Flucht nach innen

oder Die Suche nach der geistigen Gesundheit*
«Die grundsätzliche Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist die Abwehr der Bedrohung der persönlichen Freiheit und Würde des Menschen. Diese Bedrohung ergibt sich zunächst aus der Verelendung der Massen, aus der Herrschaft der Technik über den Menschen, die durch die Verödung der geistigen und seelischen Kräfte eingetreten ist, aus der Umwandlung des Rechtes auf Arbeit in Arbeitszwang und Zwangsarbeit, aus der Übersteigerung des Staates zur Totalität der Lebensregelung und damit zum polizeistaatlichen Terror, zur Diktatur einer frechgewordenen Bürokratie, zum Untergang des Rechtsstaates und zum Triumph der Macht-vor-Recht-Einstellung gegenüber den Menschen, damit letzten Endes zur Vermassung der Arbeitenden und schaffenden Menschen.»
Hans-Christoph Seebohm, damaliger Abgeordneter der Deutschen Partei, in der 3. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 9. September 1948.

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Zuspielung (O[riginal]-Ton) 1: (Eckankar)
Mann: «Ich habe also einen ganz weltlichen Beruf, der also im Wirtschaftsleben fundiert ist, habe eine Familie, ich bin also ganz normal. Ich bin auch nicht in psychatrischer Behandlung. Mich interessiert es, kann ich ruhig zugeben, vom Intellekt her. Warum die Leute suchen? Da muß schon etwas da sein, es hat schon seinen Grund. Wir können einfach mit der Kirche nichts mehr anfangen, es fehlt ihnen der innere Halt, der früher dagewesen ist.»

Die Menschheit steckt in der Krise. Die Feststellung ist nicht neu, und falls noch jemand daran zweifeln sollte, dem wird es von geschäftstüchtigen Autoren und Therapeuten täglich aufs neue eingehämmert. Das Leben wird hingestellt als Abfolge von persönlichen Krisen, zu deren Überwindung zumindest der Erwerb des Buches von Autor X notwendig ist, besser noch die Teilnahme an der neu entwickelten Therapie des Doktor Y. Ehepaare geraten in Krisen, wer allein lebt, ist sowieso krisenanfällig, Gruppen und Wohngemeinschaften entkommen ihr nicht, Regierungen sind anfällig für Führungskrisen, wenn Terroristen zuschlagen, kommt es zum ‹Krisenmanagment›, Unternehmen kriseln, Fußballmannschaften und ihre ‹Kaiser› und ‹Könige› sind nicht immun, ganze Nationen werden von Krisen geschüttelt, ja, die Menschheit und der von ihr bewohnte Planet scheint sich von Krise zu Krise zu drehen.

Die Technik, einst vom Menschen als Werkzeug gegen eine feindliche Umwelt ersonnen, hat längst ihre Unschuld verloren und wird zunehmend zu einer Bedrohung unserer Lebensgrundlagen. Die Ozonschicht in der Erdatmosphäre, verantwortlich dafür, daß uns die Sonnenstrahlen nicht mit dem schädlichen Teil ihres Spektrums erreichen, wird zunehmend zerstört. Schuld daran: Der Mensch, der glaubt, nicht auf Spraydosen gegen Achselschweiß und Kratzer im Autolack verzichten zu können. Die Weltmeere, Grundlage für das Leben auf der Erde überhaupt, werden, wenn die Entwicklung nicht gestoppt wird und Warner wie Jacques Cousteau recht behalten, bald vom Öl leckgeschlagener Supertanker und undichter Bohrinseln verseucht und ohne Leben sein. Der Menschheit liebstes technisches Spielzeug, das Auto, ist mehr als jedes andere Gerät verantwortlich für die Verschmutzung unserer Luft und für die Zerstörung von Wäldern und unberührter Natur durch den Bau von Straßen und Autobahnen.

Die Menschheit steckt in der Krise. Unser Wirtschaftssystem, das auf Gier, Neid und erbarmungslosen Konkurrenzkampf bis zur Anwendung von Waffengewalt basiert, zerstört ebenso die, die darin Führungspositionen innehaben, wie die, mit deren Arbeitskraft und Lebensenergie der verschwenderische Luxus einer parasitären Geldaristokratie erkauft wird. Der Spezialist, der Experte, ohne den die Technologie unmöglich wäre, liegt schon seit Jahren auf der Couch des Therapeuten und gibt ihm einen Gutteil seines Spitzengehaltes, auf daß er ihm helfe, den Streß im Büro zu ertragen, die Beziehung zu seiner Frau zu retten, und die Entfremdung von seinen Kindern zu überbrücken. Eheberater und Psychotechniker haben Hochkonjunktur, und in den materiell gesättigten Nationen der nördlichen Halbkugel blähen alle Arten von religiösen Sekten und okkulten Wissenschaften, mischen sich Aberglaube und ernsthafte Suche nach geistiger und kultureller Erneuerung.

Zusp. 2 (Klapp, Transzendentale Meditation [TM]):
Mann: «Meditation? Ich meine nicht die Meditation, so wie man sie sich, so mit hier im allgemeinen vorstellt. Aber: Zum Beispiel Autogenes Training, was ich auch noch in den Bereich der Meditation einbeziehen möchte, da ergeben sich schon, also zum Beispiel in der Therapie bei psychischen Störungen ganz gewaltige Perspektiven.»
Mann: «Mahareschi Mahesch Yogi ist der Lehrer, der uns dieses Wissen gegeben hat, wie wir unser Leben vervollkommnen können, wie wir mehr und mehr von unserem Leben, das, was in unserem Leben eigentlich steckt, wie wir das mehr und mehr nutzen können. Und deswegen sind wir unserem Lehrer sehr, sehr dankbar.»

Hier scheint sich tatsächlich eine Akzentverschiebung bemerkbar zu machen: Während die Krisensymptome so oder ähnlich schon in den sechziger Jahren sichtbar waren, wollte man damals auf ganz andere Weise Abhilfe schaffen. Dia soziale Revolution, die Veränderung der Institutionen sollte den Ausweg bringen, Diejenigen, die damals gegen den Staat anrannten, sind gescheitert, und so mancher Mahner wurde von selbstzufriedenen Machtpolitikern in den Terrorismus getrieben. Heute in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, spricht man von der Bewußtseinsrevolution, ausgehend von der Annahme, daß die Unordnung in der Welt Spiegel der Unordnung in der Seele ist.
Burkhard J. Huck, Maler und Schriftsteller, Ende der sechziger Jahre politisch aktiv, wohnt heute im schönen Oberbayern unter der Flugschneise der Bundeswehr-Düsenjäger:

Zusp. 3 (Huck):
«Also, die Außenwelt ist das, worin du gelebt hast, was dich zeit deines Lebens geprägt hat, das sind Freundschaften, Zuneigungen, Liebe, Emotionen, Sympathien für Menschen, Dinge, Tiere, Umwelt, Plätze, alles Mögliche, und das findest du in deinem Innern wieder vor. Und das verstellt dir den Blick für das zentrale Licht, sagen wir mal, wie in Platons Höhlengleichnis, die deuten immer die Schatten und die ganze Kultur, bemerkst du, daß du keine Seele hast, und du merkst, daß die Welt eigentlich auch keine Seele hat, und da die in der Höhle sitzt und die Schatten anschaust, und in dem Moment fängst du an zu meditieren oder nimmst Drogen oder versuchst irgendwie an dieses Licht heranzukommen. — Es ist ja ein Bewußtseinsschock für die meisten. Die ganze Umwelt, die relativiert sich ja dadurch, die wird ja fast nichtig, bleibt ja nichts mehr übrig. Deswegen ist ja meine Karriere damals auch ‹nicht mehr übrig› geblieben. Was willst du denn da, was willst du denn da noch einen Doktor haben, oder was willst du denn da noch in einem Büro sitzen, was willst du dich noch mit irgendwelchen Lorbeern schmücken, wo das eh eigentlich Rauchwolken sind, Schattenbilder. Es sind ja Schattenbilder, professorale Schattenbilder.» (Im O-Ton und danach kurz schriller: Fliegerlärm)

Zu den Erkenntnissen der westlichen Psychologie gesellt sich der östliche ‹Weg nach innen›, die Meditation, der Versuch, beim Einzelnen mit der Heilung anzusetzen. Wenig wird von den christlichen Kirchen erhofft, viel von den verschiedenen Spielarten des Buddhismus. Doch so manches, was sich seriös gibt und Hilfe anbietet, entpuppt sich bei näherem Betrachten als besonders raffiniertes Geschäftsunternehmen, dessen erstes und oft auch einziges Ziel die Brieftasche des ratlosen Ich-Suchers ist.

