Omnipräsent-autokratisch Da gibt es jemanden, der zu einer aussterbenden Species gehört, da er das sogenannte gute Buch bevorzugt, da sitzt, liest, sinniert, lange Briefe und vielleicht auch Gedichte schreibt, deshalb keinen Fernsehapparat zuhause stehen hat und trotzdem ab und an hineinschaut, aber wirklich nur dann, wenn da gerade irgendwo ein Gäste- oder Hotelzimmer mit Television herumsteht. Ein solcher schrieb mir vor einiger Zeit. Daraus entspann sich einer feiner Dialogfaden, aus dem wir dann einen Austauschteppich klöppelten. So teilte ich ihm unter anderem mit, durchaus, von Zeit zu Zeit möge man doch seine früher einmal geäußerte Meinung einer Prüfung unterziehen. Daraufhin flatterte dem jungen Manne namens Christian Severin die Musikseele emphatisch auf: Ich habe mir am Sonntag eine Aufzeichnung von Beethovens Fünfter im Fernsehen angeschaut — und mein Eindruck war schlicht überwältigend. Zwar waren mir die Karajan-Interpretationen der Beethoven-, Brahms- und Brucknersymphonien seit langem bekannt, aber diese gelungene Mischung aus Aggressivität und Schönheit, Vitalität und Erhabenheit, klassizistischer Schlichtheit und barocker Eleganz (alles vermeintliche Gegensätze) übertrafen doch meine Erinnerungen von einst. Oder haben sich nur meine Hörgewohnheiten verändert, sprich: verfeinert? Beethoven jedenfalls hätte sein wahre Freude daran gehabt: das einleitende Allegro ohne überflüssige Verästelungen, der langsame Satz ein erhebender Trauermarsch, das Scherzo zwischen den Extremen pendelnd, das Finale ein Triumphmarsch sondergleichen. Und erst der Übergang vom 3. zum 4. Satz! Da hörte man den pochenden Rhythmus des Scherzo allmählich im finstersten Moll verklingen, spürte den bislang durchgehaltenen Impetus gleichsam resignieren und sah diesen im Nebel entschwinden, um das plötzliche Hereinbrechen des Finalthemas in strahlendem C-Dur nur um so deutlicher wahrzunehmen! Was sagt uns dies über Karajan? Daß nicht nur alles Fassade und Maskerade an ihm war; daß «seine» Musik, wie er einmal sagte, eben doch aus seinem Innersten floß und er in erster Linie wohl ein Renaissancemensch war, ein Ästhet, der bei seinen Aufführungen die Wiedergeburt der Antike zelebrierte und deren Schönheitsideal repräsentierte. Und in einem Punkte stimme ich Dir zu: damals, als «junger Wilder», hätte ich mich mit meiner Kritik zurückhalten sollen. Aber man lernt ja bekanntlich nie aus, wie schon Wilhelm Busch wußte: «Also lautet der Beschluß, daß der Mensch was lernen muss; Lernen kann man Gott sei Dank aber auch ein Leben lang.» Ich für meinen Teil bin gespannt, welche Meinung ich wohl in zehn Jahren über Karajan haben werde ... Sicher hat unsereiner einige Male eine Meinung kundgetan, die vielleicht dann doch nicht so fundiert war, weil's am fehlenden Wissen oder am jugendlichen Ignorieren von Fakten lag. Aber der geneigte Hörer oder Leser wird's mir vielleicht (und hoffentlich) vergeben haben. So er sich überhaupt an mein Geschwätz von gestern erinnert. Gar lang ist's her. Doch im wesentlichen muß ich rückblickend feststellen, daß die Unterschiede zum Denken und Meinen vor dreißig, vierzig Jahren nicht allzu gravierend sind. Und bei einer Meinung steh' ich festgeschillert in der Erden: Er ging mir noch immer auf die Nerven, als ich die Sendungen auf 3sat und arte anläßlich seines Hundertsten mehrfach gesehen und gehört habe; es galt schließlich, die Meinung zu prüfen. Arg loben tat man ihn und feiern, aber freundlicherweise hat man auf den beiden nicht ganz so unbedingt alles Wahre, Schöne und Gute bekränzenden Kanälen eben auch diesen schrecklich