La Déesse. Cul.

Zwei-Tage-Intermezzo aus dem Zettelkasten

Am 14. Dezember 2001 hatte es doch tatsächlich geschneit in Marseille. Einen schlechten Witz hätte ich gemacht, ein Fanfaron, ein Prahler, ein Aufschneider sei ich. Darin sei ich mittlerweile ein echter Marseillais. Schnee. Einen Zentimeter? Vielleicht gar einen Meter? Der Pariser, der die Stadt ja noch nicht richtig kannte, weil der TGV erst seit kurzem direkt und in drei Stunden ans südliche Meer brauste, hätte gesagt: einen Meter breit, vielleicht gerade noch über die Breite der (oder des: le) Canebière. Oder vielleicht hätten die Drogenfahnder vom weitverzweigten Mund der Rhône ein einstmals draußen auf einem marokkanischen Kutter entgegengenommenes und irgendwie in Vergessenheit geratenes Paket auf der einstigen Prachtstraße verloren, nachdem sie bei Toinou in vorweihnachtlicher Stimmung ein bißchen heftig Mais où sont les neiges d'antan* gesungen haben.

Prachtstraße? Ah, ja, genau, Canebière. Dort, in der winzigen Verbindung rue Vincent Scotto zwischen Canebière und Cours Belsunce und nur wenige Schritte von meinem heutigen Baumhaus im vierzehnten Stock, befindet sich mein Lieblingskino: Les Variétés. Geschneit hat's da nicht. Da war's Juli, in der Provence. Im Film. Balzac. Jacques Rivette. La belle noiseuse. Darin wurd's warm, war's warm. Dort regnete es. Und zwar meine Tränen der Enttäuschung wegen Emanuelle Béart. Ich hätte unterhalb des elfenartigen Gesichtes dieser Violinistin Camille aus Claude Saudets Un cœur en hiver — auch im Winter will Ein Herz im Winter nicht weichen — doch eher einen ebenmäßigeren, sehr viel zarteren, sanfter proportionierten Körper vermutet. Die Béart hat ja ein Hinterteil wie — na ja, vielleicht nicht so sehr wie das der zauberhaften, immerzu singenden Madame Boubou von oben aus der kreolischen Vierquadratmeterküche hinter der place de Lenche. Wir sollen ja alle irgendwie aus Afrika abstammen, Madame Béart möglicherweise in noch direkterer Linie von der nördlicheren Geographie dieses zwischenzeitlich auch französisch befruchteten Erdteils. Aber daß die Actrice das so deutlich nach hinten ausladen muß. Na ja, möglicherweise sind da ein paar Gene in den nahen Osten hineingefahren.

Ein Chauvinist, ein typisch männlicher Widerling, ein Phallokrat sei ich, ein Salaud, ein Dreckskerl, würde ich solches äußern, das brachte mir diese Bemerkung ein. Es war aber auch ungewöhnlich, daß ich mich zu einem derartigen Bild hinreißen ließ. Vorstellen darf man sich das ja. Aber es auch noch sprechend schildern? Die mißratene Phantasie ist mir da wohl durch meinen urbürgerlichen Wortfilter gerutscht. Hätte ich meine Vorliebe für steißfreie Gazellen kundgetan, wäre die Kritik möglicherweise anders ausgefallen. Vielleicht leicht schamgerötet ob eines angedeuteten Kompliments? Dabei mache ich grundsätzlich keine Komplimente, da ich sie für ein verlogenes, unwürdiges Verbalrudiment aus der Zeit halte, als die Köpfe, bevor sie in die Körbe rollten, noch bleiweiß zugepudert wurden, auf daß man die Dreckskrater darunter nicht sehe.

Sie konnte vom Schnee in Marseille nichts wissen, da sie den TGV nach Paris genommen hatte, nicht den pfeilschnellen Direktzug, sondern die fünfstündige Bummelbahn über die Dörfer — Aix-en-Provence, Avignon, Valence und Lyon zum nach ihm benannten südbahnhöfischen Gare —, um überall auszusteigen und irgendetwas zu suchen, das ihr aus dem Leben gefallen war. Sie war nicht fündig geworden. Dafür hatte es dort geregnet. Und sicherlich nicht nur Tränen wegen der erfolglosen Suche. Dabei wollte ich ihr, als ich ihr in leicht schlingernder, ein bißchen ausweichender Erzählform ablenkend lediglich beizubiegen trachtete, daß ich mich ebenfalls auf der Suche befand, wenn auch nicht nach Menschen, sondern lediglich nach einer dauerhaften Behausung. Für mich. Ganz alleine. Denn das wollte ich bleiben. Für alle Zeiten.