Zusp. 4 (TM; im Hintergrund): «Kostet das was?»
«Dieser Grundkurs zum Erlernen der Transendentalen Meditation kostet zwischen 300 und fünfundsiebzig Mark.»

Aber auch wo der Kommerz die Lehren Buddhas noch nicht verdeckt, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit der östlichen Methoden. Ist Buddhas Pfad der Ausweg aus der Krise?

Zusp. 5: (Huck)
«Buddha hat jahrelang meditiert, jahrelang, er hat den inneren Körper wahrscheinlich aufgebaut, der hat über diesem inneren Körper wahrscheinlich unglaubliche transzendentale Erfahrungen gemacht — und hat hinterher sich doch völlig umgewandelt. Er hat eine Religion begründet; eine Religion ist doch immer ein soziales, ein sozial gewordenes, eine sozial gewordene Erkenntnis. Und daraus ist geworden der Buddhismus. Bitte, das ist dasselbe wie das Christentum. Letzten Endes. Als organisierte Religion. Das ist genau dasselbe. Aber eigentlich ist das nur ein Wunschtraum. Die Christen haben gesagt, das ist Gott, für den vollkommenen Menschen haben die Christen gesagt, das ist Gott, und Gott ist im Jenseits.
(Musik unterlegen: Eberhard Schoener Meditation)
Bei Buddha ist Gott nicht im Jenseits, der Mensch ist Gott. Aber diesen Gott, der er selber ist, den sieht er nur sehr, sehr selten. Und deswegen wollen viele wahrscheinlich meditieren, um diesen Gott mal irgendwann zu treffen, um ihm die Hand zu schütteln.»
(Kurz Musik hoch, ausblenden, dann Zitat – O-Ton):
Zitatorin:
«Es gibt ein Wesen, unbegreiflich, vollkommen, vor Himmel und Erde entstanden, So still!, so gestaltlos! Es allein beharrt und wandelt sich nicht. Durch alles geht es und gefährdet sich nicht. Man kann es ansehen als der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Bezeichne ich es, nenne ich es: TAO.»

Daß die christlichen Kirchen eher Teil der Krise sind als daß sie eine Möglichkeit zu ihrer Lösung anbieten — das ist fast schon zum Gemeinplatz geworden. Zu sehr sind die Kirchen in sinnentleerten Ritualen gefangen, zu sehr pichen sie auf die Autorität einer Hierarchie, zu stark sind sie in Vergangenheit und Gegenwart an die politische Macht und oft deren Mißbrauch gebunden.

Hier soll nicht geleugnet werden, daß es innerhalb der christlichen Kirchen einzelne gibt, die sich aufopferungsvoll in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen, und in ihrem Handeln sehr wohl den Grundsätzen der großen Lehrer der Menschheit folgen. Aber allzu oft wird die Liebe zum Menschen durch Gehorsam in der Institution ersetzt.

Zusp. 6 (Huck):
«Die Kirchen haben keine Attraktion mehr. Früher war das noch viel mehr in die Kirchen integriert. Und je mehr das halt versagt, je mehr flüchtet man sich halt da hin. Die Kunst ist auch kein Anreiz mehr, irgendeine Erleuchtung zu kriegen. Früher war die abstrakte Malerei für manche Menschen; das war 'ne vollkommene Erleuchtung, wenn die irgendein kubistisches Bild von Macke gesehen haben, das muß ein ganz toller Schock gewesen sein. Heute ist — die Kunst ist ja steckengeblieben seit sechzig Jahren, aber früher waren die Bereiche Kunst, Wissenschaft, Religion, das waren früher die Bereiche, die wirklich noch Transzendenz vermittelt haben, die vermitteln heute keine Transzendenz mehr, die vermitteln mehr Politik und mehr Geld-Denken, und kapitalistisches Denken als Transzendenz —, na also, wo kann man denn hingehen, wenn man heute was von Transzendenz wissen will. Kann man entweder ins Max-Planck-Institut gehen, zum Psychologen — hoffentlich ist der Jungscher Prägung, der fängt dann vielleicht an zu sagen: Sie müssen sich zentroversieren, oder gehst de halt zum Sri Aurobindo nach Auroville oder sonstwo hin. Oder zum Hans Pfitzinger.» (mit Lachen stehen lassen)

Der grundlegende Unterschied zwischen dem westlichen Denken, das sich in der organisierten christlichen Religion niedergeschlagen und auch zur Entwicklung der modernen Technik geführt hat, und dem östlichen und mystischen Denken soll aber nicht übersehen werden: Im Westen ging man davon aus, daß die letzte Wahrheit im richtigen Denken zu finden sei. In der religiösen Entwicklung führte das zum Dogma, zur Verteidigung der richtigen Auslegung der Schrift bis hin zum dreißigjährigen Krieg, zur Unduldsamkeit Andersdenkenden gegenüber, zur Unfehlbarkeit des Papstes und zur politischen Ideologie, die im Extremfall blutig verteidigt wird. Vom indischen Denksystem, chinesischen und mystischen Standpunkt aus gibt kein Denksystem, das gelehrt werden kann oder dem man nachzufolgen hat. Wie der Sozialpsychologe Erich Fromm es in seinem Buch Die Kunst des Liebens ausdrückte:

«Die religiöse Aufgabe des Menschen besteht darin, nicht richtig zu denken, sondern tief zu erleben und sich mit dem Einen in dem Akt konzentrierter Meditation zu vereinen.»

Das führt zum Mißtrauen allem gesprochenem oder geschriebenem Wort gegenüber, wenn es um die Wahrheit geht, zur Ansicht, daß die Wahrheit niemals in Worten, sondern allenfalls in der zugrundeliegenden Erfahrung zu finden ist.

Zusp. 7: (Lao Tse, Zitatorin)
«Der Wissende redet nicht, der Redende weiß nicht.»

Entscheidend ist dabei, daß jeder für sich selbst suchen muß, oder, wie es im Zen-Buddhismus heißt, die Wahrheit kann nicht organisiert, gelehrt, übermittelt, bescheinigt oder in irgendein System gezwängt werden.

Das hat natürlich Folgen. Wenn dem Einzelnen die Entscheidung über die Grundfragen seines Lebens zukommt, dann hat der Staat die Aufgabe, dem Einzelnen die Entfaltung gemäß der als richtig erkannten, für ihn religiösen Erkenntnis zu garantieren. Schon für Martin Luther waren solche Ansprüche nur als Rebellion möglich. Darauf zu bestehen, ohne die Vermittlung von Kirche und Staat glücklich zu werden, läuft unserem Verständnis vom sozialen Menschen zuwider. Immer noch spukt die Vorstellung vom Untertan in den Köpfen der meisten. Dort, wo die Freiheit des Einzelnen propagiert wird, etwa in der anarchistischen Vorstellung vom freien Unternehmertum, ist sie nichts anderes als eine Ideologie zur Aufrechterhaltung von Macht über andere.

Doch auf der Suche nach dem, was jeder für sich selbst suchen muß, sind ungezählte Menschen im Westen.

Zusp. 6: (Musik: Udo Lindenberg)
«Sind Sie auf der Suche nach Ihrem Ich oder nach dem Ich, hat das religiöse Gründe, oder welche Gründe hat das überhaupt?»
Mann: «Religiöse nicht — und die Suche nach dem eigenen Ich, ja, die habe ich schon früher angefangen, zum Beispiel durch Psychoanalyse, später durch eine längere christliche Periode, und jetzt will ich eben sehen, ob ich vielleicht auf diesem Wege hier weiterkommen kann, und mich hat jemand anderes darauf gestoßen, und ich denke mir in solchen Fällen immer, es ist vielleicht ein Wink vom Schicksal und kein Zufall.»
Frau: (AAO): «Ich hab halt erkannt, daß also die schönen Löckchen, die gefärbten Haare und das Schön-Anziehen, die stöcklichen Schuhe alles ein überflüssiges Getue ist und dann auch noch interpretiert werden kann als Abwehr gegen die andern und sich selbst.»
(Frage): «Was haben Sie gemacht?»
«Ja, die Haare schneiden lassen, tragen alle einen Stiftenkopf, und ich hab das auch gemacht und dann am Wochenende gleich alle Sachen verkauft — da war grad Flohmarkt in München — und da hab ich also die ganzen schönen Sachen — in Anführungszeichen — den ganzen K r e m p e l verkauft.»
Mann (TM): «Unsere Leute, die Transzendentale Meditation lernen, die kommen aus allen Bevölkerungsschichten, quer — eben aus Bevölkerungsschichten. Man kann sagen, vielleicht, bevorzugt ist die Mittelschicht. Und dann gibt es Politiker, die es machen. Sehr, sehr renommierte Leute, sehr, sehr bekannte Leute, die aber nicht genannt werden möchten.»

