Elfenbein und Meeresschaum




Bevor sie ins fensterlose Badezimmer seiner kleinen Fluchtburg hoch oben in der Rue Monge im Fünften ging, meinte sie noch beiläufig oder auch verschmitzt lächelnd, Liebe suche die Einheit, und die heiße nunmal Heirat und folglich Ehe. Daran führe kein Weg vorbei, jedenfalls in ihrem Blut einer Beurette, das immer aus der Moderne zurückfließe in die Behaglichkeit des Altbewährten. Ihm war gar nicht wohl bei diesem Gedanken. Sicherlich wünschte er sich kaum anderes, als weiterhin von den Gezeiten dieses Gefühlsozeans hin- und hergeworfen zu werden. Aber er fürchtete ebenso, darin qualvoll unterzugehen. Spätestens seit seinem letzten, nicht sonderlich lang anhaltenden, dafür aber weit zurückliegenden Versuch, Teil einer solchen Einheit zu sein, lebte er in einer Rüstung. Die hatte er nach seiner Flucht aus der Enge des Einsseins ausgerechnet dort gefunden, wo die Liebe zuhause sein soll. Doch immer wurde jeder Wunsch nach Berührung seinerseits zunehmend von der Angst vereitelt, sich verlieren zu können. Und nun sollte er freiwillig dort ins Wasser gehen, wo die Meere unterschiedlicher Kulturen zusammentreffen und deshalb die Wogen am höchsten hinaufschlagen?

War er anfänglich noch ein temporärer Besucher des einen oder anderen befriedigenden Hauses, reduzierte sich das Verlangen in dem Maß, als er endlich begreifen lernte, daß es sich dabei eben um nichts anderes handelte als um professionelles Anfassen. Doch eine Erinnerung hatte sich eben recht lange gehalten, die an eine Frau um die Dreißig, an eine, die auf dem unordentlichen Lager geäußert hatte, diese Zärtlichkeit sei sie nicht gewohnt. Sie hatte es genossen, und er nicht minder. Doch wahrscheinlich war das im Gewerbe eigentlich strikt untersagt und sie einfach noch zu unerfahren gewesen. Vermutlich wurde sie, wenn sie's denn überhaupt berichtet hatte, von den Kolleginnen gerügt. Es könnte jedoch auch so gewesen sein, daß auch sie in privaten Räumen gerade niemanden für die andere Liebe zur Verfügung hatte und sich ein wenig davon kommen ließ. Wie auch immer, es hatte sich eingegraben in ihn. Es war ein so herrlich angstfreier Austausch von stofflichen und nichtstofflichen Entäußerungen. Er hatte seine sanften Berührungen bekommen und konnte anschließend wieder gehen. Es gab keinerlei Verpflichtung, sich auch noch um das Innenleben dieser Person kümmern zu müssen. Allerdings hätte auch kein Jota Energie zur Verfügung gestanden. Sein Mikrokosmos hielt noch den geringsten Teil des ohnehin schon reduzierten Gefühlshaushaltes als eiserne Reserve für die Abwehr der Angriffe von außen zurück. In der Ökologie der Gefühle war die Seelenkraft für das Wesentliche reserviert: für das Ich.

Nach zwei, drei weiteren Versuchen, dieses Erlebnis über die Mär von der käuflichen Liebe aufzufüllen, hatte er es aufgegeben. Es mußte sich um einen Ausnahmefall gehandelt haben. Dieser köstliche kleine Tod, wie man ihn hier nennt und wie er ihn für sich erweitert hatte, war ohne ein intensives Miteinander offenbar nicht zu sterben. Denn das erfordert Hin-, wenn nicht gar Aufgabe. Doch eine solche Kraft brachte er nicht auf. Also lenkte er den Energiefluß auf sich selbst. Die Gefahr, in sich umzukommen, war nicht so elementar, als durch eine Liebe hingerichtet zu werden, die einem ein anderer Mensch abverlangte. Sobald sich erste Anzeichen einer Gefährdung der inneren Sicherheit ergaben, wurde das platonische Prinzip hochgelobt, im Härtefall nahm er auch das Argument gleichgeschlechtlicher Neigung zuhilfe, was allerdings noch mehr Nähe zur Folge haben konnte, worauf die Verbindung strikt unter-, nein, abgebrochen wurde. Um des eigenen Seelenfriedens willen geriet er auch körperlich zum Eremit. Aber das ist ja wohl auch der Sinn eines solchen Daseins. Andererseits taugt zu einer solchen Existenz nur der, der dafür geschaffen ist, der Frieden mit sich oder einer höheren geschlossen hat. Bei ihm war es eine Tugend, die ihm die Not einer Einsamkeit geschaffen hatte, die nur im Alleinsein erträglich war.

