Identitätssuche
Bier, Rosenkohl und dann Champagner Des Traumes zweiter Teil. Ich erwache. Ich bin angekommen. Ich bin ganz aufgedunsen von einem Jahr Bier und Rosenkohl. Was ist jetzt? Dasselbe Bild wieder. Eine riesige Menge Uniformen vor einem Bahnhof, aber diesmal mit arabischen Schriftzeichen. Auch die Uniformen sind alle schwarz. Ebenfalls die Doppelköpfe. Aber alle tragen Tücher um den Hals, die mit runenartigen Zeichen in SS-Manier versehen sind. Wieder ein General, der eine Frau ist. Die kenne ich aber nicht. Oder doch? Auch hier wieder diese Hundeleine. Mein Gott! Oder Güte? Nein. Dieses Mal ist es nicht mein lieber alter Vater. Es ist Naziza, die auf ihren ehemals so schönen zarten, aber nun völlig zerfetzten Pfoten steht und zittert. Meine Naziza! Mein wunderschöner lieber weicher zarter Bauch. Die Generalin ist ihre Mutter. Mon Générale Marietta Taline el Fatah Al Arfaoui. Ich kenne sie also doch. Mütter sind die Hölle. Mir wird verkündet, daß ich meine Strafe in der Einzimmerwohnung sofort anzutreten habe. Alle Rechte sind mir aberkannt. Auch meinen Hund darf ich nicht sehen. Als Lektüre ist nur der von den Islamisten überarbeitete Koran zugelassen. Jede Zuwiderhandlung wird mit einem weiteren Jahr Unsterblichkeit bestraft. Ich erwache erneut. Ich befinde mich allerdings nicht auf einem Strohlager in einer armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Einzimmerwohnung, sondern auf dem Schreibtisch eines schlichten, aber peinlich sauberen Büros. Schon wieder höre ich eine Menschenmenge. Aber sie skandiert nicht irgendwelche bösartigen Parolen gegen mich. Doch wieder höre ich Risacher. Allerdings nicht Dietrich Risacher und auch nicht in harter deutscher Prononcion. Sie rufen fröhlich lachend und sehr französisch: Di-dier. Di-dier. Didier Risacher! Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe ans Fenster. Offensichtlich befinde ich mich in der Préfecture von Marseille. Über den Köpfen der ausgelassen herumhüpfenden und Champagnerflaschen schwenkenden Gruppe von Menschen hängt ebenfalls ein Transparent. Darauf steht in Kinderkrakelschrift: Bienvenu à patrie! Papa! Die Tür öffnet sich. Herein kommen drei Hähne. Naziza würde sagen — drei coq d'gaulois, denn sie sind eingewickelt in jeweils eine Tricolore. Jeder dieser drei Kapaune trägt etwas sehr feierlich auf je einem Samtkissen. Sie bauen sich mit einer synchronen Verbeugung vor mir auf. Es sieht recht komisch aus und nicht nach einer neuerlichen Höchststrafe auf die Höchststrafe. Der eine macht einen Schritt nach vorne. Er nimmt eine Urkunde vom Samtkissen und liest vor: Aufgrund eines Erlasses des Kaisers der welt- und wertfreien Stadt Marseille — Sa Majesté l'empereur Bernard Tapie! — verbunden mit dem Ableben von General Philomène Risacher verkündigen — ja, verkündigen steht da — wir hiermit Ihre Begnadigung. Sie dürfen ab sofort wieder sterben. Einher mit dieser Begnadigung geht die der Calypso Naziza Risacher geborene Al Arfaoui. Auch sie darf sterblich werden. Er tritt zurück ins Glied. Der Mittlere tritt vor. Hiermit verleihen wir Ihnen die Ehrenstaatsbürgerschaft der welt- und wertfreien Stadt Marseille. Da die weltfreie Stadt Marseille die Grenzen zu Frankreich respektiert, dürfen Sie visumfrei überall hin und uneingeschränkt reisen. Er überreicht mir einen Paß, der dem französischen täuschend ähnlich sieht. Er tritt zurück ins Glied. Der Dritte macht einen Schritt nach vorne. Erst jetzt sehe ich, was auf seinem Samtkissen liegt — es ist ein Ei. Es ist das Ei der Naziza! Ich bekomme es ehrenhalber lebenslang verliehen. Es ist allerdings nicht übertragbar. Nur ich darf es befruchten. Die Drei entfernen sich aus dem Raum, lassen jedoch die Tür geöffnet. Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß ich frei bin. Also verlasse ich das Büro und gehe nach unten. Es ist tatsächlich die Préfecture meiner Heimatstadt Marseille. Links neben dem Ein- beziehungsweise Ausgang steht ein Zeitungsständer mit La Provence. Ich schaue darauf und sehe das Datum. Flüchtig nur, denn die Menschen, die mir zugewunken haben, laufen auf mich zu. Es ist August 1998, soviel kann ich gerade noch lesen. Dann bin ich umringt. Alle umfassen mich und küssen mich und herzen mich. Als ich wieder einigermaßen durchatmen kann, sehe ich ein paar Schritte zurück Naziza stehen. Sie sieht zauberhaft aus in ihrem leichten, weißgepunkteten dunkelblauen Sommerkleid. Sie hat eine Leine in der Hand. Mir fährt der Schrecken durch alle Glieder und in alle Poren. Nein. Lieber Himmel nein! Doch dann sehe ich, daß es keine Leine ist. Es ist eine Schnur, die zu einem Luftballon führt. Aber dazwischen befindet sich ein Kinderhändchen. Und zu diesem Händchen gehört ein Traum von einem kleinen Mädchen in einem Kleidchen aus exakt demselben Stoff wie dem von Mamans Kleid. Das Gesicht ist mit dem der Maman nahzu identisch. Die Augen sind allerdings blau. Na ja — immerhin dunkelblau, eher ein bißchen ins Schwarze gehend. Und in dem Lockenkopf blitzen ein paar fast rötlich-blonde Strähnen auf. Die Kleine schaut mich ganz erwartungsvoll an. Ich schaue lächelnd zurück. Auf einmal reißt sie sich von Mamans Hand los und rennt auf mich zu. Ich komme fast nicht schnell genug hinunter, um ihr meinem Hals zu bieten. Sie ruft laut und vernehmlich: Bienvenu Papa! Ich bin also doch noch angekommen. Wie sie heiße, frage ich sie. Mit schüchternem, aber auch ein wenig traurigem Lächeln antwortet sie mir, das sei aber sehr schade, daß ich nicht wisse, daß sie Amphitrite-Calypso heiße. Aber natürlich wisse ich das. Ich habe sie nur auf die Probe stellen wollen nach einer so langen Abwesenheit. Ich nehme sie auf den Arm. Aber was mache ich denn jetzt mit dem Ei? Ich werde mich wohl mit Naziza beraten müssen. Sie kommt nun ebenfalls auch mich zu und legt sich einmal rund um mich herum. Wie sie das eben so macht und wie nur sie das kann. Sie flüstert mir ihr Glück ins Ohr. Auf einmal stehen sie alle in Reih und Glied vor mir, nein, eher recht unsortiert, sozusagen entmilitarisiert. Sie bedeuten mir, ich möge ihnen doch bitte verzeihen. Nie wieder würden sie mich bedrängen. Und ich möge doch nun bitte, obwohl ich ja alle erdenklichen Reisefreiheiten hätte, endlich zuhause bleiben. Sie kämen auch nur ab und zu vorbei und würden sich nie wieder in unsere Angelegenheiten mischen. Aber ich möge doch endlich wieder zur Familie gehören. Dort sei mein Platz. Sie hätten ihre Lektion gelernt. Naziza habe ihnen auch beigebracht, daß ein Mensch auch mal alleine sein müsse. Ich nicke. Dann macht es Plopp. Es gibt herrlich leicht kellermuffeligen Champagner. So, wie ich ihn liebe — nach altem Wein schmeckend. Nicht dieses staubende Zeugs, das die Deutschen so lieben, weil ihnen ein für Deutsche zuständiger französischer Händler gesagt hat, daß dies trockener