Allein In München gibt es mehr als dreihundert Gruppen, Sekten, Organisationen mit religiösem Hintergrund. Freichristliche, östlich-buddhistisch inspirierte, hausgemacht-deutsche und solche, deren Religiosität mit politischen Sprüchen überdeckt wird. Den meisten ist die Verehrung eines Lehrers, Gurus, männlichen Vatergottes gemeinsam, doch sind in der ‹Guru-Bewegung› weibliche Muster im Kommen. Welcher Guru der richtige ist? Alle, vermutlich, und die meisten Leute, die sich irgendeinem Erleuchteten Weisen Mann angeschlossen haben, behaupten denn auch, von diesem ganzen «indischen Guru-Trip» nichts gehalten zu haben, bis ihnen ihr Meister über den Lebenspfad lief. Und der sei natürlich ganz anders als die anderen.

(Musik: Miles Davis, Seven Steps to Heaven)

Wie so oft kam für viele junge Leute der Anstoß aus den USA. Für den einen der Autoren war es ein kleines Taschenbuch mit dem reißerisch-geheimnisvollen Titel Gammler, Zen und hohe Berge, das ihn zum erstenmal zu der Vermutung veranlaßte, daß Religion auch etwas anderes sein könnte als das, was die Kirchen dafür ausgaben.

Geschrieben war das Buch von Jack Kerouac, dem Verfasser des Romans Unterwegs. Wie kein zweiter traf Kerouac den Nerv einer Jugend, die von Wirtschaftswunder und materiellem Wohlstand, von Vollbeschäftigung und sozialem Frieden verwöhnt — und unbefriedigt war. Unterwegs beschrieb den Lebensstil einer Minderheit US-amerikanischer Dissidenten, die später unter der Bezeichnung ‹Beat-Dichter› zu weltweitem Ruhm gelangten. Das autobiographische Buch Gammler, Zen und hohe Berge erzählt von der Begegnung Kerouacs mit seinem Dichterfreund Gary Snyder.

Snyder, heute einer der bekanntesten Lyriker in den USA, Pulitzer-Preisträger 1975, lebte in den fünfziger Jahren mit der Einfachheit und lustvollen Disziplin eines Zen-Mönches in der kalifornischen Bohème-Gemeinde Berkeley und «lehrte durch Beispiel». Den Freuden des Geschlechtsverkehrs ebenso zugewandt wie der Stille der Meditation, ein begeisterter Bergsteiger und anerkannter Übersetzer japanischer Gedichte, führte Gary Snyder den verwirrten Ostküstler Kerouac in seine Welt ein — und mit ihm seine Leser.

Wie so manchem, der akademische Diskussionen ins Leben zurückruft und nicht nur für eine Schar von Experten schreibt, kam es Kerouac nicht auf eine begriffliche Diskussion von Zen an. Ihm kommt eher das Verdienst zu, einer großen Anzahl junger Menschen einige Tips mit auf den Weg gegeben zu haben. Seine Beschäftigung mit den Quellen der östlichen Weisheit, sein Lebensstil der Gewaltlosigkeit, der Versenkung und des Rückzugs in die Meditation, dabei gleichzeitig die Suche nach der Wahrheit im möglichst authentischen, unmittelbaren Umgang mit dem menschlichen Leben — dies alles sind Grundsätze des Zen-Buddhismus, und Kerouac hat sie für sich und andere verständlich in die Praxis umgesetzt. Keine weltferne Versunkenheit wird gepredigt, sondern zum «tätigen Nicht-Tun» wird aufgefordert, das nicht vom Drang nach Aktivität um ihrer selbst willen beherrscht, sondern vom Zentrum des Lebens im Menschen, von der Stille der Meditation aus gesteuert wird.

Daß Kerouac auch für viele junge Deutsche der Künder östlicher Weisheit war, hat sehr viel mit dem verlorenen Krieg und nachfolgendem ‹Coca-Cola-Imperialismus› zu tun. Aber die Affinität der Deutschen zum östlichen Denken ist nicht neu, und was der ersten Nachkriegsgeneration im kolonialisierten Deutschland ihr Kerouac, das war den Großvätern Hermann Hesse, dessen Demian und Siddhartha kurz nach dem ersten Weltkrieg zu Bestsellern wurden. Das uralte chinesische Orakelbuch I Ging, eines der großen Bücher der Menschheit, wurde zum ersten Mal von Richard Wilhelm in eine westliche Sprache übersetzt. Friedrich Nietzsches Also sprachZarathustra vertritt die Weisheit östlichen Denkens, Arthur Schopenhauers Philosophie ist vom Denken der Chinesen ebenso befruchtet wie Goethes West-östlicher Diwan. Katholische Mystiker wie Meister Eckehart, protestantische Abweichler wie Jakob Böhme drücken in ihren Schriften dieselben Grundlehren aus wie der Zen-Buddhismus.

Zusp. 9 (Huck):
«Die ganzen Mystiker, ganz gleich welcher Religion, ob das die Sufis sind, ob das Meister Eckehart, ob das der Jakob Böhme ist, die dieses grundlegende gesellschaftliche Gefüge irgendwo angetastet haben, die sind mundtot gemacht worden, weil es nicht geht. Die Menschheit hat sich dieses Ziel anscheinend gesetzt, die will diese Kultur bauen, die will diesen babylonischen Turm immer wieder und immer wieder aufbauen.»

Wie aber ist die Verwirklichung des rechten Handelns für den Einzelnen möglich. In der Bundesrepublik Deutschland sieht es eher so aus, als werde die Freiheit des Einzelnen als Antwort auf die Krise der Gesellschaft immer mehr eingeschränkt.

Zusp. 10: (Zitatoin und TM). Lao Tse:
«Je mehr Gesetze und Verordnungen kundgemacht werden, desto mehr Räuber und Diebe gibt es.»
(Ton kurz stehen lassen)
»Welchen Stellenwert nimmt zum Beispiel TM in dieser politischen Situation ein?»
Mann: «Sehr interessant! Unsere nationale Zentrale hat diesen 17. Juni, den Tag, den deutschen Nationalfeiertag mit einer großen Festlichkeit gegangen, und im Rahmen dieser Feier wurde auch unserm Herrn Scheel eine Urkunde überreicht, und Herr Scheel hat sich dann so ausgesprochen, daß er für die Bewegung der Transzendentalen Meditation ist, weil sie unpolitisch ist.»

«Die grundsätzliche Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist die Abwehr der Bedrohung der persönlichen Freiheit und Würde des Menschen. Diese Bedrohung ergibt sich zunächst aus der Verelendung der Massen, aus der Herrschaft der Technik über den Menschen, die durch die Verödung der geistigen und seelischen Kräfte eingetreten ist, aus der Umwandlung des Rechtes auf Arbeit in Arbeitszwang und Zwangsarbeit, aus der Übersteigerung des Staates zur Totalität der Lebensregelung und damit zum polizeistaatlichen Terror, zur Diktatur einer frechgewordenen Bürokratie, zum Untergang des Rechtsstaates und zum Triumph der Macht-vor-Recht-Einstellung gegenüber den Menschen, damit letzten Endes zur Vermassung der Arbeitenden und schaffenden Menschen.»

Mit diesen Worten eröffnete in der 3. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 9. September 1948 der damalige Abgeordnete der Deutschen Partei, Dr. Hans Christoph Seebohm, die Diskussion um die «persönliche Freiheit», um die Freiheit eines jeden Bürgers der damals noch nicht existierenden Bundesrepublik Deutschland.

Die Zerstörung dieses fundamentalsten ‹Naturrechtes› durch den faschistischen Terror Adolf Hitlers und seiner Vasallen sollte sich nicht noch einmal wiederholen können — es sollte allen anderen Gesetzen voranstehen.
So hieß es rund neun Monate später, einen Tag vor der Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949, als der Präsident des Parlamentarischen Rates, Dr. Konrad Adenauer, das Inkrafttretens des Grundgesetzes verkündete, in Artikel 2, Absatz 1:

«Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ...»

Und, um die Gleichheit vor dem Gesetz auch zu garantieren, in Artikel 3, Absatz 3:

«Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.»

Und ein jeder Deutscher sollte das Recht auf Widerstand haben «... gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen ...», ... wie es in Artikel 20, Absatz 4 heißt.
Heute, fast dreißig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, hat sich an diesen Grundrechten auf dem Papier nichts geändert, von der Möglichkeit ihrer Einschränkung durch wiederum andere Gesetze wurde und wird reger Gebrauch gemacht.

Ihren Lauf nahmen die Dinge mit dem tödlichen Schuß des Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras auf den Berliner Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Die Gewalt eskalierte, die große Koalition peitschte die Notstandsgesetze durch. Die Folge war, daß die Studenten auf die Barrikaden gingen.