Manchmal stahl er sich winzige Berührungen des Inneren über das Äußere bei Anlässen, bei denen er sich nicht unbedingt dem Verdacht aussetzte, gefühlsselig zu sein. Eben nur dann, wenn ein Ast aus einem fremden Garten überhing. Aber es geschah nie bei solchen höchst seltenen Wesen wie dem, das in diesem gleichermaßen gefahrvoll nahen wie endlos fernen Badezimmer wünschte, ausgerechnet ausschließlich von ihm gereinigt zu werden. Von ihm, dem der Angstdreck aus allen Poren lief, er könnte in einen Abgrund geraten, aus dem er sich vor langer Zeit gerade mal eben noch hatte retten können. Es war die peinigende Furcht, es könnte eine Liebe heranwachsen, sie durch Zärtlichkeit noch befruchten, die irgendwann am Zenit angelangt sein würde. Und der Zenit ist der die Zeit tötende Übergang aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Zukunft wäre damit eliminiert. Und mit der getöteten Zukunft wäre auch die Hoffnung gestorben — die Hoffnung wenigstens auf das Standbild einer Episode. Er als Bewahrer des Stillstands aber wollte diese gerade langsam wieder in Bewegung geratenen Bilder nicht. Der Film wühlte sich ohne Rücksicht auf seine Sehnsucht nach immerwährender Dunkelheit aus den Abgründen seines Gedächtnisses ins Licht des Projektors. Hauptdarstellerin war diese Frau, der er die Zukunft geraubt hatte, indem er ihr gegenüber Regungen zeigte, die sie für Liebe hielt. Und das alles nur, um sein Bild von Gegenwart zu konservieren. Mochte Pygmalion doch Aphrodite herbeipfeifen, um seine Statue zu beleben — er hatte Angst vor dieser Göttin. Und wenn er jetzt in dieses Badezimmer ging, das ohnehin immer auf Körpertemperatur gehalten war, würde Blut fließen. Aphrodite hatte wahrscheinlich ihr Operationsbesteck schon wieder vorbereitet. Mochte die sich überall einmischende Schaumgeborene doch anderen ihren Genitialienmeerschaum injizieren. Er wollte sein reines, strahlendes, unbelebtes Elfenbein behalten, das ihm Leben gab. Wie es war, in seiner göttlichen Konsistenz.

Doch dann ... Die zweite Flasche eines einige Jahre alten Gloria hatte die Erinnerung in ihm abgerufen und sie mit Sehnsucht gepaart. Wie der Kleinwüchsige aus Albi kam er sich vor in diesem angenehmen Etablissement mit dem freundlichen Personal. Dann stand auf einmal sie vor ihm und lächelte ihn an. Sie hatte sich verändert und hier ihre Position eingenommen. Ihretwegen ließ er fortan alle seine Grundsätze fahren, er wurde ständiger Gast des Hauses. Es folgten beinahe tägliche Spaziergänge im Jardin, dann regelmäßiges frühabendliches Speisen drüben bei ihrem Landsmann im Dreizehnten, jeweils bevor sie ihrer Tätigkeit an der Place de la Bastille nachging. Immer öfter kam sie danach zu ihm hinauf unters Dach und unter die Decke. Zusehends enger wurde es in der kleinen Behausung, die dem unauffälligen, weil hellhäutigen Sans Papier für nicht wenig Geld untervermietet worden war, nicht nur der Koffer und Taschen wegen, die sie nach und nach mitbrachte.

Nun sitzt er am Tisch wie der Rest eines zerrütteten Denkers. Die Tür des Badezimmers öffnet sich. Aus der Perspektive des diffusen Sonntagswinterlichts im Flur strahlen die fünfmal sechzig Watt des Badezimmers sie von hinten aus, als ob’s in einem dieser schrecklichen Fünfziger-Jahre-Filme aus Hollywood stattfände. Aber das ist eben nicht Doris Day oder Ava Gardner und sonst eine dieser Vorläuferinnen der Barbie-Puppen. Das ist eine olivfarbene Statue, bekleidet von seinem weißen Frottéebademantel, den sie einmal um sich herumwickeln könnte, der jedoch lose und offen an ihr herabhängt. Er möchte Elfenbein riechen. Aber der Geruch von Meeresschaum dringt in ihn ein. Gäbe es nicht eine Vergangenheit zwischen dieser Skulptur und ihm, sie begänne wohl in diesem Augenblick. Es ist jedoch bei weitem nicht nur der zum Duft mutierende Geruch, der ihm den Atem nehmen will. Es ist die Zukunft, die ihm die Luft abschnürt. Dieses Morgen, das ihm sein Standbild verwackelt. Die Angst rüttelt in seinem Kopf. Doch das Leben ist bereits anwesend. Es ist in sie gefahren.

Er würde nun wohl weiterziehen müssen.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Mi, 23.09.2009 |  link | (3689) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (23.09.09, 22:50)   (link)  
Fantastisch. Großartig. Ihre dahingestreuten Erzählungshappen lese ich mit dem allergrößten Vergnügen.


jean stubenzweig   (24.09.09, 05:43)   (link)  
Eine solche Reaktion
verschönert mir den Tag (die Nacht). Ich danke Ihnen.

Anmerken sollte ich vielleicht ganz vorsichtig, daß ich gestern, als ich die kleine Erzählung in die Öffentlichkeit geklickt hatte, selbst recht zufrieden dreinblickte. Es wurde ja auch Zeit, mich mal aus Marseille herauszubewegen. Denn auch mein Paris erzählt mir ständig irgendetwas.

Und längst ist aus der Erzählung ein Plural mit rund achthundert Seiten geworden (für die vielen Ururenkels; wenn die überhaupt noch lesen können, und wenn tatsächlich noch, es auch wollen ...).


aubertin   (24.09.09, 13:30)   (link)  
oui, magnifique !
't embrasse

Yves


venice_wolf   (25.09.09, 12:08)   (link)  
weiter so...
...aber leider habe ich nicht die Zeit alle Beiträge zu lesen...
Saluti da Venezia


jean stubenzweig   (25.09.09, 17:41)   (link)  
Irgendwann
kommt die Zeit auch nach Venedig ...















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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