eitlen Salon- und Gesellschaftslöwen mit geehelichtem Mannequin und Porsche und Rennsegelboot und 500 Millionen Vermögen gezeigt und sprechen lassen. Daß er recht karrieristisch orientiert in Nazi-Uniform dirigierte («Es hat mir nicht schlechtgetan»), scheint unsereins beinahe (!) nebensächlich angesichts der Flurschäden, die dieser omnipräsente und autokratische Unterhaltungsindustriepanzer hinterlassen hat. Meine Meinung hat sich nicht geändert. Ich fand ihn früher schlimm, und es geht mir heute nicht anders. Ich verfüge nicht über das Musikgehör, das mir allzu differenzierende, fachliche Meinungen erlaubt. Doch mich nervte früher schon immer etwas an seiner Kunstturnerei, was auch in den erwähnten Sendungen zum Tragen kam. Wenn ich mich recht erinnere, war es Christa Ludwig (es kann auch eine andere Tenörin gewesen sein), die leicht süffisant darüber berichtete, wie Karajan ein Oratorium derart langsam spielen ließ, daß sie und ihre Kollegin Probleme bekamen. Man einigte sich, den Meister darauf aufmerksam zu machen. Der entgegnete, da müsse er sich wohl andere Sängerinnen «besorgen». Die sopranistische Retoure: Es gebe keine besseren. Worauf der Herr ein wenig flotter zeitlupte. Das ist mein Problem mit dem musikalischen Zweitverwerter Karajan immer gewesen, weshalb ich seine Platten auch nur in ganz jungen Jahren kaufte: Immer störte mich sein Tempo, da kam ständig das Getragene durch, das alles beseelende. Alles in (s)einer Geschwindigkeit. Der hat mir meinen geliebten Sibelius derart verhunzt, daß ich ihn beinahe gehaßt hätte. Doch man kam ja früher kaum an andere Aufnahmen. Und immer wieder haben sie ihn drangelassen, obwohl es viel bessere gegeben hatte zu dieser Zeit, wie etwa Sir John Barbirolli, der auch Mahler nicht so plakativ dirigierte, nicht vom Mystischen getragen — Ehrfurcht überließ der den Jüngern. Karajan hatte damals alle verdrängt, hatte sich selbst bereits zu Lebzeiten als Kunst im öffentlichen Raum präsentiert. Das nehme ich ihm (und der Musikindustrie beziehungsweise den risikofeindlichen Kulturverwaltern der Heil'gen Musikwallhallen) bis heute übel. Diesen Genius kann ich bis heute nicht erkennen (wobei ich mich auch nicht mehr weiter damit beschäftigt habe, sondern erst nach diesen Sendungen — und diesem Brief — wieder darauf gestoßen wurde): «Schönheit, Vitalität und Erhabenheit, klassizistischer Schlichtheit und barocker Eleganz.» Karajan war ein Formalästhet, einer dieser späten und auch noch oberflächlichen Winckelmann-Adepten, dem das Äußere, jawohl, das Klassizistische wichtiger war als das Innere. Er hatte nicht begriffen oder vielleicht eher: wollte nicht begreifen, daß das Ästhetikverständnis sich gewandelt hatte, daß der Begriff Schönheit seit Baumgarten nicht mehr auf die Form zu reduzieren, sondern differenzierter anzuwenden war. Er hat Musik so verstanden, wie er bereits als Jüngerer aussehen sollte: wie seine Totenmaske, innen hohl. Nichts floß da aus seinem Inneren! Aber vielleicht habe ich tatsächlich zu wenig Gehör. Ich empfinde Musik. Und Musik ist nunmal in erster Linie Gefühl. Ich lasse mich von Musik gerne wegtragen. Früher hat manch einer mich dafür ausgelacht. Es war mir anfänglich nicht immer wurscht, es hat mich durchaus verunsichert. Aber es änderte sich, als solche fachlichen Äußerungen auch von denjenigen kam, die den Kopf schüttelten, wenn ich Konzerte von Alexander von Schlippenbach besucht oder das Jazz Composer's Orchestra oder den gesamten Grieg, eben nicht nicht nur Ases Tod gehört habe. So etwas hielten die dann für «pervers». Es gibt anstrengend-schöne oder auch aufregend