(Musik: Rolling Stones, Street Fightning Man)

Mit der Begründung, den Staat vor denen schützen zu müssen, die nicht auf dem Boden der Verfassung stehen, schuf man den Radikalenerlaß. Dadurch wird ermöglicht, daß man Angehörigen von Organisationen wie zum Beispiel der ‹Deutschen Friedensgesellschaft› den Status des Beamten verweigert. Carl von Ossietzky, der Journalist und Schriftsteller, der später von den Nazi ins Konzentrationslager gebracht und getötet wurde, gehörte eben dieser ‹Deutschen Friedensgesellschaft› an.

Wer in ‹linke Buchläden› geht oder an Demonstrationen teilnimmt, also ein Grundrecht wahrnimmt, wird photographiert, ist ebenso der Sympathie für ‹staatsfeindliche Elemente› verdächtig wie jemand, der sich theoretisch mit dem Anarchismus eines Michail Bakunin**.

Die einschlägige Presse, die Bundesregierung und die Opposition haben die Begriffe Anarchismus und Terrorismus grundsätzlich gleichgestellt. Sie haben aus dem klaren politikwissenschaftlichen Begriff Anarchismus, der nichts anderes bedeutet als Herrschaftslosigkeit, einen Begriff der Gewalt geschaffen.

Theaterstücke wie Die Gerechten von Albert Camus werden abgesetzt, nur weil sie sich mit dem Thema auseinandersetzen — theoretisch und auf der Bühne, wohlgemerkt.

Der Dissident eines osteuropäischen Landes wird bei uns freudig aufgenommen und vermarktet, Dissidenten im eigenen Lande fallen unter den Radikalenerlaß.

Kaum ein demokratischer Staat fand es notwendig, aufgrund von Vorkommnissen wie zum Beispiel die Ermordung der Kennedys in den USA, Gesetze zu ändern. Die Bundesrepublik tut es — aus welchen Gründen auch immer.

Radikalenerlaß, Numerus Clausus und immer neue Gesetze haben aus dem seinerzeit im Anfang eines politischen Denkprozesses befindlichen Staatsbürgers einen — zwangsläufig — unpolitischen Fluchtmenschen geschaffen. Der latente Hang des Deutschen zur Masse schlägt sich nieder in allen erdenklichen Formen, sei es in der Pseudoindividualität des Reit- oder Tennisvereins oder, bedingt sicherlich nicht zuletzt durch die Arbeitslosigkeit, in regem Zulauf zu Polizei und Militär.

Zusp. 11 (Huck):
«Demnächst werden wir alle numeriert. wieso auch nicht? Ich mein', in China gibt's blaue Ameisen, ja, vor zehn Jahren haben die Leute sich alle totgelacht, daß die Chinesen alle blaue Kleidung anhaben, alle, und heute laufen 'se alle in Jeans rum, alle, jeder hat 'ne Jeans an, heute lacht kein Mensch mehr. Vor zwanzig Jahren ham's gesagt, die Russen, in Rußland, da müssen die Frauen arbeiten, na also, das sind doch Zustände, stell dir vor, liebe Frau, die müssen arbeiten, hart, in Brigaden, auf den Kolchosen, überall, na, und heute, heute arbeiten alle Frauen, kein Mensch sagt ein Wort. Das ist doch — bitte, was ist an der Geschichte dran — nichts. Die läuft und läuft und läuft.»

Aber auch die Flucht in alle nur möglichen Sekten und Bewegungen ist möglicherweise ein Beispiel für die drohende Vermassung, von der der Abgeordnete Seebohm 1948 sprach. Das Bedürfnis, in einer Gruppe aufzugehen, die Befriedigung, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen und sich einem gemeinsamen Willen zu unterzuordnen — steht das nicht im Gegensatz zur Vorstellung vom freien Menschen, der allein und für sich selbst nach seiner Wahrheit sucht?

(Musik: Stephan Sulke, Du lieber Gott, komm doch mal runter)


* Hier handelt es sich um das Manuskipt eines 1978 für den Bayerischen Rundfunk gemeinsam mit Hans Pfitzinger verfaßten Beitrages (der als Sendung mit zwei Sprechern und Veronika «Vroni» von Quast als Lao Tse-Zitatorin im Untergrund [U-Bahn] zwar produziert wurde, jedoch nicht zur Ausstrahlung kam). Es tauchte mit einem Mal aus dem Archiv auf, vermutlich von der Sehnsucht nach Erinnerung hochgespült durch einen kürzlichen, nichtfußballerischen Kontakt mit der Republik Südafrika. Dort habe ich vor langer Zeit etwa ein Jahr lang gelebt, was mich veranlaßte, mich auf der Suche nach meiner verbleichenden geistigen Vergangenheit virtuell auch dorthin zu begeben (früher nannte man das mit dem Finger auf der Landkarte, heute geht das mit Nullen und Einsen, mit deren Hilfe man sich angeblich nicht verfahren kann und sich dann doch schonmal im falschen Land verliert). Nun, so geriet ich an einen ehemaligen Freund und Mitstreiter, der vor vielen Jahren aus Oberbayern dorthin umgesiedelt ist und der als Gesprächspartner einen nicht unerheblichen Teil zu dieser oben fixierten, aber eben nicht gesendeten Rundfunksendung beitrug. So sei hiermit, quasi in Erstveröffentlichung nach über dreißig Jahren, gemeinsam an den alten Copain erinnert — und daran, wie das mal war und wohin das alles führen kann ...

** Huck wurde mit einer Magisterarbeit über Bakunin, nach einer Unterbrechung des Studiums, später doch noch Politikwissenschaftler, wenn auch nicht als lehrender — er war in einem privaten Institut unter anderem mit Rüstungsfragen beschäftigt.

 
Sa, 19.06.2010 |  link | (2414) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Glauben, nicht wissen

Goethe, der Fürstendiener. Wie einige Zeit vor ihm Luther. Jeder auf seine Weise. Auch der Dichter hatte es ja ständig mit dem lieben Gott, seinem Nebenbuhler um die Gunst der braven Glaubenden gehabt. Der Kult des höchsten Wesens? Wahrscheinlich hat dieser andere wohl in seinem tiefsten Inneren heimliche Fürstenliebhaber namens Robespierre dabei an sich persönlich gedacht.
«Das französische Volk erkennt die Existenz eines Höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele an.»
Man möchte es nicht glauben, im besten Wortsinn. Da jubelt selbst Hans Maier, der Hohe Priester nicht nur des oberbayerischen Katholizismus, der Revolution zu.
«Die Mütter heben die jüngsten ihrer Kinder in ihren Armen hoch und bringen sie dem Schöpfer der Natur in Ehrfurcht dar. Die jungen Mädchen werfen Blumen zum Himmel empor [...]. Die jungen Männer ziehen ihre Säbel und schwören, sie überall siegreich zu führen. Die von der Begeisterung ihrer Söhne fortgerissenen Alten legen ihnen die Hände auf und teilen ihre väterliche Segnung aus [...]. Eine furchtbare Artilleriesalve, das Zeichen der nationalen Rache erschallt, und alle Franzosen vereinigen ihre Gefühle in einer brüderlichen Umarmung: sie haben nur mehr eine Stimme, deren vereinigter Schrei: Es lebe die Republik! die Lüfte erbeben läßt.»*
Ohne Tugend sei Terorrismus nicht möglich, meinte Robespierre. Das höchste Wesen als Tugend des Terrors. Auf dem Humus des Glaubens ließ sich der Gehorsam besser ziehen. Das kannte das Volk. Damit konnte man es fangen. Das war es! Da fühle ich mich sehr viel eher den Aristokraten näher, die den Atheismus erfunden haben.

Ach ja, die einen wenden sich, wie der Konvertit Heinrich Heine, kurz vorm Übertritt ins Jenseits wieder dem anderen da oben zu, entschuldigen sich gar bei ihm für die paar abgegebenen Lästerlichkeiten. Und ich denke an eine aus dem Ruder gelaufene Revolution, daran, daß die Religionen vermehrten Zulauf haben. Aufklärung? Moderne? Post-, ja Postpostmoderne? Wir wissen, daß man diesen Erdenball nicht in einer Woche erschaffen, aber an einem Tag vernichten kann. Aber sie glauben an die Geschichte von den sieben Tagen, nennen das auch noch Kreationismus und glauben an einen Schöpfergott. Nicht nur die Fundamentalisten.

Kann die Menschheit denn nicht in Würde und eben nicht in Unterwürfigkeit abtreten?!

