.03.2001, SZ am Wochenende

Das ließe sich auch zusammengefaßter, geraffter aufschreiben, aber es ist meiner Meinung nach so passergenau, daß es an eben dieser Präzision verlöre, drückte man das bereits Komprimierte noch einmal zusammen. Und ich bin ja auch nicht Rhetor in einem Crash-Kurs für klappentextwissende Mittelbaumanager.

«... nur im Weiß zwischen den Zeilen ...» — also das Weiße zwischen den Zeilen erkennen (Between the Lines, heißt es im Englischen; Mitte der Siebziger gab es einen bewegten, bewegenden, aber dennoch stillen Film mit diesem Titel). Ich sage das gerne und schreibe auch gerne so, auch wenn es dem «aufrichtigen Geradeausdenken» einiger zuwiderläuft: Etwas zwischen die Zeilen schreiben.
 
Mi, 06.08.2008 |  link | (1634) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Sommerlustbücher

Ich habe vorhin Madame Flüchtig vom Letzten Ausgang einen oder auch zwei Buchtips gegeben. Sie sind in meiner alten Internet-Wohnung gelagert. Aber weshalb, denke ich so für mich hin, sollen die nicht auch hier stehen? Es ist ja Tag des offenen Buches. Und es könnte ja auch sein, daß dem einen oder anderen auch nach anderem als Arno Schmidt der Sinn steht. So denn, hier, die Übernahme aus dem Literatursommer auf der Tucholsky-Bank:

Heute mag unsereins in der südwestsonnigen Nord-Résidence oder besser auf der Holzbank unterm schattigen Pflaumenbaum sitzend mal wieder etwas lesen — wiederlesen! Vielleicht einen köstlichen fruchtig-frischen Bollenberg aus dem Mutterland oder lieber einen von Madame Lucette eigenhändig für uns herangekarrten 51er Pastis dazu trinken? Also Knopf ins Ohr und ein Buch lesen, das nicht zur Pflichtlektüre gehört, möglicherweise eine Liebesgeschichte mit hohem Schmunzelanteil, etwa bei Celati, Tabucchi, Svevo, Tucholsky, oder Gedenkschmökern für Malerba? Oder ist es gar schon Zeit für solche Romane wie Inselsommer (eigentlich Zwei Sommer — denn: Deux étés —, also viel schönerer Originaltitel; ach ja, das alte Leid-Lied mit den Titelübersetzungen!) von Erik Orsenna, dessen übersetzendem Alter ego (?) Besuch von einem Verlagsvertreter aus Paris angedroht worden war:
«Über dieses kleine blaue Stück Papier wurde zuerst gelächelt. Die Einheimischen waren stolz auf die Entlegenheit ihrer Insel und machten sich über die falschen lustig, die, wie Noirmoutier, bei Ebbe durch eine Straße mit dem Festland verbunden waren, oder, noch schlimmer, durch die unendliche Vulgarität einer Brücke, selbst einer künftigen (arme Insel Re). Wäre es nach ihnen gegangen, hätten sie die Widrigkeiten der Anreise noch gesteigert und die Verkehrsverbindungen noch komplizierter gemacht. Aber sie hatten schon Freude daran, sich den Pariser Emissär nach sechsstündiger Zugfahrt auf der Hauptstrecke vorzustellen, wie er sich einundsiebzig Minuten auf einem zugigen Bahnsteig in G. die Füße vertrat (der Wartesaal war seit ewigen Zeiten wegen Bauarbeiten geschlossen).

Dann würden die Unbilden erst anfangen. Er würde in ein Faß einsteigen, das zehn Jahre lang in einer Biertonne eingeweicht worden war (so stank ohne Übertreibung der Triebwagen), und würde sich darin eine gute Stunde durchschütteln lassen wie Milch, die gebuttert wird. War diese Tortur überstanden, würde er in einem Café in P. erneut warten müssen. Diesmal auf das Eintreffen des rot-schwarzen Busses, der, nachdem er mit dem lebenden Geflügel, der Armee von Geranien (der Lieblingsblume für die Gräber), zwei Klobrillen, fünf Kartons Dosenkonfitüre (Apfel-Johannisbeere), einem Rasenmäher, einem Sea-Gull-3-PS-Motor und einer (auf dem Dach verstauten) Tischtennisplatte beladen worden war, elfmal halten würde: an der Internationalen Hotelfachschule, an der Straße nach Loguivy, an der Autowerkstatt Gicquel, im Zentrum von Ploubazlanec ..., um schließlich an der leeren Anlegestelle anzukommen: die Fähre würde wie gewöhnlich nicht gewartet haben. Der unglückliche Reisende würde sie in der Ferne tapfer das Meer durchpflügen sehen, ihm ihren weißen Hintern zeigend, über dem die Tricolore flatterte.»

 
Do, 17.07.2008 |  link | (6327) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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