Champagner sei. Ich frage alle, ob das der Ort sei, wo ich meine Staatsbürgerschaft beantragt habe. Mit ziemlichem Durcheinander wird es bejaht. Nun kommt auch noch mein schwarzer Leibgardist angerannt. Mein Güte — wie ich mich freue. Und es ist schier unglaublich, was dieses nahezu ausnahmslos aus Muskeln und Sehnen bestehende riesige Kraftpaket für eine Zärtlichkeit in eine Umarmung geben kann. Heute, sagt er mir, wie immer lachend, müsse er mich ausnahmsweise nicht retten. Naziza habe ihn vertreten. Ich schaue mich sehr erfreut um und erkenne tatsächlich den Ort wieder, wo ich Franzose werden sollte. Als Mitglied einer armenisch-persisch-arabisch-afrikanisch- und ein auch klein wenig französischen Familie. Ich erwache. Ich höre leichtes Rauschen. Ich schaue hinaus aus dem Güterwaggon. Verflucht. Schon wieder unterwegs. Ich wollte und sollte doch nicht mehr reisen! Ich sehe ein Hinweisschild. Es ist französisch beschrieben. Darauf steht: Bollène 5. Moment mal. Hier kommt man doch zum Heiligen Berg des Dichters, zum Mont Ventoux des Francesco Petrarca. Eine frühe Zufahrt, ein Stück weit vor Cavaillon, wo er gelebt, oder Fontaine de Vaucluse, wo er im Gärtchen seine Canzoniere geschrieben hat. Dann merke ich, daß ich mich auch nicht in einem Güterwaggon befinde. Ich sitze, mit leicht verdrehten Gliedern, in einem Döschwoh. Und neben mir sitzt die schöne Frau, die mir soeben diese entzückende Amphitrite-Calypso geschenkt hat. Ouf. So hart habe ich schon lange nicht mehr gearbeitet im Schlaf. Ich gebe einen Laut von mir, der bedeuten könnte, wieder unter den Sterblichen zu sein. Die Photographie der Préfecture in Marseille stammt von Vladimir I U L und steht unter CC.
Kein schöner Zug Mich hat mal wieder geträumt. Ich erwache. Ich höre das Rattern von Rädern. Es sind Bahnräder. Seit wann fahren Döschwoh auf Schienen? Lustig. Nein. Seltsam. Ich schaue hinaus. Ich will hinausschauen. Doch da. Da ist ein Spalt, durch den ich etwas sehen kann. Er klafft zwischen den Brettern des uralten Güterwagens. Er reicht für einen Blick. Schön. Ich sehe den Bahnhof von Valence. Großartig. Doch draußen ist diffuses Licht. Es wird die Morgendämmerung sein. Aber wo fährt der denn hin! Ich will nicht in den Osten! Auf dem Wegweiser steht in kyrillischer Schrift ein Ortsname. Es hat im Süden diese Schrift nicht zu geben, ein klares Nein zu den von Joseph Roth ersehnten Wäldern im Licht der Provence. Ich will das nicht. Aber Marseille ist doch griechisch. Es ist beruhigend. Doch es ist Kyrilliza! Es ist russische Schrift. Was steht da? Unsinn. Ich kann doch keine kyrillische Schrift lesen, schon gar keine russische. Aber ich kann sie lesen. Das Rattern des runden Eisens auf den Geleisen wird immer heftiger. Nein. Ich lese nicht. Ich höre. Es wird meine Französisch-CD-ROM sein. Doch nicht. Die Räder lesen es mir vor, rhythmisch, immer lauter. Stakkatohaft. Le-nin. Le-nin. Le-nin-grad. Wie der Mob, der skandiert. Was soll ich in Leningrad? Dort ist es kalt. Als Kind habe ich da schon jämmerlich gefroren. Ich will in meine Höhle, in meinen weichen Leib. Ich muß das Ei mit sonnigem Meeresschaum füttern. Und nun fahre ich auf Schienen nach Norden, gar in östlicher Richtung. Dafür habe ich keine Zeit! Im Süden liegen meine Aufgaben. Ich sehe an der Waggonwand einen Zettel kleben. Was steht darauf geschrieben? Über Krakau. Nach Leningrad. Nun faucht die