Ich war am 14. Dezember 2001 also in Marseille. Und ich war eben ins Kino gegangen. Nicht nur wegen Madame Béart. Gut. Auch. Weil sie sich gerade ergab, die Hingabe. Nicht mir, sondern Herrn Piccolis Pinsel. Aber in erster Linie, weil's geschneit hatte und es für diese südlichen Gefilde ungewöhnlich und lausig kalt war. Denn dort friert man ja bereits bei Temperaturen jämmerlich, zu denen man sich's oben im Calvados hinter den Gefechtsstationen des letzten großen Krieges am Ärmelkanalstrand oder den leicht binnenländisch eingerückten Gärten in trauter Runde gemütlich macht. Und wenn dann erst der Mistral die Rhône hinunter in die Stadt reinbläst ... Na ja, der Wind aus dem Osten mit seinem Umweg über die Îles de Frioul herüber reicht manchmal schon aus für den Erfrierungstod. Sie haben nie verstanden, wie man so etwas genießen kann und dabei genüßlich lächelt, auch nicht im Sommer, wenn's den Kellnern die gefüllten Wasserflaschen vom Tablett fegt. Ein Barbar eben, einer, der nördlich von Lyon abstammt, wo ja bekanntlich keine Menschen leben.

Als ich ihr den Grund meiner winterlichen Anreise endlich vermittelt hatte, haute sie wutentbrannt ziemlich heftig auf die linke Ententür. Und ich versteckte mich hinter der Maltraitierten. Glücklicherweise hat sie es wenigstens unterlassen, den Kotflügel zu prügeln. Der wäre abgefallen. Und die anderen drei gleich mit. Wie ich's mal in einem Film bei einer Déesse gesehen habe, der Göttin, wie der Citroën DS in diesem wunderschönen, geradezu zauberhaften französischen Wortspiel auch genannt wurde. Wahrscheinlich bei Jacques Tati, ja, höchstwahrscheinlich, in Trafic. Wer könnte sonst derart komisch-ironische Bilder herstellen, die französische Göttinen doch sehr despektierlich zeigen, quasi ohne Unterrock? Französische Galionsdamen, Heiligtümer, über die sogar dieser rasierklingenscharfe Analytiker Roland Barthes — verständlicherweise — in elogenhafte Verzückung geriet: «Ich glaube, daß das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet. Der neue Citroën fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel [...] Die Déesse hat alle Wesenszüge [...] eines jener Objekte, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind [...].»** La Déesse, la Voiture et la Cathédrale. Alles weiblich. Vive la France! Ausgerechnet der Arsch, le cul, ist männlich. Wahrscheinlich, weil er Afrikaner ist.

Das sei alles nicht wahr! hatte sie noch gesagt. Sie säße in Paris, um einen Plan de bataille zu entwerfen, um so einen Affen einzufangen. Und der säße in Marseille im Kino, um einen weiblichen musculus glutaeus maximus, so sagte sie das tatsächlich, nicht etwa Sterz, zu begutachten.

Wäre ich doch bloß nicht am 14. Dezember 2001 in Marseille ins Kino gegangen, um mir le cul dieser Française d'Libanaise anzuschauen. Dann könnte ich heute gemütlich in meinem Baumhaus im vierzehnten Stock des Cours Belsunce hocken und befände mich nicht in diesem seltsamen Film.


* Aus der (hier übelst geklitterten) Ballade des dames du temps jadis von François Villon: Doch wo ist der Schnee vom letzten Jahr?

** Roland Barthes: Der neue Citroën, in: Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Helmut Scheffel; edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1976 (21. Auflage), p 76ff.; français: Mythologies, Éditions du Seuil, Paris 1976

 
Do, 01.01.2009 |  link | (2917) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


nnier   (01.01.09, 11:10)   (link)  
With the behind in mind
Mit ihm hier könnten Sie sich also nicht unbedingt einigen. Vielleicht ja bei dem Auto, das fast jeder liebt? Wohl auch eher nein. Crumb hat ja mal auf die Frage geantwortet, was er denn zur Verbesserung des Lebens in Amerika tun würde: Ich würde die Straßenbahnen wieder einführen!


jean stubenzweig   (01.01.09, 12:25)   (link)  
Hélas !
Das sind Proportionen. Tatsächlich kam mir der Achtersteven von Madame Béart damals so vor, wie Ihr Freund Crumb gezeichnet hat; mittlerweile scheint sie nicht mehr soviel Hirsebrei zu sich zu nehmen.

Crumb, lebt der nicht in Südfrankreich? Da braucht er doch nur nach Marseille zu fahren. Dort hat man, nachdem lange Zeit nur noch ein Bähnchen von Noailles nach St Pierre fuhr, die Tram wieder hochgerüstet. Zwar gibt es in diesen modernen Rennbahnen auch Sitzplätze, aber zu ganz bestimmten Uhrzeiten und in nördlicher Richtung dürften seine Phantasien wieder ihre Ausreißer haben und seinen Weltverbesserungswünschen nahekommen. Wenn's ihm nicht reicht, muß er nur auf den Markt im Quartier de Noailles. Dort ist nicht (fast) alles arabisch, sondern auch das schwarze Afrika schickt seine kunterbunten Damen dorthin zum Einkaufen. Und gut eng geht's auch zu (Noailles anklicken). Noch besser ist der Markt hinter der Porte d'Aix, wo's noch dunkler wird. Da wird sich sein Gesicht erhellen beim Anblick muskulöser und hintenraus starker Frauen (Restefisch und Rustikales).


jean stubenzweig   (01.01.09, 13:45)   (link)  
Quasi nachgeschlagene
Proportionen















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