*Hans Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 275

Von © Michael von Cube stammt das Bild

Gute Hirten

 
Fr, 28.08.2009 |  link | (2401) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Platon und der liebe Gott

Gratulation an einen Staat

Die einen haben einen lieben Gott, die anderen haben Platon. Denen antworte ich jetzt hier auf Seite eins, weil mir das gerade recht kommt und weil's schließlich einen Geburtstag zu feiern gibt; hier geht sowas ja, im gehaltvollen Qualitätsjournalismus wäre das nicht seriös oder so. Ich meine das nicht negativ, also nicht ironisch, und schon gar nicht, wie man das heute sprachlich leicht reduziert so bezeichnen würde: zynisch. Mir ist der alte große Weise in seiner Höhle ohnehin näher als der da oben über uns Wachende, dem anderen so ähnlich Sehende nämlich, der uns, wie ich gestern aus dem Mund von Frau Käßmann erfahren habe, die Menschenrechte geschenkt hat.

Bei solchen Äußerungen müßte ich die Frau eigentlich und tatsächlich zynisch auf das reduzieren, auf das es gerne nach wie vor viele Menschen tun: auf das Weib. Die titelige Aussage trifft auf sie selbstverständlich nicht zu, dazu ist sie zu gebildet und zu aufgeklärt. Aber als Bischöfin muß man sowas vermutlich sagen. Täte sie das nicht, beispielsweise auch noch solches wie mehr Kirche ins Fernsehen, ich könnte mir durchaus vorstellen, mit ihr an einem Tisch oder sonstwo zu sitzen oder sonstwas zu wollen. Doch wieder Exkursion über Gott und Götter beziehungsweise den Glauben an sie oder auch nicht? Eigentlich habe ich mich ja eindeutig genug erklärt. Aber es treibt mich doch immer wieder um und voran.

Ach, Herr Cosidetto, sind sie wirklich gestrandet? Als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, hätte man das sicherlich sagen können, da war's wirklich noch gefährlich für Menschen wie Sie. Aber heute? Ja, die Moral schreitet unaufhörlich fürbaß wieder zurück in die Zeiten vom guten alten Kaiser Willem, den man wieder zurückhaben will in nicht nur einem bundesdeutschen Ministerium. Aber so ist das eben bei vielen, die sechzig und älter geworden und dort angekommen sind, wo sie vor vierzig Jahren möglicherweise nun wirklich nicht hinwollten. Bei solchen wie mir ist das nicht der Fall, ich gehöre zu den Unverbesserlichen. Oder so: Wer sich ein wenig mit der Entwicklung der Gesellschaft(en), also mit (Kultur-)Geschichte beschäftigt hat, mit der Histoire de la Civilisation, wie das in Frankreich heißt, der, sei's drum, setzt sich zu Ihnen an den Meeres(st)rand, schaut den Horizont erweiternd ins olle Griechenland und hört Ihnen zu. Gerne. Ich gehöre zwar nicht Ihrer Fraktion an, halte aber Ihre intensionalen Intentionen (nur mal so, zur Erklärung für diejenigen, die damit nichts anfangen können) für bedeutungsvoll in Richtung der persönlichen Freiheiten, die der Mensch (eben nicht Gott) sich im Lauf der Zeit geschaffen hat und die die Kirche und was alles dranhängt an ihr immer zu verhindern gesucht hat — zumindest früher, wo man wieder hinwill (Frau Käßmann sicherlich nicht, aber die ist ja, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, auch kein Man; allerdings hat sie einige Kollegen, nicht nur in Rom).

Was mich zunehmend ins Grübeln bringt: daß diese vielen mans, zu denen eben auch viele Frauen gehören, unter bisweilen seltsam anmutenden Vorwänden das Licht wieder löschen wollen, nicht nur das in den Schlafzimmern, sondern auch das des siècle de la lumière (obwohl's da ja nun wirklich den lieben Gott noch geben durfte; zumal man nichts anderes kannte). Ständig wird von Geschichte, von Geschichtsbewußtsein gesprochen und geschrieben, und daß das ja so wichtig sei. Nur, wann beginnt Geschichte? Bei Kaiser Willem? Oder nicht vielleicht dann doch ein bißchen früher? Möglicherweise sollte man sich mal darauf besinnen, daß das Denken und die Gedanken an die Freiheit, mit allem, was sich damit verbindet, zu Zeiten dieser anderen Götter bereits fröhliche Urständ gefeiert hat. Aber das, das wäre dann doch ein bißchen zuviel, soweit wollen wir dann doch nicht gehen. Dann wäre wir ja wieder bei 68 und diesen ganzen «frivolen», wie man früher mal das «Anzügliche» nannte, Begleiterscheinungen, bei diesen unapetittlichen und auch noch kriegsgegnerischen Hippies zum Beispiel. Und damit ist ja nun wirklich kein Staat zu machen. Mit Platon oder so.
 
Sa, 23.05.2009 |  link | (3507) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Die Kirche und das junge Vieh

Bei meinem Küchen-Notfall hatte ich zwar über Herrn Schmalhans geschrieben, auch von meiner genüßlichen Flucht in den Cahors, nicht aber von meiner später tatsächlichen vom Ort, einer ganz schlimmen Musik, nicht nur der Lautstärke wegen, die dann selbst den schmalen Quasselquark untersagte. Für ein Ereignis eine Woche später schrieb ich Herrn Nnier beiläufig: «Mir steht schon wieder Schlimmes bevor: morgen eine Konfirmation. Allerdings ohne Kirche.» Mir schwante dennoch Arges. Aber es gibt, wie sich glücklicherweise herausstellen sollte, doch Qualitätsunterschiede, nicht nur beim Wein. So konnte ich neben ein paar anderen Beobachtungen mitteilen: «Ich hatte gestern eine sehr angenehme Konfirmation, also, nicht ich, sondern andere. [...] Schön war sie, die protestantische Feier, unter anderem, weil man stundenlang miteinander sprach, fast wie unter Jesuiten, und es keinerlei Musik gab. Obwohl einige Musiker anwesend waren.»

Mit zwei Musikussen, singender Bruder des gastgebenden Konfirmantinnenvaters sowie dessen regieführenden Gattin, gab's ein anregendes und angeregtes Dauergespräch, beileibe nicht nur über deren musikalische Heimat Oper. Auch über Gott und die Welt, vor allem über erstgenannten, im Zusammenhang mit Pro-Reli oder Ethik. Das mußte nichtmal ich anregen, obwohl ich das meistens bin, wenn irgendwie was Pfäffisches in der Nähe weilt. Da ich entschiedener Gegner des Mißbrauchs von Minderjährigen bin, auch von geistigem, wie er über die kirchlichen und somit gesellschaftlichen Einflußnahmen geschieht. Wie kann ein vierzehnjähriger Mensch, der zuvor auch noch dogmatisch unterwiesen wird, darüber befinden, ob es moralisch oder was auch immer rechtens ist, als sogenanntes Vollmitglied in eine Kirche eingewiesen zu werden wie in die Umgatterung einer Schafherde? Wie oft geschieht es, daß dieser zwangsvereinte Mensch bei seinem ersten eigenen, klaren Gedanken aus diesem Club wieder austreten möchte, das aber mittlerweile nur darf, wenn er eine Strafgebühr entrichtet; was für Studenten beispielsweise häufig eine unzumutbare Belastung darstellt, weshalb sie dann eben dabeibleiben. Das ist eine besondere Art der Trennung von Kirche und Staat.* Mein seit 1875 orthodox gequälter Vater machte dem ein Ende, als er das elterliche Dorf verlassen hatte und bestimmte, ich möge später einmal selbst entscheiden, ob ich an einen lieben Gott glauben und gar irgendeiner Kirche angehören möchte. Wahrscheinlich konnten wir wegen dieser Glaubensfreiheit so klar über die jeweiligen Religionen und deren Gemeinschaften sprechen oder auch diskutieren. Auf jeden Fall hatte es zur Folge, daß ich zum einen ein recht deutliches, historisch ausgeleuchtetes Bild von allen möglichen Glaubensgemeinschaften bekam und ich mich zum anderen deshalb gegen alle entschied.

Wenn dann ein Vater erwähnt, er und seine Ehefrau hätten ihre Tochter konfirmieren lassen, weil sie ihr die Freiheit der Entscheidung lassen wollten, dann halte ich das dann doch für eine leicht fragwürdige Argumentation. Ich kenne da einen Fall aus dem engsten Familienkreis, der sich, zunächst ungetauft, freiwillig in die eigene Konfirmation begeben hatte, weil's da richtig Kohle gibt, Geschenke von Verwandtschaft und sonstigen Eingeladenen. Daran mangelt es ihm längst wieder, ebenso am Glauben an Luthers Leistung, aber er bleibt eben Vereinsmitglied, weil er das Geld für den Austritt direkt nach der Feier in einem Anfall von christlichem Altruismus in den Opferstock für arme Hamburger (früher nannte man die Ritter) gegeben hat.