Dampflokomotive. Swerd-Lowsk. Swerd-Lowsk. Swerdlowsk. Um des lieben Himmels willen. Der Tate ist doch schon ewig tot! Ich will nicht in die Vergangenheit. Mir reicht die jüngste. Ich muß zurück in die Zukunft! Gottseidank. Gott? Richtig, Naziza hat ja einen. Er soll ja jetzt auch für mich zuständig sein. Ich höre Bremsen quietschen. Gleich wird der Güterzug umdrehen und seine Fracht in die andere Richtung befördern. Es war sicher mal wieder ein Fehler in der Software. Hier am Ural, kurz vor Asien sind sie noch nicht so weit. Und für deutsche Weichware haben sie kein Geld. Auch bringen die Deutschen anderes Material. Sie bringen mich. Wie? Mich? Mit kreischenden Rädern kommt der Zug zum Stehen. Wieder höre ich das Skandieren. Ein Pulk von Menschen. Er grölt paukenschlagartig meinen Namen. Ri-sa-cher! Ri-sa-cher! Die-te-rich. Die-te-rich Ri-sa-cher! Es klingt nicht sehr freundlich. Sie rufen es sehr deutsch. Die Tür des Güterwagens wird aufgeschoben. Oh Schreck. Da stehen hunderte Uniformierte. Sie sind schwarz. Die Uniformen. Die Köpfe sind alle hellblond. Semmelblond, wie der Bayer sagt. Obwohl es Semmelblonde eigentlich eher in Friesland gibt. Und da gibt's keine Semmeln. Die strohblonden Köpfe sind alle — auf allen Körpern befinden sich zwei dieser Köpfe. Vor dieser Menschenmenge steht jemand, der aussieht wie ein Heerführer. Ein verheerender Führer. So groß. Sehr blond. Sehr blauäugig. Nein. Das kann man bei diesem Gesicht wirklich nicht sagen. Wie eben gerade gelöschter Stahl. Da ist fast noch Glut drinnen. Es ist die einzige Uniform, die nur einen Kopf trägt. Und es ist eine französische Uniform. Die rechte Hand der Uniform hält eine Leine, die zu einem Hundehalsband führt. Es ist kein Hund. Es ist mein lieber alter Grigorije. Mein alter lieber Vater. Auf allen Vieren. Seine Hände-Füße sind ganz schrundig. Um Himmels willen. Dann kann es sich nur — mein Blick wandert auf der Leine zurück zur Uniform, zurück zur Hand, den Arm hinauf, zur Schulter. Dort befindet sich ein französisches Generalszeichen aus dem ersten Weltkrieg. Mein Blick tastet sich ganz vorsichtig weiter, erst zum Hals. Ein schlanker Hals. Hätte ich nicht ein sehr ungutes Gefühl, ich würde sagen, es ist ein schöner Hals. Es könnte ein Frauenhals sein. Ein Frauenhals in einer französischen Generalsuniform aus dem ersten Weltkrieg? Das geht doch nicht. Träume ich? Nein. Ich träume nicht. Es ist Mon Générale Philomène Risacher. Das Gesicht lächelt. Ach ja. Das kenne ich. Wenn dieses Gesicht lächelt, steht mir nicht Gutes bevor. Vermutlich muß ich mal wieder drei Monate am Stück reisen. Wenn ich Glück habe. Andere kriegen einen Tag Hausarrest, wenn sie nicht artig waren. Ich werde auf Reisen geschickt. Es ist die perfideste Strafe für ein Kind überhaupt. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Allerdings weiß ich mal wieder nicht, was ich ausgefressen habe. Irgendwas wird es schon sein. Mon Générale hat noch immer was gefunden. Vermutlich habe ich mal wieder ein Eselsohr in eine Buchseite gemacht. Es wird mir beim Einschlafen auf der sonntäglichen Chaiselonge hinuntergefallen sein. Das darf nicht passieren. Mit Französischvokabeln geht man so nicht um. Und dann ist es wohl überhaupt auf den Innenseiten zum Liegen gekommen. Das verheißt Höchststrafe. Ein halbes Jahr Reisen. Meistens in Hotels. Die Reise hierher war wohl erst der Anfang. Na ja, dann muß ich wenigstens nicht