stille Perversitäten. Es ist wohl diese Aversion gegen einen Perfektionismus, der so lange am Niveau herumfeilt, bis es niveaulos geworden ist. Das sogenannt Perfekte dürfte mit der Grund sein dafür, daß ich unter anderem Bach nicht sonderlich mag. Es mag sein, daß ich den Meister nicht verstehe. Aber ich bin von dieser reformatorischen Unterwürfigkeit unangenehm berührt, bisweilen macht sie mich sogar aggressiv. Ich habe was gegen an die Kirchenpforte genagelte Musikthesen. Auch ist mir da zuviel gottesfürchtige Mathematik drinnen, in der heutigen Aufführungspraxis teilweise verlogener lutherischer Kniefall mit -schutz. Bei Glenn Gould überkommt mich dann gar ein technoides Frösteln. Ganz schlimm wird es für mich, wenn er zu den christlichen Festtagen radiodauergenudelt wird. Da lege ich wahrlich anspruchsloser Bequemling tatsächlich andere Musik auf als die angebotene. Aber auf jeden Fall keine Aufnahme mit Karajan als Takt- und Tempogeber. Doch da gibt es ohnehin nur noch Restbestände aus Zeiten, in denen ich mich des öfteren mal geirrt habe. Im Alter ist man ja glücklicherweise immun gegen Irrungen und Wirrungen. Sie lösen sich völlig unerhaben auf.
Tastetuden Die Freundschaft und der Zwist bis hin zum Bruch zwischen den beiden ist Legende: Nietzsche und Wagner. Der eine landete in der geistigen Umnachtung, der andere bekam mit einer musikalischen ein Denkmal gesetzt. «... ja», schrieb der später Umnachtete über den Umwaller, «er ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Charakter liebt vielmehr die großen Wände und die verwegene Wandmalerei! [...] Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben!»* Während beim Wagner-Viewing zur Zeit draußen die Massen schwitzen und drinnen die geistige Elite (Gottschalk, Köhler, Merkel) über die sittlichen Nährwerte grübelt, weise ich in nächtlicher Kühle darauf hin, daß Erstgenannter, bevor er uns philosophisch den Mores ausgetrieben, erst einmal ein paar zarte, maienlinde musikalische Sträußlein geflochten hatte. Sprechen lernte er nur mühsam und mit erheblicher Verzögerung. Doch wenn Papa Nietzsche sich ans Klavier setzte, war der kleine Fritz ganz Ohr. Das hatte Folgen: Der Philosoph als Kind begann, die klassischen und romantischen, gerne auch kirchenmusikalischen Komponisten am Flügel recht eigenwillig zu interpretieren und selber auch für Blatt und Instrument zu dichten. Er pries hienieden via Oratorium oder Choral ihn da oben, hinzu kamen seine gefühlsöffnenden Klavierkompositionen, denn es waren die Romantiker, bei denen er Anleihen nahm für die Vertonung seiner Gedichte. Sie gereichten heute jedem anfänglichen Zauber als klingender Unterfütterung des vor allem in Bekanntschaftsanzeigen gerne zitierten Gläschens Rotwein bei Kerzenlicht zur Eh(r)e — wie meist, wenn es um eine der meistangewandten, gerne auch bewußt gesetzten Mißinterpretationen in der Kulturgeschichte geht: um die der Romantik. Darum wissend, gepaart wohl mit der eigenen Widerborstigkeit, hat Nietzsche schon mal gezielt leicht zwischen die Tasten des gern gehörten reinen Wohlklangs hauend, sprich dissonant komponiert. 