Eine völlig andere Situation ergibt sich, wenn sich jemand, wie im Fall der eingangs erwähnten operalen Musikanten, im zarten Alter von etwa vierzig Jahren für einen Kircheneintritt entscheidet, weil er sich «eine schöne Hochzeit mit allem Drum und Dran» gewünscht hat. Dann ist das eine Argumentation, die mir zwar auch nicht unbedingt stichhaltig erscheint, da ich meine, daß die zeitgenössische Feier einer Hohe Zeit auch irgendwie anders bacchantisch bis bukolisch ablaufen kann, mir aber zumindest ein Schmunzeln abringt. Zumal im konkreten überdies keine Gefahr ansteht, missioniert zu werden, man sich auch weiterhin darüber einig sein wird, daß Liberalität mit Herrn Westerwelle eher weniger zu tun hat. Da höre ich, der kulturellen Zusammenhänge wegen, auch recht gespannt der Schilderung zu, wie im Einzelfall sich christliches Familiendenken in der DDR abspielte. Aber bei Missionierungsversuchen werde ich stramm rebellisch, da hat schon manch einem das dürftige Wissen nicht ausgereicht, durchaus auch das des einen oder anderen Pfarrers, war ich doch ob meiner ausgiebig geübten glaubensfreiheitlichen (Aus-)Bildung in der Regel gewappneter als der Angreifer. Oder so: Wer mich religionsfrei in Frieden läßt, der mag friedvoll an irgendeinen lieben Gott glauben, an welchen auch immer. Da fällt es mir nicht schwer, den kategorischen Imperativ einen guten Mann sein zu lassen.


* Ich als Konfessionsloser habe zeitweise für ebenfalls konfessionslose Aushilfskräfte Kirchensteuer bezahlen müssen; der Gesetzgeber teilte sie zu jeweils einem beziehungsweise zwei Drittel okzidental orientierten katholischen respektive evangelischen Kirchen zu. Als ich darauf pochte, diese Zwangsabgabe wenigstens einer Gemeinschaft meiner Wahl zuzuführen, wurde das abschlägig beschieden.
 
Mo, 27.04.2009 |  link | (3738) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Den Zahn ziehen ...

Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Allzu gerne wird von der jüdischen, der israelischen Rachementalität geredet. Man schiebt der jüdischen Religion dieses Gebot als Formel dafür unter. Aber vermutlich glauben es viele Israelis, viele Juden selber, daß es so ist, so sein muß. Vor allem hat es wohl den Arabern gegenüber Gültigkeit. Und die Araber meinen dann, sie würden nach jüdischen Gesetzen handeln. Es ist abstrus.

Auge um Auge ... Es geht um Rache. Falsch. Um Selbstjustiz. Oder Vergeltung. Oder auch — beides. Im Alten Testament steht von Rache nirgendwo was. Ich vermute ja auch, daß es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt. Bewußt oder unbewußt. Das mag dahingestellt sein. Oder es verhält sich wie mit dem Koran, in dem ebenfalls (nach Gusto) ausgelegt wird. Vermutlich ist es so. Die Problematik ist allerdings auch über Jahrhunderte hin von den Gelehrten diskutiert worden. Doch die neuere theologische Forschung besagt, daß es sich in der korrekten Bedeutung um eine schlichte gerichtliche Anweisung zum Ausgleich von Schadenersatz handelt. Es geht dabei um das Zivilrecht, wörtlich Geldurteile, also um Rechtsstreitigkeiten, die mit Geldwert ausgeglichen werden. Einer, der geschädigt hat, soll geben. Im Original steht gib und nirgendwo nimm. Im höchsten Fall heißt es, einer, der geschädigt habe, soll. Der Judaist Reinhold Mayer verweist in seinem Talmud-Kommentar auf die ius talionis, auf diese uralte nomadischen Rechtssprechung, die ursprünglich die Angemessenheit einer Bestrafung forderte. Er schließt eindeutig, daß in der Rechtsprechung der talmudischen Zeit nur Schadenersatz infrage kam.[1] Also — nichts: mir den Schädel einschlagen, weil mein Cousin deinem das Haus in die Luft gejagt hat. So einfach ist das. Und hat dennoch solche Folgen.

Zudem ist das ja ohnehin so eine Sache mit der Bibel. Die gibt es ja als solche gar nicht. Zum einen erkennt der Mensch mosaischen Glaubens nur den ersten Teil des Buches, der von den Christen Altes Testament genannt wird, als Heilige Schrift an und spricht vom «Gesetz und den Propheten». Zum anderen besteht die Bibel als Ganzheit ja geradezu aus einer Bibliothek von Büchern, die durch die Jahrhunderte hindurch entstanden sind. Das gilt für das ganze «Buch der Bücher», also für das Alte wie für das Neue Testament.[2] Das ist das eine. Das andere ist: Die Geschichte der Israeliten ist ausschließlich aus dem Alten Testament übernommen worden. Kein außerbiblischer literarischer Beleg beziehungsweise archäologisches Zeugnis ist mit den Berichten des Alten Testaments eindeutig in Verbindung zu stellen. Dennoch gelten heute David und Salomon als historische Persönlichkeiten. Selbst ihre Herrscherzeiten, etwa um 1000 vor unserer Zeitrechung vor Christus — nach dessen Himmelfahrtskommando wir also auch noch unsere alltägliche Zeit berechnen — stehen fest.

So weit, so gut. Doch es gibt ja, wie das bei Mayer angedeutet ist, sehr viel ältere Kulturen als diejenigen, auf die im Alten Testament verwiesen wird. Gilgamesh beispielsweise zählt nicht mehr bloß zu den sumerischen Legenden, sondern es wird ihm eine historische Bedeutung zugerechnet, wobei auch seine Herrschaftszeit — 2700 vor unserer Zeitrechnung! — feststeht. Während also das Alte Testament und die mesopotamischen Legenden als Wegweiser der Altertumskunde gelten, ist den iranischen Überlieferungen, dem Avesta und der traditionellen Geschichte Persiens, der gebührende Wert bisher verweigert worden. Somit sind aus der Sicht der westlichen Forschung die frühesten Phasen der iranischen Geschichte in den Berichten Herodots gesammelt. Aber selbst dessen Berichte über die älteren Perioden der Iranier werden grundsätzlich übersehen. Das ist ja überhaupt ein Problem: Die Geschichtsschreibung besteht aus lauter Aussagen über Ereignisse, die durchweg weit in der Vergangenheit stattgefunden haben. Diese Ereignisse sind im allgemeinen einmalig und nicht nach Belieben reproduzierbar. Hier liegt der Unterschied zu den Naturwissenschaften. Während in den Naturwissenschaften versucht wird, Theorien zu konstruieren, die dann eine immer umfangreichere Gesamtheit von reproduzierbaren Erscheinungen erfassen, werden in der Geschichtswissenschaft aus den gegebenen Spuren und Dokumenten die einmaligen Ereignisse gedeutet. Dieser Vorgang ergibt hier, wie auch in der Kriminalistik, oft kein eindeutiges Bild. Daher spiegelt die Geschichte nicht die Wahrheit über die älteren Perioden, sondern stellt eine Kette von Hypothesen dar — siehe Kunstgeschichte! —, über die sich eine Gruppe der Forscher einig ist. Das ist die übliche Auffassung von der Geschichtstheorie. Der Autor des Beitrages, aus dem ich diese Erkenntnisse habe, meint, daß diese Art Beurteilung irreführend und oft irrelevant sein kann; sie kann oft von persönlicher oder gar politischer Motivation beeinflußt sein. Aber auch sonst steht heute die Geschichtsschreibung unter starkem Einfluß der Ideologie, Politik beziehungsweise des politischen Klimas.[3] Siehe die katholische Kirchengeschichte. Das ist zwar insgesamt eine Binsenweisheit, über die der einigermaßen Aufgeklärte also bereits verfügt, aber es sind hier ja lediglich erklärende, einleitende Worte zur Problematik.

Nur zu gerne wird das Alte Testament, die Bibel herangezogen, und alles andere fällt durch diese Raster. Oder der Koran. Manch ein kritischer Geist äußert auch schonmal: Was wollt ihr? Dieser Koran riecht noch nach Druckerei, noch nach frischer Farbe. Es ist ein Witz, was ihr erzählt. Und er ist teilweise abgeschrieben, quasi übersetzt aus den Bildern der Armenbibel, der biblia pauperum. Es ist wie mit dieser Geschichte vom Heiligen Gral — die Nähe zum Groschenroman ist fatal. Sie nennen es Romantik — La vie est un roman. Wie das Leben von Allah und Jesus und König Arthur und dessen Rundem Tisch, an den vor allem deutsche Politiker sich so gerne gesetzt (und von denen die aktuell regierenden bis auf eine allesamt ihren Eid auf den lieben Gott geleistet) haben.