Klavierüben. Was auch immer. Ich werde es schon noch erfahren. Mit Erstaunen stelle ich fest, daß sich außer mir niemand in dem scheinbar endlos langen Zug befand. Ich bin der einzige Deportierte. Bin ich das? Der Zeigefinger des Generals winkt mich mit langsamen, zwingenden Bewegungen heran. Angekommen, werde ich vom Pulk der zweiköpfigen, aber gesichtslosen Uniformen eingekreist. Eingeschlossen. Fast lautlos, aber für diese Masse offensichtlich unüberhörbar, marschieren wir los. Ich kann nicht marschieren und gerate sofort außer Tritt. Cela donne séparément, zischt mir die Generalsstimme zu. Ah ja, Extraportion. Wir kommen im völlig heruntergekommenen Bahnhofsgebäude an. Ein mehr als ungemütlicher Saal. Doch Bahnhofsgebäude kurz vor Sibierien waren noch nie angenehm. Ich kenne das von unseren Reisen mit dem General und unserem Hund Grigorije. Es ist also nichts neues. In der Mitte des Raumes steht ein äußerst gepflegter Rennaissance-Schreibtisch und dahinter ein filigraner Rosenholzschrank mit Büchern darin. Es sind Gesetzeswerke. Auf allen Rücken steht: Du sollst nicht! Darüber ist ein Transparent gespannt. Darauf steht geschrieben: Tribunal gegen Dietrich Risacher! Die Masse Uniform ordnet sich im Halbkreis hinter dem Schreibtisch an. Alle setzen sich auf den Fußboden. Auch ich will mich setzen. Es knallt eine Peitsche. Sie peitscht: Stehen! Ich schlafe ein. Die lange Reise hat mich müde gemacht. Ich schlafe im Stehen. Ich träume. Ich träume vom weichen Bauch, in dem wir zu Millionen spielen. Es ist ein sehr schöner Traum. Alles ist warm und weich und so schön glitschig. Manchmal hüpfen wir ein bißchen. Es ist immer so, wenn sie lacht, weil wir sie so kitzeln. Ich bekomme auf diese Weise nichts mit von der Gerichtsverhandlung gegen mich wegen böswilligen Verlassens einer mir zugewiesenen Staatsangehörigkeit. Es handelt sich um einen besonders schweren Fall von Pflichtverletzung. Er bedingt von vornherein eine höhere Höchststrafe. Also ein Jahr reisen. Aber fast habe ich mich an diese Strafen gewöhnt. Es wundert mich, daß es so glimpflich abgehen wird. Ich höre den Urteilsspruch des obersten Volksrichters des elsässischen und lothringischen Weltreiches mit Sitz in Saverne, Philomène Risacher: Sie erhalten wegen der Schwere des Verbrechens Strafverschärfung. Wir verurteilen Sie hiermit zur verschärften Haft in einer unreinrassigen armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Familie. Na ja. Frau General hat ja noch nie durchgeblickt. Sie begreift einfach nicht, daß Menschen sich verändern. Daß es überhaupt Menschen gibt. Doch jetzt kommt die Verschärfung. Die Todestrafe wird Ihnen genommen. Sie dürfen nicht mehr sterben. Ich verurteile Sie zu überlebenslanger Haft in der Einzimmerwohnung einer unreinrassigen armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Familie. Sie dürfen sie nie verlassen. Ohne Genehmigung der dortigen Kommandatur dürfen Sie überhaupt nichts tun. Die Reise ist sofort anzutreten. Sie dauert ein Jahr. Habe ich mir doch gedacht. Ich kenn' die doch. Sie führt über Grönland und die Arktis. Das Reisefahrzeug ist der Güterwaggon in dem Güterzug, mit dem Sie hierhergefahren sind. Ihre Verpflegung besteht aus Bier und Rosenkohl. Das ist schon hart. Doch ich werde mich wohl in mein Schicksal fügen müssen. Adieu mein schöner warmer weicher Bauch. Er setzt sich fort, der Traum, ich kenn mich doch. Nach dem Wiedereinschlafen geht's weiter. Der zweite Teil