1880 hat der deutsche Meisterdenker es zu Rolandseck bei Bonn musikalisch strömen lassen. Und deshalb ging der Argentinier Jorge Zulueta (fast ein Jahrhundert später) als Pianist an diesen historischen Ort, um des Philosophen musikalische Aphorismen einzuspielen. Am Frankfurter Theater am Turm bediente Zulueta dann begleitend den Steinway. Er gab so Angela Dellert und Judy Roberts stimmlichen Halt für Nietzsches Lieder. Eindrucksvoll unterstreichen die beiden Platten das Bekenntnis des Dichter-Philosophen: Weshalb unsereins auf diese ollen Kamellen kommt? Anlaß ist der an sich ja großartige Akt des Beschenktwerdens. Doch da tun die Jungen dem Alten mal mit Hirn was Gutes, und nun schaut der Beschenkte dem Gaul auch noch ins Maul. Ohne Heimat heißt die CD mit dem Tenor Tjark Baumann, Holger Kuhmann an Klavier und Orgel und dem Rezitator Mathis Schrader, in der vergleichsweise bescheiden aufgeführt wird, was der famose Zulueta (unvergessen seine Collage La femme 100 têtes nach Max Ernst) so grandios interpretiert hat. Ohne Heimat kann man getrost dem Liebsten als Flüsterei aus dem KlassikRadio-Unterground vorspielen, vielleicht, um irgendetwas Fieses damit zu erreichen (neuere Untersuchungen ergaben, daß bei leichter klassischer Musik — was auch immer damit gemeint sein mag — der Kaufwille zu ungeahnten Höhen sich emporklimmt), oder aber der Angebeteten damit — laß' rote Rosen regnen — vermitteln, daß der letzte Sprung zur Seite nunmal aber wirklich nur der auf einen zukommenden Gefahr galt. Aber zum genauen Hinhören scheint diese Produktion ohnehin nicht unbedingt erdacht worden zu sein. Es mag (auch) daran liegen, daß unsereins weiblich-stimmliche Oberweiten gegenüber männlichen bevorzugt, die zunehmend tümelnde Interpretation der Romantik (gerade erst wieder im Volkssender WDR, von leuchtenden Moderatorinnenaugen glücklich unwidersprochen) eher ablehnt, da es in ihr nunmal messerscharf Denkende gegeben hat, die überdies sehr wohl virtuos die (Selbst-)Ironie betrieben. Und eines hat der (musikalische) Oberbanause auch festgestellt: Da mögen die alten Vinylischen auf dem Teller noch so kratzen und eiern, das Trio Dellert, Roberts und Zulueta gehen da kraftvoller und in den Nebentönen auch weniger (Nationalfarben?) tragend an das Thema. Vielleicht wäre der überstrapazierte Begriff Leidenschaft hier tatsächlich mal wieder anzuwenden, da Nietzsche sie in der Musik erkannt hat, und vielleicht auch wegen der Unbeschwertheit eines Latinos und dessen Begleiterinnen? Zumal Zulueta Nietzsche Fritz auch schon mal hat intonieren lassen: «So lach doch mal für Klavier». Nun denn, die Empfehlung: Wer die beiden Platten Klaviermusik und Lieder antiquarisch ergattern kann, sollte dies tun (PHL 8101 und 8103). Möglicherweise, um Nietzsche auf die Füße zu verhelfen (indem man seiner Musik zuhört und nicht nur den Klappentext liest). Nicht nur die musikalische Romantik steht bei dieser Gelegenheit gleich mit auf. * Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Molinari, München 1999, Bd. 6, S. 436 — 439; diese Ausgabe ist seitenidentisch mit der Ausgabe von 1980. Das hier hier kursiv gesetzte ist im Original (KSA) g e s p e r r t gedruckt. Klavierstücke von Nietzsche eingespielt hat auch Jan Leontsky
Tondichters Lautmaltag Seinetwegen habe ich mich schon des öfteren frozzeln lassen müssen, wegen dessen sogenannter Lautmalereien. Doch ich bin nunmal ein in der Romantik Verstrickter und Verhakelter; auch wenn einige mich davon befreien wollen, heißt das nicht, daß dieser Freiheit nicht doch unendliche Sehnsucht innewohnt. Und dann auch noch einer aus dem sogenannten Hohen Norden. Aber das versteht kein Mensch — und stecke er noch so tief drinnen in der von der Kunst kommenden Kunst —, der morgens um fünf nach drei toskanischen Flaschen Schubertiaden in der Endlosschleife braucht. Es reicht eben nicht aus, nur einmal Urlaub auf der Fähre nach Helsinki gemacht zu haben und dann im Schwerstzustand vom Kahn gefallen zu sein. Etwas mehr sollte man schon gesehen haben von diesem Land, dessen unvergleichlicher Natur Europäer nach Canada