Zeit ist Freiheit

«Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen und außerdem auch so unbeständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu.» (Zeit und Freiheit)

Ich bin immer zu früh. Weil ich nicht hetzen mag. Und man verpaßt keinen Zug, keinen Flieger, kann gemütlich im Stau stehen, während andere lediglich frei einer Leitung telephonpanisch ihre Verspätung in ihre drei Mobiles hineindippeln oder -stammeln, kann auch das vierunddreißigste Mal mal um den Pudding fahren auf der Suche nach einem Parkplatz. Und ist immer noch zu früh. Dieses ständige Zufrühsein hat also nicht nur Nachteile, auch nicht im kalten Herbst. Man sieht was von der Welt. Weil man Zeit hat.

So lungerte ich denn vor einigen Tagen vor einem Restaurant herum, wo mich eine Einladung erwartete. Viel zu schnell hatte ich einen Parkplatz gefunden. Auf Anhieb. Um die Ecke. So ist das, wenn man Zeit hat. Nicht einmal hab ich rummüssen. Die ganz Eiligen hasten hochdrehzahlmäßig viele, viele Male um den Block. Wie Monte Carlo in Uhlenhorst. Um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte ein spezielles Tafel-Abonnement auf die gestrigen Überbleibsel und würde deshalb vor der Tür warten, bis man mir mein Restepaket mit den Schnuddeligkeiten vom Vortag durchreicht, gab ich den Flâneur. Was nicht ganz leicht war, da ich mich etwas ländlich gewandet hatte. Doch glücklicherweise hatte ich einen Photoapparat dabei, mit dem ich später für das Familienalbum das Ergebnis fröhlicher Multiplikationsversuche festhalten wollte. So lichtete ich eben erstmal die Behausung ab, in der ich mich später so dickfuttern sollte, wie es mein Bildobjekt bereits war. Dann bummelte ich nichtstuend weiter. Worauf mich einmal mehr die Erinnerung einholte.

Es war wie vor gut zehn Jahren, als ich auch viel zu früh war und Zeit hatte vor dem Gespräch im Literaturhaus. Da war ich ebenfalls herumgestreunt, stand schließlich vor einem Weinladen, und wie andere Menschen vom Inneren irgendwelcher Parfumerien angezogen werden, geht mir das eben so mit Buch- und Weinhandlungen. In beiden stöbere ich nur zu gerne. Und so befanden sich mit einem Mal auf Augenhöhe ein paar Flaschen Rotwein, auch noch eines Jahrgangs, den ich seit langem suchte, weil er mir außerordentlich gut geschmeckt hatte, aber nirgendwo angeboten wurde. Mal eben in ein domaine viticole hineinsurfen, das ging damals ja noch nicht. Zu dieser Zeit bauten sie noch Wein im Bordelais und keine Webseiten.

Aus einem unvergessenen und unvergeßlichen Cave in La Rochelle, wo wie in Filmen vergangener Jahrhunderte der Pedell neben dem Bauern und dem Gymnasiasten und dessen Professeur soff, hatte ich ihn mal mitgebracht, ihn noch ein ganzes langes Weilchen ausruhen, ihn sich akklimatisieren lassen an die Stadt, in der der Einwohner sich italienischer fühlt als jeder Italiener und französische Weine demnach unter die Welschenklausel fallen. Geärgert hatte ich mich anschließend, nach dem Genuß, alle fünf bis zehn Minuten ein anderer Geschmack, nach der erstgenommenen Kirsche jedesmal eine neue Beere, sehr geärgert hatte ich mich, nicht die anderen Flaschen auch mitgenommen zu haben, zumal sie in einem Preis belassen worden waren, der aus der Zeit der Geburt dieses Weines zu stammen schien. Das Kellermeisterehepaar wußte vermutlich nicht einmal, was es da für Schätze lagerte, zumal die Stammsäufer den 80-Centimes-Wein bevorzugten und ein Fremder, noch dazu einer, der lieber die etwas feineren Sorten mochte und auch noch über die aktuellen Bordeaux-Preise informiert war, der traute sich in diesen weinmuffeligen Schuppen, der eher den Eindruck einer Absinth-Höhle des ausgehenden 19. Jahrhunderts machte, ohnehin nicht rein. Und exakt dieser Wein, dieser Jahrgang stand da nun. In Uhlenhorst, wo der Hofweg noch Papenhuder Straße heißt. Sechs Flaschen habe er noch, sagte der angenehme, durch und durch hanseatische Händler, weitab der ansonsten servilen Freundlichkeit dieses Gewerbes. Doch da kam tiefe Trauer über mich, die ich dem Herrn auch mitteilte: Ich sei mit dem Flugzeug unterwegs, und schließlich hätte ich noch Gepäck, Koffer, so unsinniges Zeugs wie Bücher, Computer und ... Gerne würde er mir den Wein auch nachreisen lassen, hellte er meine Stimmung auf. Einige Tage später kam mein 85er vom Heiligen Julian aus dem Bordelais, ein sogenannter Zweitwein, im Büro an. Das Büro ist mittlerweile geschlossen und der Wein via Zungenrezeptoren mit einem Ausflug über die Riechsensoren durch die Gurgel in den Magen geplätschert und hat die angenehmen Stunden noch fröhlicher gemacht (nie feineren Wein bei schlechter Stimmung, die zieht ihn runter!). Dann mußte ich umziehen innerhalb des Bordelais, nach St Emilion. Der Hamburger Weinhändler hatte mir dabei geholfen. Von dem 95er habe ich sogar noch ein Fläschchen (siehe oben).