Tagmahr Vor etwa einer Stunde bin ich aufgewacht von einem Nickerchen, geweckt von schrecklichen Erinnerungen an einen 2005 gestorbenen Kollegen, der zu allen erdenklichen Verabredungen grundsätzlich zu spät kam, auch schon mal zwei Stunden. Heute, im Traum, habe ich von früh neun Uhr bis abends um sieben auf ihn gewartet, um dann zu erfahren, daß er es den anderen gesagt hätte, er würde später kommen. Die wußten jedoch von nichts. Ebenso erfuhr ich, daß ich anschließend, entgegen aller Ansprachen, doch noch und die ganze Nacht lang zur Unterhaltung anderer auf der Bühne stehen müsse (dabei kann ich überhaupt nicht singen), auch noch in einer dachlosen Ruine. Ablehnung meinerseits, schließlich gäbe es ja Vereinbarungen. Worauf mal eben ein anderer engagiert wurde. Der aber dann nie in Erscheinung trat. Und ich dennoch stundenlang wie gefesselt sitzenblieb, aber niemand von allen anderen anwesenden fröhlich Feiernden auch nur Anstalten machte, sich mit mir zu beschäftigen, mit mir zu sprechen. Ich aber saß da und konnte mich nicht fortbewegen. Und nicht eine Elfe in der Nähe. Nur Männer. Alptraum eben. Im Traum habe ich mich dann gezwungen aufzuwachen, um den Ort verlassen zu können. Schlimme «Erinnerungen»? Wenn ich richtig informiert bin, hätte der alte Freud seine Freud daran gehabt. Welch eine Kraft spinnt einem so etwas ins wehrlose Hirn?! Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich davon erholt hatte. Nein, ein wenig spukt es noch immer in meinen Ganglien herum. Aber eigentlich wollte ich ja was anderes mitteilen, daß ich auf etwas Komisches gestoßen bin, bei Lanu.
Austernschaumbad Ich träume. Ich befinde mich in einem Konzert in Paris. Nein, es ist im Kino. Es ist ein Konzert in einem Film. Nein, ich sitze im Film. Es ist Haut bas fragile von Jacques Rivette. Ich bin Darsteller. Es ist mir peinlich. Zwar wollte ich schon immer wieder mal Schauspieler sein, hatte auch zweimal die Gelegenheit dazu bekommen, diesem Trieb zu folgen: Hier, schaut, ich bin da, ihr dürft mich lieben, denn wer berühmt ist, hat eben geliebt zu werden. Aber es hagelte im Anschluß daran nicht eben Angebote. Man liebte mich offenbar nicht sonderlich. Doch nun sitze ich da. Eine kleine Rolle nur mal wieder, aber immerhin. Die Rolle vergrößert sich enorm, als die Chanteuse von der Bühne herabkommt und direkt auf mich zusteuert. Doch es ist Patricia Kaas, die zusätzlich aufblondierte, eitel glänzende, affektierte Pariser Landpomeranze aus der Randlorraine, die wunderbare Lieder singt. Dafür mag ich sie und kaufe ihre Platten, ihre CD. Doch daß sie mich so direkt einbezieht in ihr Singspiel, das müßte nun wirklich nicht sein. Sie setzt sich auch noch neben mich auf den einzigen freien Stuhl im Saal und legt das Mikrophon auf den Fußboden. Sie schmiegt sich an mich. Es ist mir sehr unangenehm, denn ich bin eher schüchtern veranlagt, auch wenn es selten sichtbar wird. Außerdem muß ich an meine Frau denken, die gerade zuhause zusammen mit den Freunden Marius und Jeannette, deren Vater Robert Guédiguian und unseren Kindern Mirjam und Aaron in l’Estaque vor dem schönen kleinen Schachtelhäuschen sitzt und darauf wartet, daß ich vom Meer zurückkomme und ein Schiff voller Austern mitbringe, die wir immer in die Badewanne kippen und diese dann mit einem hundertfünfzig Jahre alten Champagner auffüllen. Wenn die