fahren, dessen (immer noch so unskandinavischen, also ungermanischen) Menschen, deren Sprache an sich bereits Gesang ist, deren Liebe zu ihrem (wohl überhaupt phantasiereichsten) Nationalepos, in dem es weniger um den Krawall und viel mehr um Singen und Gesang geht und von dem er Teile vertont hat: des Kalevala. Er ist der einzige Komponist, dessen Musik der alles andere als mit musikalischem Gehör ausgestattete Unsereiner in der Regel nach dem dritten Takt erkennt, oftmals bereits beim ersten Ton, dessen unvergleichliches Violinkonzert ihn, wie gerade erst am gestrigen Nachmittag im Autoradio in eine Starre versetzt, die aus der kurvenreichen Strecke durchs Moor eine kerzengerade zu den Sumpfgeistern werden lassen kann, dessen Symphonien Klänge ihn in andere (ihm bekannte) Gefilde tragen, dessen Tondichtungen ihn alles andere abschalten. Das schaffen andere nicht, nicht einmal romantische Franzosen. Vor einiger Zeit stellte ich nun glücklicherweise fest, daß es außer mir und Esa-Pekka Salonen offensichtlich noch andere Menschen gibt, die die Musik von Jean Sibelius gerne hören. Die Dame von Charming Quark hatte ihm zum 50. Todestag ein Ständchen geschrieben. Daraufhin hörte ich ausnahmsweise mal gerne viel NDR-Kultur — und klappte bei den boulevardesken Histörchen oder den musikalischen Vergleichen mit Edvard Grieg (ausnahmsweise durfte Ase mal nicht sterben!) einfach die Ohren runter. Oder schaltete das Kultursülzradio ab, denn schließlich verfüge ich über eine nicht ganz so kleine Sibelius-Plattensammlung. In ihr steht ein Dirigent ganz vornan, einer, den nicht nur dieser Klassik-Dudelsender nicht (mehr) zu kennen scheint: Sir John Barbirolli (der auch Mahler so interpretiert hat, wie unsereins ihn gerne hört). Christoph Schlüren schrieb 1999:
Im übrigen hat Christoph Schlüren 2000 mit Daniel Barenboim anläßlich dessen fünfzigjährigem Bühnenjubiläum ein Gespräch geführt, in dem der Dirigent und Pianist ungemein spannend über Musik-Interpretation und deren Geschichte erzählt; ins Netz gestellt von Klassik heute.
Lundi le 14 juillet 2008 Nicht, daß heute deshalb so ein besonders wichtiger Tag wäre, weil es sich um diesen Feiertag handelt. Nein, das vielleicht eher weniger. Aber er hat sich nunmal vor fünfzehn Jahren genau auf diesen Tag von uns verabschiedet. Also eher nicht so: Allons enfants de la Patrie, Le jour de gloire est arrivé! Contre nous de la tyrannie, L’étendard sanglant est levé.(2x) Entendez-vous dans les campagnes Mugir ces féroces soldats? Ils viennent jusque dans vos bras Egorger vos fils, vos compagnes. Refrain: Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, Marchons, marchons! Qu’un sang impur Abreuve nos sillons! (Auf, Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhms ist da. Gegen uns wurde der Tyrannei Blutiges Banner erhoben. (2 x) Hört Ihr auf den Feldern die grausamen Krieger brüllen? Sie kommen bis vor eure Arme, Eure Söhne, Eure Ehefrauen zu köpfen! Refrain: Zu den Waffen, Bürger! Formiert eure Bataillone, Vorwärts, marschieren wir! Damit unreines Blut unserer Äcker Furchen tränke!) Sondern lieber so: La Marseillaise
