Ein Gesicht

1. Fortsetzung. «Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.»

Mit brüchiger, wackeliger Stimme fragt er: «Wer sind denn sie? Was machen sie denn hier? Und wie kommen sie hier rein?!»
«Du erkennst mich nicht?» Ihr geradezu überpointiert gutes Deutsch ist eindeutig französisch gedacht. Ist er im Kino? Will das Mutterland ihn heimholen, ihn gar aufs Alter hin an der Heimatfront kämpfen lassen? «Du erkennst deine Frau nicht?»

Aus dem gleich bei Eintritt in die Wohnung aufkommenden Unbehagen wird langsam eine Bedrohung. Allen seinen Mut zusammennehmend tastet er ins Regal, um den dort verborgenen Schalter für den lichtstarken Deckenstrahler umzulegen.
«Laß es sein. Später», flüstert es, allerdings vernehmlich.
Nie oder nur höchst widerwillig nimmt er Befehle entgegen. Wenn ihn jemand bittet, hat er keine Probleme, sich selbst zu kasteien. Aber Forderungen tun sich bei ihm äußerst schwer mit der Landung. Dennoch zieht er seine Hand zurück.
«Also gut. Nochmal: Wer sind sie?« setzt er fordernder, aber weiterhin unsicher nach.
«Muß ich das tatsächlich wiederholen? Ich bin deine Frau.» Sie verschränkt die Arme unter der Brust. «Und es mutet seltsam an, daß du sie nicht erkennst. Oder erkennen willst.» Sie zündet sich erneut eine Zigarette an. Es könnten Roth-Händle sein. Nein, doch wohl eher Gauilloises oder Gitanes. Ja, Gitanes. Ich rieche meine in Frankreich gerauchte Marke. Die deutsche Gitanes stinkt entsetzlich europäisch — Régie française, hergestellt irgendwo in Benelux, für diejenigen, die das europäisch Einheitliche bevorzugen, als Bollwerk gegen die Restwelt. Oder ihre Lunge ein klein wenig langsamer asphaltieren möchten.

«Madame.» Er richtet sich etwas auf, da er mittlerweile zunehmend sicherer wird, daß es sich um den Anfang eines Schmierentheaterstücks handeln muß, wie sich bald herausstellen wird. Wer weiß, wer das ausgeheckt hat. Wahrscheinlich kommt Isaac gleich aus einem der vielen Staubmauselöcher gekrochen und stellt ihm ihre frühere Kollegin aus dem Théâtre du Soleil vor. Er baut sich auf und hebt an: «Die erste und einzige und auch letzte Frau, Ehefrau, wohlgemerkt, die ich hatte, wurde vor dreißig oder noch mehr Jahren durch einen Richter einer Stadt geschieden, in die ich nur gefahren bin, weil ich zur Anwesenheit bei einer Moralposse gezwungen wurde, die man seinerzeit Sühnetermin nannte, mit dem Irreparables wieder geflickt werden sollte. Und ich, soweit ich mich erinnere, auch von ihr. Das vermute ich mal. Denn ein Scheidungsurteil habe ich nie erhalten. Oder es ist im Desinteresse verschwunden wie die Gedanken an diese Ehe, die lediglich deshalb zustande kam, da die Gesellschaft sich nicht unter den Rock gucken lassen wollte, wenn man nicht mit ihr verheiratet war. Weshalb ich mich ja auch getrennt habe. Von der Gesellschaft. Und seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Die Frau. Aber so dürfte sie sich auch wohl kaum verändert haben. Und selbst wenn sie zur Thalia mutiert sein und aus der Quelle Kastalia getrunken haben sollte», seine Stimme wird fester, das sich einstellende Bildungspathos gibt ihm Halt, «sehe ich noch immer keine Verwandtschaft.»
«Du gebrauchst nach wie vor viele Wörter. Aber ich liebe das ja. Dennoch muß ich dich korrigieren. Diese Quelle ist kein Jungbrunnen, in dem alte hitzige Köpfe baden. Ihr Wasser verleiht dichterische Hingabe. Und Begeisterung. Und die fehlt dir angesichts meiner. Papa Apoll wird das nicht mögen.»