Austern sich völlig aufgelöst haben und zu reinem Schaum geworden sind, steigen sie alle fröhlich zusammen hinein und sind damit wieder glücklich für ein paar Monate sterblich und dürfen wieder etwas altern. Aber ich bin mit dem Schiff vom Hafen aus direkt ins Olympia und in diesen Film gefahren, habe die quälende Unsterblichkeit meiner Lieben wegen meiner schnöden Lust auf singende Frauen einfach ignoriert. Hoffentlich gibt es diesen Film nicht heute abend im Fernsehen. Ich bin ja nicht da. Sie werden sich sicher alle zusammen vor den Fernseher setzen und weiter auf mich warten, gar in Angst um mich und vielleicht auch ein bißchen um sich. Es ist sicher nicht angenehm, unsterblich zu sein. Ich spüre warmen Atem an meinem Ohr. Doch wegzurücken getraue mich nicht. Es wäre auch nicht mehr viel Platz. Denn meine derben Seefahrerkollegen sitzen alle dicht gedrängt und schauen zu, mit hämischem Grinsen im Gesicht. Ich drehe den Kopf leicht, um zu sagen, daß sie doch besser ins Mikrophon als in mein Ohr sänge, das seit der Sirenen Gesänge sehr empfindlich sei. Da sehe ich, daß es Enzo Enzo ist, die wunderschöne polnische oder russische Französin aus Paris. Das ist mir schon sehr viel angenehmer. Auch grinsen die Kollegen jetzt eher giftig, neidisch. Dennoch muß ich an meine Frau denken, die ich sehr liebe und die Calypso heißt. Ich habe mein Floß nach ihr genannt. Sie liebt mich nicht nur, weil ich ihr manchmal ein Schiff voll köstlicher Sterblichkeit bringe, sondern auch meinetwegen. Ich bin jedenfalls fast sicher. Aber gut, wenn Enzo Enzo schon singt, dann will ich mich meinem Schicksal gerne fügen. Doch sie singt ein Lied von Patricia Kaas, und die Stimme ist die meiner Frau. Die aber doch gar nicht singen kann! Stimmt das denn tatsächlich? Denn ein bißchen Ähnlichkeit hat sie ja auch mit jener Julie Driscoll, die ich 1969 in der Aula der Heidelberger Universität bestaunt habe und ich eifersüchtig war auf Brian Auger. Und nicht nur wegen ihrer Stimme. Aber nein. Vermutlich sind's lediglich die kurzen Haare, die den Eindruck erwecken. Denn dieses Gesicht hier ist weitaus feiner ziseliert. Auch röhrt hier kein Rock-Organ. Auch wenn es noch so beeindruckend war damals. Hier schwebt, flirrt, summt, säuselt, atmen die filigranen Stimmbänder einer Chansonnière vom Reinsten. «Pépère tellement pépère/Pas pressé d’arriver/Se laisser la rivière/Gentiment déborder/Nager c’est magnifique/Même s’il y a qu’l’océan/Qui reste pacifique/Et pas pour très longtemps.//Reste sur moi/Que je respire avec toi /Reste sur moi/Que je respire avec joie.» * Ich schlafe wieder ein. Direkt neben mir sitzt Charles Baudelaire und flüstert mir sonor ins Ohr: «La très-chére était nune, et, connaissant mon cœur, Elle n’avait gardé que ses bijoux sonores, Dont le riche attirail lai donnait l’air vainqueur Qu’ont dans leurs jours heureux les esclaves des Mores.» Ich sage dem Dichter, ich genösse es. Aber mein Französisch sei so médiocre. Er lächelt, wartet ein wenig, bis die Brise über mich hinweggesäuselt ist, und spricht mit warmem Akzent: «Die Liebste war nackt, und da sie mein Herz kannte, hatte sie nur ihr klingendes Geschmeide anbehalten, dessen reicher Zierrat ihr jene Siegesmiene gab, wie sie an frohen Tagen die Sklavinnen der Mauren schmückt.» Oh! Monsieur Baudelaire — Sie haben meiner Maurin ein Gedicht auf den Leib geschrieben. Ich danke Ihnen. «Halten Sie in