Ohrenschmalz Enzo Enzo und andere Demoiselles d’Avignon «Un baiser ou deux/serre-moi dans tes bras/une petite heure ou deux/et on remet ça/en état d’ivresse on s’carambole/on n’sait plus lire la boussole/un rien nous émeut/l’amour est un alcool/Un câlin pour la route/un dernier pour l’envol/et l’on se sent mieux/ l’amour est un alcool ...» L'amour est un alcool. Diese vertrackte, bei Enzo Enzo wie immer doppeldeutige Stück aus der CD Oui. Ein Gleichnis: Eingezwängt in Arme. Eine kleine Stunde oder zwei mit einem Kuß oder zwei. Der Rausch verursacht Carambolagen. Man verliert die Kontrolle über sich: Der Unverstand hat das Monopol. Aber man träumt. Liebe ist wie Alkohol. Und das Ganze geradezu als Barmusik geklimpert. Vielen ist diese Hinterlist zu leise. Ich lernte diese Frau mit den eindringlich schönen Augen und dem polnischen oder russischen Vater — die Presse ist sich nicht einig — und französischem Paß, wie sie so oft im Land häufig französischer wirken und wahrscheinlich auch sind als alle Pariserinnen, in Avignon kennen. Es gibt (nicht nur zum jährlichen sommerlichen Festival) am Ende der Einflug- oder auch Abflugschneise, wie man mag, am Cours Jean Jaurès einen besonderen Platz. Wenn man vom Zentrum Avignons kommt, der place de L’Horloge, kurz vor der Stadtmauer und dem dahinterliegenden Bahnhof für gemütlich Reisende liegt der gefährlichste Flecken in dieser mit richtigem Leben befüllten Kinogroßkulisse. Wie alle bösartigsten Schrecken dieser Welt gibt auch dieser sich in den Anfängen milde und sanft. Hier sind es die wenigstens auf vierzig bis fünfunddreißig Grad plus kühlenden Platanen, die gemütlich auf Höckerchen herumsitzenden oder in Liegen dösenden Menschen. Sie tun einem überhaupt nichts, stundenlang lassen sie einen mit Sanftmut und Engelsgeduld in ihren Ständen kramen und auf ihren Tischen wühlen. Nur wenn man eine Frage hat, schauen sie einen, wie überall im Land, direkt an und antworten höflich und zuvorkommend, aber auch diskret. Können sie nicht weiterhelfen, geschieht es, daß sie einen zwei oder drei Stände weiterschicken, weil die Kollegin oder der Kollege dort sicher etwas im Magasin hätten. Dort lernte ich sie kennen, meine verehrte Polen-Russin, und sie sollte mich teuer zu stehen kommen. Da ich sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, sie mich aber neugierig gemacht hatte, war ich zu einer näheren Anhörung gezwungen. Deshalb mußte ich ohne weitere Blicke die Rue de la République hinaufeilen zur durchgehend geöffneten FNAC (Fédération nationale d'achat des cadres), der wohl größten französischen Medien-Handelsgesellschaft, und mir eines dieser in den Neunzigern in Frankreich sündhaft teuren Elektrogeräte (die CD kosten auch um einiges mehr als beim rechtsrheinischen Nachbarn) kaufen. Ich wollte Enzo Enzo ja anhören, und dazu bedurfte es eines CD-Abspielgerätes. Und der junge Hüter dieser etwa zweitausend CD — meistens um ein vielfaches billiger als in den Plattenläden — hatte nichts dagegen, daß ich es benutzte. Neben Enzo Enzo begleiteten mich dann etwa weitere zehn gutaussehende und wunderschön singende Damen ins (Stamm-)Hotel zu Füßen des heiligen Gemäuers, in dem die Päpste es früher haben krachen lassen und es heutzutage auch schonmal Krach zwischen Publikum, Presse und Schauspielern gibt. Sie stürzten mich in einen Liebesrausch mit eindeutig katrigen Folgeerscheinungen. Am nächsten Tag ging ich nach dem Frühstück aus fünf riesigen Grand-Café, einem Schokoladenbrötchen und einer Packung Gitanes direkt dorthin (glücklicherweise packen die Händler am frühen Abend ihre Stände zusammen und fahren heim nach Aix-en-Provence, nach Arles oder Marseille). Und wieder nahm ich ein paar Damen mit aufs Zimmer, und, auf daß uns nicht langweilig werde, auch noch ein paar von diesen alten Büchern. Und einmal auch einen Mann, der uns zuhause dann ein bißchen was erzählt hat: Fernandel auf einer wahrlich herrlichen, uralten, aber sehr gepflegten Schallplatte, mit Briefe aus meiner Mühle von Alphonse Daudet. Aber es war insgesamt doch nicht weiter kostenträchtig, denn in Frankreich