Er ist weniger verärgert über diese Schlappe, als daß er sich wundert: Er kann sie nicht kennen. Solche Frauen kennt er nicht, die in den unterirdischen Geographien Alt-Griechenlands flanieren wie andere auf den Boulevards der Modezeitschriften. Er kennt allenfalls solche, die die immerselben Pfade der Kunstgeschichte kultur-, weil reflexionsfrei, aber repetiersicher rauf- und runtertrampeln. Ohne weitere Entgegnung geht er zögernd, aber dennoch und in dem Vorteil in ihre Richtung, sie verhältnismäßig gut sehen zu können, während er die dünnen vierzig Watt des milchigen Dänenklassikers an der Flurdecke im Rücken hat. Er sieht ein schlankes, markantes, ja interessantes Gesicht mit dem Teint der südlicheren Bewohner unseres Kontinents, die nicht nur kraft ihrer Intelligenz nicht in die Sonne gehen, um sich bräunen zu lassen. Ein solches Gesicht setzt sich nicht äußeren Strahlungen aus. Er spürt sie eher, als daß er sie sieht, diese unvergleichlich schöne «sanfte, olivfarbene Haut, die niemals braun, niemals rot wird und an welcher die Sonne, der Wind, der Regen und selbst das Alter machtlos vorübergleiten».1 Joseph Roth hatte mit seinem Lobgesang auf Lauras Schwestern zwar die schöne Arlesierin eliminiert, die er für eher herb, langnasig, schmalmündig, römisch-provençalisch hielt. Aber entscheidend ist dabei, daß in dieser zur schönen Avignonerin mutierten schönen Arlesienne «alle Rassen der Erde» vereint seien. Da sitzt sie also. Auf circa einen Meter an sie herangetreten, sucht er ihre Augen. «Wenn Sie gestatten, möchte ich jetzt doch Licht machen — um zu sehen, was der Thespiskarren hier abgeladen hat.»

«Hätte ich es bislang nicht gewußt, daß du es bist, jetzt wüßte ich es. Du sprichst wie ein bescheidener Fleurie, vielleicht auch nur etwas zu umfangreich. Aber das ist es, was wir Franzosen lieben. Wir sind in dieses pathetische Plastik vernarrt. Bei dir gerät es noch zur schönen Form, wenn du an die Rampe trittst. — Ah! was sage ich. Didier, nein, ich will dich nicht verärgern. Es geht auch ohne Scheinwerfer. Ich sehe dich gut. Ich muß nur die Augen schließen.»

Er gerät wieder ins Wanken. So unterläßt den nächsten Versuch, seinen Besuch bei Licht zu betrachten. «Gnädige Frau.» Im Ahnungsvollen fällt er endgültig in ein lückenfüllerisches Sprechgestoppele, auch wenn sie es gerade ironisiert hat, das ihm aber dennoch Gelassenheit vorgaukelt. «Was auch immer das bedeuten mag, es mag positiv sein, daß sie mich so verinnerlicht haben, daß ich zu Ihrem Innenleben gehöre, das sie mich blind am ehesten sehen läßt. Doch das, was ich mit geöffneten Augen sehe, entbehrt auch nur jeder Vorstellung dessen, wen ich vor mir haben könnte. Und wenn sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagen, was mir die Ehre verschafft, dann können sie die Augen öffnen und die Tür schließen. Von außen.» Er setzt eine Pause, während der er ihr gerade ins Gesicht, in die Augen schaut. Sie sind schwarz, zumindest sehr dunkel. Mehr gibt das Licht nicht her. Er hört sein Herz im linken Ohr schlagen. Doch dieses Mal ist es kein Unbehagen. «Wenn ich es auch bedauern würde», fügt er hinzu, den Ernst untertönig überspielend.

«Es freut mich, daß du langsam zu dir kommst.»

«Halt, daß hier keine Mißverständnisse entstehen.» Er wird laut. Es fällt ihm ohnehin nicht schwer, laut zu werden. «Es kommt mir, und zwar hoch! Ich will jetzt verdammt nochmal wissen, wer sie sind, wie sie hier reingekommen sind und was sie, was erschwerend hinzukommt, von mir wollen! Diese Wohnung ist meine Wohnung, und sie sind unberechtigt in sie eingedrungen. Wie, das werden wir schon noch herausfinden.» Er redet sich in Rage, fügt allerdings sogleich beschwichtigend an: «Oder auch nicht.»

Denn der Ärger wird geschwächt, sobald er das Gesicht wieder ansieht. Es ist schön. Es ist geradezu erschreckend schön. Und nun ist es eindeutig. Jetzt sieht er es auch ohne Scheinwerfer, seine Augen haben es auch im Halbdunkel fest im Blick. Ja. Es ist dieses eine Gesicht.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Sa, 29.11.2008 |  link | (1753) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage















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