sich! Monsieur», raunt er mir zu. «Sie hat noch Strophen auf dem Leib.» «Et son bras et sa jambe, et sa cuisse et ses reins Polis comme de l’huile, onduleux comme un cygne, Passaient devant mes yeux clairvoyants et sereins; Et son ventre et ses seins, ces grappes de ma vigne ...» Ach, Herr Baudelaire. Es ist wunderschön. Es ist Musik. Aber Sie wissen doch — mein Französisch. «Attention, Monsieur Didier. Écouter attentivement! Je te donne ...» Ach. Du meine Güte. Ich höre meinen Gott des Liedes auf mich zukommen. Baudelaire hat an Léo Ferré übergeben. Er singt, ja, er singt in seinem köstlichen Deutsch, das fast schon wieder französisch klingt, für mich — Baudelaire: «Ihr Arm, ihr Bein, ihr Schenkel, ihre Lenden, blank wie Öl und wellenhaft sich biegend wie ein Schwan, deutlich zogen sie vor meinem ruhigoffnen Blick vorüber; ihr Bauch und ihre Brüste, diese Trauben meines Weinbergs,» Wie 1976 im Théâtre du Chêne Noir zur Coriolan-Ouverture folgt dem Schmettern des Donnerdeutschen durch das fast verdoppelte Orchestre symphonique d'Avignon der multiple Ferrésche Liebesklang. Non! Excusez-moi, Monsieur Baudelaire! Es sind ja Sie, der sirrt! Sie haben sich nur seine Stimme ausgeliehen. Wie eben in diesem je te donne säuselt es, doch es ist die Kraft eines Apollinaire mit seinem Chanson du Mal-Aimé. «S’avançaient, plus câlins que les Anges du mal, Pour treubler le repos où mon âme était mise, Et paur la déranger du rocher de cristal Où, calme et solitaire, elle s’était assise. Schoben, schmeichelhafter als des Bösen Engel, sich näher, um meine Seele aufzuscheuchen aus ihrer Ruhe und sie herabzulocken von dem kristallnen Felsen, den sie in ungestörter Einsamkeit zu ihrem Sitz erkoren. — Et la lampe s’étant résignée à mourir, Comme le yoyer seul illuminait la chambre, Chaque fois qi’il poussait un flamboyant soupir Il inondait de sang cette peau couleur d’ambre! — Und als die Lampe dann verlöschend hinstarb, erhellte der Kamin allein noch das Gemach; so oft er auflodernd einen Seufzer schickte, überschwemmte er diese Ambrahaut mit Blut.» Des Weinbergs Lüftchen rauscht in meinem Ohr. Ich erwache. Ich höre ein Klopfen. Ist es mein Herz? Erwache ich? An meinem Hals liegt der Maurin Bernsteinmund. Er murmelt an ihn hin. «Bonjour Monsieur. Contrôle de police. Contrôle d'identité. Votre passeport et votre permis de conduire s'il vous plaît.» *«Ruhig, ganz ruhig/Es nicht eilig haben, anzukommen/Den Fluß ganz langsam/übertreten lassen/Schwimmen, das ist herrlich/auch wenn nur/das Meer friedlich bleibt /Und das nicht für sehr lange Zeit.// Bleibe auf mir/damit ich mit dir atme/Bleibe auf mir/damit ich mit dir Freude atme.» (Patricia Kaas: Reste sur moi, Begleitheft zur CD je te dis vous, Sony France, 1993) Quellen und Zitate: Léo Ferré: Coriolan-Ouverture von Ludwig van Beethoven, auf LP: Je te donne, Barclay, Paris 1976 Léo Ferré chante et dirigé: La Chanson du Mal-Aimé de Guillaume Apollinaire, Barclay, Paris 1972 Charles Baudelaire: Les Bijoux — Die Geschmeide, Les Épaves (1866), in: Les Fleurs du Mal — Die Blumen des Bösen, zweisprachige Ausgabe, aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Fischer TB, Frankfurt am Main 1962/1971; Original: Les Fleurs du Mal, Édition de 1861, Texte présenté, établi et annoté par Claude Pichois, Deuxième Édition Revue, Éditions Gallimard, Paris 1972 et 1996, p 195
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