Diese Weinhandlung gab's also noch. Dabei hatte mein aktuelles Vermögen Glück, daß ich mal wieder viel zu früh dran war. Sie sollte erst um zwölf Uhr öffnen. Um zwölf war ich jedoch zum Mittagessen verabredet (mit zunehmendem Alter bittet die senile Bettflucht zunehmend früher zu Tisch). Also bummelte ich noch ein paar Schritte, überquerte die ruhige Straße, ging etwas weiter nach oben in dieser ruhigen Straße mit ihren Jugendstilhäusern, die allesamt touristenfrei bewohnt sein dürften. Dann sah ich, was ich ebenfalls sehr gerne sehe: diese typisch hamburgischen kleinen Läden, in die man ein paar Stufen hinuntergehen muß, um in sie zu gelangen und in denen in den etwas feineren Gegenden kaum noch anderes angeboten wird als Kleidung für Damen und solche, die mal werdende Mütter werden sollten, wenn sie denn wollten. Mit Bier und Korn zum Beispiel oder Fisch, so habe ich sie noch kennengelernt. Das war hier zwar nicht der Fall, dennoch ging ich die drei Treppen hinunter und hinein in die kleine Buchhandlung. Auch hier wieder: stöbern. Das sagte ich dem freundlichen Buchhändler, ebenso angenehm wie sein Kollege vom Wein, er nickte lächelnd und verschwand wieder in seinem Kabuff, wie ein Antiquar in seinem tausendjährigen Wissen.

Und was der Märchenonkel dort gefunden, was er nicht gesucht hat, erzählt er morgen. Oder übermorgen. Wir haben ja Zeit. Viel Zeit.
 
Sa, 15.11.2008 |  link | (3980) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


hanno erdwein   (15.11.08, 09:17)   (link)  
Wieder eine herrliche Zeitreise
in das stubenzweigsche Universum aus literarischer anspielung und magenfüllender Kostbarkeiten. Allso läßt man sich doch gern verführen - voila! (Hanno)


jean stubenzweig   (15.11.08, 15:15)   (link)  
Erde und Wein,
Wein und Buch, das kommt Ihnen, Herr Erdwein, sicherlich am nächsten, vor allem ersteres. Wein braucht auch Erde, sowas wie Trottoir, wie die von mir so geschätzte Hafencaptainin miagolare dieser Tage aus dem vermutlich sehr rheinischen Mund einer Dame im Pelz rausnotierte. Die hatte das wohl aus dem poetischen Terreur der Weinexperten fehlgehört.

Doch wir alle können im Fachbereich ebensogut von Ihnen lernen, wie ich seit Ihrer feinen Abhandlung über Literatur und Lebensmittel weiß.

Und herzlichen Dank für die vielen Lobeweine!


jean stubenzweig   (26.03.09, 01:55)   (link)  
«Von dem 95er
habe ich sogar noch ein Fläschchen.» Nun ist's vorbei. Ich habe es mir aus dem Herzen gerissen und dem wunderbaren Menschen geschenkt, mit dem ich damals versucht hatte, alle diese Flaschen aus dem Keller zu retten, die da herumlagen zu Preisen wie zu ihrem Geburtsjahr. Bevor das Wirtspaar in den Ruhestand ging. Denn anschließend wurden die edleren Gewächse zu jeweils aktuellen parisischen, besser Börsenpreisen an britische oder deutsche Touristen verkauft.


jean stubenzweig   (24.05.13, 16:42)   (link)  
Das obenstehende Zitat
ist vermutlich eher Censorius zuzuordnen. Erwähnt hat es Norbert Elias in: ‹Über die Zeit›, Frankfurt am Main 1984, S. 48















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