Es hat ja alles angefangen unten im Süden. Da hat einer einen Kelch geklaut und ihn nach Frankreich gebracht. Und wieder andere haben ihn dann von anderen geklaut und nach England gebracht. Bis er in den Pyräneen eingegraben wurde. Ob darin wirklich das Blut von Jesus Christus war, steht in keinem von diesen Büchern, in keiner dieser Reisebeschreibungen mit viel Phantasie für Menschen, denen es daran mangelt.

Nichts als Spekulation
Im achtzehnten Jahrhundert ging man davon aus, daß Buddha ein aus Afrika nach Indien eingewanderter, bei den alten Ägyptern ausgebildeter Weiser gewesen sei: «qu'il se donna pour un autre Hermès, pour un nouveau législateur, et qu'il enseigna à ces peuples non seulement la doctrine hiéroglyphique des Egyptiens, mais encore leur doctrine mystérieuse.»[4] Es gibt einen Hinweis darauf, die Bilder von Buddha seien wie «un visage éthiopien et les cheveux crépus». Dann sind wir mit einem mal beinahe wieder in der Geographie der schönen Jeminitinnen. Auch wird die Buddha-Lehre mit der jüdischen Kabbala und der En-Soph-Lehre verglichen, diese Lehre vom Infiniten, vom Unendlichen. Und diese Diskussion über den ägyptischen oder indischen Ursprung der Philosophie zieht sich hinein bis weit in das 19. Jahrhundert.[5] Die ganze Industrie der Esoterik, im Ursprung mal geheimes Wissen, schürt dieses Feuer des Glaubens, um daran Geld zu verdienen. Fakten interessieren nicht. Der Wissenschaftstheoretiker Lutz Geldsetzer schreibt:

«Die spürbare Verunsicherung in den eigenen abendländischen Traditionen stimuliert ein weites populäres Interesse an allem Fremd- und Andersartigen. Dem weltüberspannenden Tourismus entspricht ein geistiger und stimmungsmäßiger Tourismus mit Neugier und viel gutem Willen zur Kenntnisnahme und zum Einleben in exotische Verhältnisse. Ersichtlich kommt dem in Indien und bei seinen geistigen Repräsentanten eine recht missionarische Kulturpropaganda entgegen, die mit modernen Werbetechniken einstige und auch noch andauernde christliche Missionstätigkeit in umgekehrter Richtung beantwortet.
Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden realistischen Weltbild, der Verwissenschaftlichung aller Lebensverhältnisse und der Technisierung der Welt im Westen insgesamt motiviert zur Suche nach der Alternative zu alledem. Diese Alternative wird ersichtlich weniger in den eigenen in den Hintergrund gedrängten Traditionen des Idealismus, des ‹einfachen Lebens› und der ‹Nachfolge Christi› oder eines Franz von Assisi, und des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit den Dingen und der Natur gesucht, als vielmehr in meditativer Versenkung in höhere Regionen oder tiefere Schichten des Bewußtseins, in der Verweigerung gegenüber den Ansprüchen des Herkömmlichen oder in der schieren Untätigkeit, wozu indische Philosophie und brahmanische Weisheit frustrierte Abendländer einzuladen scheint.»[6]

Gerade das Indisch-Eingefärbte hatte während meiner studentischen Sturm- und Drangzeit ja Hochkonjunktur. Ich hab immer noch den Gestank der Räucherstäbchen in der Nase. Jede Jungfrau oder eine, die's nicht mehr sein wollte, hatte davon mindestens einen Karton in ihrer Kreuzberger oder Tempelhofer Bude gelagert. Daran waren Schopenhauer und, vor allem, Hermann Hesse nicht ganz unschuldig; wenn man den beiden auch zugute halten muß, als Rosinenkuchen mißbraucht worden zu sein. Über Nietzsche zu sprechen war ja strengstens untersagt, also las ihn auch brav keiner (oder heimlich). Ständig klimperte Hesses Glasperlenspiel oder sein Siddhartha irgendwo. Schwerst nervig. Mich hat das Zeugs eher in die Impotenz getrieben. Ich habe lieber bis morgens um sechs direkt neben Otto Schilys Kanzlei auf Beethovens Neunte Rock'n'Roll getanzt, bis die Freudenfunken der irdischen Götter auf der metallenen Tanzfläche stoben.

Und heute? Es ist dieselbe Merde, es hat sich nichts geändert. Versatzstücke, Rosinen herauspicken und daraus eine große, nicht nur Medienindustrie bauen. Und diese intellektuell Minderbemittelten saugen diesen Geistersatz begierig auf. Wie unsere Euro-Pampe. Und bloß nicht in die Tiefe der Ur-Küche greifen. Es könnte ja sein, daß was anderes dabei herauskommt als das, was in diesen Rezeptbüchern steht. Wahrscheinlich schmeckt das Original überhaupt nicht. Wie die Lieblingsitaliener der Deutschen, die ans Deutsche angepaßt kochen, die Deutschen aber glauben, es sei italienisch. Es ist eben so eine Sache mit dem Glauben. Es gibt ja auch genügend sogenannte Restaurants, bei denen es transparentgroß angeschrieben steht: Asiatische Küche — vietnamesisch, thailändisch, chinesisch. Manchmal steht dann noch darunter: Wiener Schnitzel. Und das klopfen sie dann aus dem Schwein heraus. Dabei gibt's schon in China hunderte unterschiedliche Küchen. Oder in Indien. Um näher am Thema zu bleiben. Ich hab mal während meiner Berliner Studienzeit bei einem Inder — ich bin ja auch schon infiltriert: als ob's eine einzige indische Küche gäbe! —, also, bei einem Inder, von dem ich nicht mehr weiß, wo er herkam, eine Zeitlang essen dürfen. Nach etwa zwei Wochen hab' ich so langsam was rausgeschmeckt. Weil das so scharf war, daß mir anfänglich die Flammen aus den Ohren geschlagen sind. Und nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, es also richtig gut wurde, ist er umgezogen. In die DDR. Wahrscheinlich hat er jetzt 'ne Softwarefirma in Bitterfeld. Oder in Goa. Und stellt Weichware für übriggebliebene Hippies her. Oder Yuppies. Europa- ach was, globalweit.

Küche oder Philosophie? Küchenphilosophie.
«Brucker — er ist der eigentliche Begründer der deutschen Philosophiegeschichte und hat sich 1742 dieser gewidmet —», so Geldsetzer, «Brucker kennt die genannten Quellen aus der Antike und meint, die besten Köpfe Griechenlands hätten es für notwendig gehalten, bei den Indern Weisheit und Tugend zu lernen — was in der antiken Literatur ja auch bezüglich der griechischen Vorliebe für die ägyptische Weisheit behauptet worden war.»[7] Jetzt ist es erwiesen, daß es keine Parallelen gibt zwischen einer Philosophie des Abendlandes und der indischen. Auch wenn man sich immer wieder darum bemüht. Doch die klassische indische Philosophie — die vedische Periode beginnt 2000 vor unserer Zeitrechnung mit dem Herrn! — ist nicht aus unserer Perspektive zu beleuchten. Das ist es, was immer wieder falsch gemacht wurde. Es entstand im Abendland kein vergleichbares Bewußtsein von einer Verantwortlichkeit oder Zuschreibung auch fernerliegender und späterer Verhältnisse. Und wo es geschah, etwa die Seelenwanderung oder bei Platon, dann geschah es erwiesenermaßen unter indischem Einfluß![8]

Im jüdischen Neuplatonismus findet die Seelenwanderung allenfalls in der Lehre vom Adam-Kadmon, dem Urmenschen, eine gewisse Entsprechung, der alle folgenden Geschlechter in sich vereinigt. In der christlichen Version in der Erbsündenlehre, nach der jeder Mensch in sich «den alten Adam» als Tatfolgenhypothek des ersten Sündenfalls wiederfindet. Das spätere Christentum aber hat sich schnell dabei beruhigt, daß Gott die Sünden der Väter nur bis ins dritte und vierte Glied bestrafen, Wohlverhalten aber in tausend Generationen belohnen wolle. So hat es zwar die schönen oder schlechten Umstände der Existenz des Einzelnen erklärt, aber die Verantwortung dafür Gott zugeschrieben. Die säkuläre Gesellschaft der Moderne aber hat auch den verantwortlichen Gott noch abgeschafft und zuletzt die Grundlosigkeit und pure Faktizität der menschlichen Existenz entdeckt. Sie feiert Freiheit und Spontanität und versteht sie als grund- und ursachenlosen Anfang. Und damit ist sie sehr weit davon entfernt, einen Gedanken wie den vom Karman nachvollziehen zu können.[9] Und deshalb wird das nix mit Siddhartha und seinen Nachfolgern auf Tele Dingsbums, dem Sender mit der Philosophie der nächtlichen bäuerlichen Nackheit, oder mit der Astrologieberatung im WDR oder so.