nahmen die fliegenden Händler schon Ende der achtziger Jahre Kreditkarten entgegen. Einige tauschten die Belege in den Ladengeschäften ein, die längst auf Elektronik umgestellt hatten. Meine mittlerweile beachtliche Sammlung an schönen und schön singenden Demoiselles d’Avignon, wie ich sie schubladisiert habe, löst immer wieder Erstaunen aus. Und ich kann mich nicht satthören an ihnen, an Axelle Red, Mylene Farmer, Jorane, diesem stimmlich vibrierenden Violoncello, an Carole Laure, an Jo Lemaire, an der zündelnden Nina Morato (L’allumeuse), an Maurane, der Überamme der Jüngeren, an Elisa Point, vereinzelt durchaus auch an der etwas sülzig-süßen, aber eben wunderschönen Véronique Rivière oder wer sonst noch. Ja, auch (in Maßen) an Nicole Croisille, auf jeden Fall aber Ann Gaytan mit ihrer grandiosen Hymne an Léo Ferré. Irgendwann habe ich in Marseille oben am Cours Julien, bei den Händlern der zweiten Verwertung vorm Archivgebäude, eine Nicole Croisille gesehen: rasend blond inmitten von lauter pechschwarzen Afrikanerinnen. black & blanche lautet der Titel der CD. Klar, da mußte sie mit zu mir nach Hause. Auch Ann Gaytan hatten sie zwischendrin mal fast vampisch abgelichtet. Ebenfalls brennend blond (die vierte Nationalfarbe). Wahrscheinlich haben sie gemerkt, daß sie auf ihrer Ferré-CD doch ein wenig arg bieder ausschaut. Egal. Ich mag sie. So oder so. Aber nur wegen eines neuen Bildes nehme ich eine Blondine nicht nochmal mit auf Zimmer. Ich habe sie photographisch als Hausfrau kennengelernt. Es bleibt dabei. Außerdem ist ja bekannt, was diese Hausfrauen aus durchorchestriertem Schmalz alles zubereiten können: Drogen. Ja, ich bin abhängig. Ich hänge am Ohrenschmalztropf. Und Enzo Enzo alias Körin Ternovtzeff — ach. Seit ich sie auch noch in Haut bas fragile von Jacques Rivette sah, begleitet sie mich sozusagen verstärkt, ständig im Auto, aber auch anderenorts. Sie ist immer bei mir und singt mir was in beide Ohren. Nein, ins Gemüt. Und von Copito de nieve de Barcelone kann ich ohnehin nie genug kriegen.
«When I am laid in Earth ...» Es muß die Zeit gewesen sein, als sich meine kindliche Opernschockstarre langsam löste und ich allenfalls das Gängige im Repertoire hatte. Als einer, der allmählich dazu übergegangen war, Klassik und Oper als Klangteppich über die Unbilden des Alltags zu hängen, saß ich mit einem Mal stocksteif, wie mit Elektroschock therapiert, als dieses Lied aus dem Radio kam. Das hatte ich noch nie gehört. Und schon gar nicht diese, solch eine Stimme. Dagegen war meine griechische Kindheitsmarter wahrlich eine parodontitische Kreissäge. «Remember me», sang dieses Wesen aus einer anderen Welt, «but ah! forget my Fate.» Dennoch geriet das Klangereignis in Vergessenheit. Ich war noch nicht so weit, wieder oder überhaupt gezielt Oper zu hören. Konzentriert zuhören war nur möglich beim Jazz, in den ich ich geflüchtet war: das Jazz Composer’s Orchestra oder Alexander von Schlippenbach waren mir musikalisches Mauseloch, auch das Chanson, das in Frankreich unter Variété zu finden ist. Dann sah ich mich eines Tages in einem Plattenladen einem faszinierenden Gesicht gegenüber. Und da es hin und wieder vorkam, daß ich eine Platte kaufte, weil mir die Interpretin so gut gefiel, nahm ich auch diese Vinyl-Scheibe mit. Zuhause legte ich sie auf meinen grauen Braunteller — und war dem Déjà-vu nahe. Nunja, zumindest meinte ich, diese Musik schonmal gehört zu haben. Sie behagte mir sehr, und ich setzte mich in den Sitzsack, um zu lauschen. Und mit einem Mal war es wieder da, dieses Faszinosum, und es sang: «When I am laid in Earth ...» Seither geschieht es immer wieder mal, daß ich den Klangteppich wegräume, alles verdunkle, mich in den zum Sessel gewandelten Sack setze, die Platte auflege und ihrem außerirdischen Gesang konzentriert zuhöre, den sie in aus Henry Purcells Dido and Aeneas (pdf) herauszaubert. Gestern abend war nach zweieinhalb Stunden Schlaf Ende. Das kommt vor, und das beste Wiedereinschlafsandmännchen heißt bei mir nunmal: Fernseher einschalten. Allein dafür steht er am Bett. Es funktioniert in der Regel: meist bin ich nach zehn Minuten wieder eingeschlafen. Aber gestern klappte es nicht. Dann da war es wieder, dieses Gesicht, das für mich als Synonym für Schönheit steht: eine Nase, wie sie Albert Uderzo bei seiner Cleopatra nicht hinbekommen hat, Lippen, bei der mir eine edle bretonische Erdbeerauster in mein Hirnkino fährt. Kein Alter Meister fiele mir ein, der diese Harmonie der Vielfalt auf die Leinwand bekäme: Intelligenz, Wärme, Sanftmut, Wachheit, Energie. Ich bin offensichtlich in den Anfang der Sendung hineingeraten. Denn rund vierzig Minuten durfte ich genießen, was dieser Sopran quasi als Vervollkommung seines Gesichtes äußerte. «Sie spricht mit dem österreichischen Künstler André Heller», heißt es bei arte, «über ihre künstlerische Laufbahn, ihre Ängste, Inspirationen, Freuden und Verstörungen sowie über die Schwierigkeiten, ein Star zu sein.» Ich hab's nun wirklich nicht mit Stars. Wer als solcher bezeichnet wird, dem kann es durchaus passieren, bei mir auf Mißachtung zu stoßen, und sei er noch so brillant (später entdecke ich ihn dann möglicherweise für mich ganz alleine). Und Pressetexte berauschen mich auch nicht gerade. Aber den von arte unterschreibe ich, unter anderem das von mir Gefettete: «Das Gedankenpanorama und die Bekenntnisse der charismatischen Künstlerin werden dramaturgisch immer wieder durchbrochen von Liedern und Arien.» Zum Schluß, das mußte sein: «When I am laid in Earth ...» Dem tat diese unsägliche Inszenierung zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution dann auch keinen Abbruch mehr. Ich verzeihe ihr, daß sie sich hat in eine aufgeblasene Tricolore hat stecken lassen. Sie hat sie für die Galerie hübsch gesungen, die Berlioz-Marseillaise. Kein Blutgesang mehr, nur noch Kunstpathos, wenn es auch ganz ohne Marschtritt nicht zu gehen schien. Die Sendung wird wiederholt, erzählt arte.
Karriereknickereien In Hans Pfitzingers tazblog heißt's: Bebopalula «Wenn jemand Hipp heißt, Klavier spielt, gut aussieht und sich im Musikgeschäft betätigt, kann eigentlich nichts schief gehen. Bei Jutta Hipp ging es allerdings schief, wie René Zipperlen in einem gut recherchierten und kenntnisreichen Artikel nachweist. Die Frau aus Leipzig (Spitzenfoto — supercool!), geboren 1925, war Mitte der fünfziger Jahre, die «First Lady of European Jazz», spielte in New York einige Alben für die renommierte Plattenfirma «Blue Note» ein und ging 1958 mit eigener Band auf Tournee durch die Südstaaten. Im selben Jahr hat sie den Pianodeckel zugeklappt und verschwand in der Versenkung. 2003, 45 Jahre später, ist sie in New York gestorben, da war sie 78. Im Jahr zuvor hatten die Leute von Blue Note die alte Frau im Stadtteil Queens ausfindig gemacht, weil sie ihr 40.000 Dollar Tantiemen nachzahlen wollten. Zipperlen schreibt mit viel Hintergrundwissen über die Jazz-Szene gegen Ende der fünfziger Jahre. Weshalb Jutta Hipp ihre Karriere beendet hat, weiß anscheinend keiner so genau ...» Schupinkil Erik Orsenna kennt diese Probleme offenbar. Er schreibt zu diesem Thema in Inselsommer:
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