Gleichwohl sie stattfindet, die Karten- und/oder Kaffeesatzlesung, quasi im Öffentlich-Rechtlichen deutschen Fernsehen — direkt nach dem abendlichen Abschalten des Kinderkanals um einundzwanzig Uhr. Da mittlerweile auch deutsche Kinder kaum mehr früher ins Bett gesteckt werden, verinnerlichen sie nahtlos den Übergang vom Kult-Brot zum Kanal medial. Da ständig irgendeiner seine Schäfchen in die Unwirklichkeit plappert, besser: sie ins Trockene bringt und der letzte Kokolores-Betreiber dem nächsten die Türklinke in die Hand gibt, könnte man diesen Sendeplatz doch gleich den Kreationisten geben. Eine ehemalige Bildungsministerin (siehe den Kommentar von vert) hatte sogar gefordert, deren Lehre auch an deutschen Schulen einzuführen. Im Bayerischen Fernsehen heißt der Schwachsinn wenigstens noch Kanal fatal. Nur wird der glücklicherweise nicht ernstgenommen.

Es ist schon erstaunlich, daß die christlichen oder anderen in Deutschland ansässigen regierenden Kirchen dagegen noch nicht Sturm gelaufen sind. Aber wahrscheinlich fehlt ihnen das Protestpersonal. Oder sie sind sich darüber im klaren, daß sie es selbst sind, die Volksverdummung betreiben, und schweigen lieber, um nicht ausgelacht zu werden. Obwohl: Die richtig Armen im Geiste haben ja keine Angst vor Häme.

Und Nihilisten im klassischen Sinne dürfte es ohnehin keine mehr geben. Und bei diesem Begriff fällt man immer wieder gleich über diejenigen, die Nietzsche nur vom Klappentext oder von Büchlein wie Nietzsche zum Einschlafen her kennen. Und dann an Pissoirwände oder in ihre Internetpoesiealben schreiben: laut ihm sei Gott tot. Weil sie nicht gelesen haben, nicht haben lesen können, was er davor und danach geschrieben hat. Oder nachplappern, er sei ein Wegbereiter des Antisemitismus oder gar der Nazi-Ideologie gewesen. Jener Nietzsche, der erwiesene Pazifist und Atheist, Atheist aus Instinkt oder, wie Rüdiger Safranski ihn so treffend bezeichnet hat: Anti-Antisemit[10], weil er diese Kleingeister haßte, die sich mit ihren Balkongeranien ihren sehr eigenen Horizont schaffen, die nichts, aber auch gar nichts verstanden hatten und wahrscheinlich auch nichts verstehen wollten, denen ein knapper Satz als Konstruktion fürs Weltgebäude ausreicht. Ein Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gedacht war, quasi eher für den Tiefbau. Und — er sollte ja nach Mamas Willen protestantischer Pastor werden — vor allem Freigeist war. Freigeist! Frei von allen Ismen und Ideologien.

Der Wille zur Macht! Obwohl das nachgelassene Hauptwerk sich längst als Fälschung erwiesen hat, also wider besseres Wissen, murmeln genügend – heimlich — national gesinnte Geistheiler diese magische Formel auch heute noch dem ungesunden Volkskörper ins Herz, die den Dauerwahlkämpfern Hitlers so recht kam wie ihrem teppichbeißenden Führer — wenn der überhaupt mehr gelesen hat als diesen halben Satz, der da komplett lautet: «Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht.»[11] Ja ja. Sprache. Nietzsche meinte dazu, ganz nebenbei: «Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich ...»[11] Ein paar Ver(w)irrte haben sich das vermeintliche Filetstück einfach herausgeschnitten und es als Faschiert's in die Volksküche gegeben. Und das passende Signet auf der Verpackung haben sie auch goutiert.

Faschiert's — Fasch ... fascis? fascisme?
Ja. Fascis, das Rutenbündel der altrömischen Liktoren, das zum Symbol der italienischen Arbeiterbewegung wurde, das sich zum Faschismus wandelte, der heute ständig falsch angewandte Begriff. Heute nennen sie jeden dahergelaufenen Arbeitsplatzvernichter Faschist. Also, Faschiertes. Das ist österreichisch. Paßt ebenfalls zur Geographie des Schreckens. Ich kann den etymologischen Zusammenhang leider nicht erklären. Ich vermute jedoch, daß es damit zusammenhängt. Es meint Hackfleisch. Haché. Also volksmundgerecht hachierter Wille zur Macht. Nochmal, da wir ja beim Thema sind, Nietzsche, quasi assoziativ: Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen — an sich. Nur durch Assoziation, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanismus eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde, zum Beispiel dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (zum Beispiel beim Kommandowort) eine Handlung hervorbringen. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre![13]

Und damit ziele ich auch auf diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, «in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden. Die «Einigung durch Texte» sei einhergegangen mit der «Auflösung des Territoriums».[14] Und wie wir, damals, später, heute — unter anderem und bei aller Kontroversität oder vielleicht gerade deshalb — den deutsch-österreichischen Oberwahnsinnigen damit überhaupt erst verstanden haben — in meinem Fall: begonnen haben zu verstehen. Es mußte also ein Franzose kommen. Ein jüdischer noch dazu. Der mein in das vom deutschen Kulturgut verdicktes französisch-russisches, vielleicht ja sogar, auf der Wahrheit ruht in Ewigkeit Maman, noch ein bißchen verhugenottisiertes Judenblut therapiert hat, um's wieder fließen zu lassen. Sozusagen kurz vor der Thrombose.


Anmerkungen (Literaturnachweise)
1 Der Talmud, ausgew., übersetzt und erklärt v. Reinhold Mayer, München 5. Aufl. 1980, Über Fahrlässigkeit, p 342ff.; siehe auch: Ruth Lapide: Die Lust an der Thora. Erfahrungen im Umgang mit dem Alten Testament. Eine jüdische Beziehung zum Alten Testament, Sendemanuskript, Sendung des Bayerischen Rundfunks, Abteilung Kirche, Sonntag, 29. Oktober 2000, 9.00 – 9.30 Uhr, Bayern 2 Radio.
2 Hans Friedrich Müller: Berge der Bibel; Seite leider nicht mehr erreichbar
3 Iran Ancient History, Die Arier in den nahöstlichen Quellen des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr.; Seite leider nicht mehr erreichbar
4 Engelbert Kämpfer, Geschichte und Beschreibung von Japan, hrsg. v. Chr. W. Dohm, Lemgo 1777-1779, zuerst London 1727, französisch La Haye 1729, p 130; Lutz Geldsetzer: Die klassische indische Philosophie (1999)
5 Lutz Geldsetzer, ibd.
6 Lutz Geldsetzer, ibd.
7 «De cuius — scl. Indiae — Philosophis magna apud veteres fama atque existimatio fuit, adeo, ut qui sapientiae, virtutis cultura et iustam indolem perductae, praecepta inter Graecos discendi cupidi erant, necessarium sibi ducerent, ad Indos excurrere, et sapientiam gentis tanto studio excultum atque custoditam discere; id quod magnos inter Graecos philosophos, Pythagoram, Democritum, Anaxarchum, Pyrrhonem, Apollonium fecisse, et ipsum Alexandrum M. India nuncupata non neglexisse, relationes varias feruntur», Geldsetzer, ibd.
8 Lutz Geldsetzer, ibd.
9 Lutz Geldsetzer, ibd.
10 Rüdiger Safranski, in: Allzu menschlich: Friedrich Nietzsche. Eine philosophische Reise. Dokumentation, in: Arte-Themenabend, 2. Mai 2002, 22.05 Uhr
11 Ausführliches dazu in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München, Berlin/New York 1980, vol. 14, p 7-17
12 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 191
13 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 289
14 zitiert nach: Willi Jasper, Der dämonische Held. Der ‹Faust› und die Deutschen — eine verhängnisvolle Affäre, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 5. Februar 1999 Nr. 6/1999

Siehe auch: André Glucksmann: Die Cartesianische Revolution. Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie; aus dem Französischen übersetzt von Helmut Kohlenberger, Reinbek 1989, p 72f.; Original: Descartes c'est la France, Paris 1987

 
Fr, 28.11.2008 |  link | (4354) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 







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