Hohe Zeit. Wunderwein.

Hohe Zeit. Anstieg.; Talstation.; Traumhafte Lage.

Der Wein zum ausgezeichneten Entrecôte schmeckte ebenso, nur anders, den anderen Inhaltsstoffen gemäß eben. Er konnte ihn nicht zuordnen. Die Eltern seiner Gastgeberin hätten, ließ die ihn wissen, sich vor zwei Jahrzehnten günstig ein kleines Weingut im Nordwesten von Lyon gekauft, dessen Besitzer die Lust verloren und wohl auch keine Erben hatte, die sich die Arbeit antun wollten. Der Vater wollte Abwechslung vom vielen Geldverdienen und auch mal welches ausgeben. Nach einiger Zeit entstand ein Wein, der nur für die Familie und deren Freunde angebaut wurde. Die Wohnzimmer-Betreiber Sami und Dienne gehörten dazu. Und nun wußte er, wie ein anderer als der europaweit angebotene, champagnerartig immergleichgemachte Chardonnay schmeckt, in diesem Fall angereichert mit kleinen Anteilen von Pinot Blanc.

Darin könnte er, wollte er still in sich hineindenken, gut zum Weltvergessen beitragen, als seine Hausmutter mundvoll und nachspülend nickend meinte, auch ihr Vater sei sich bewußt, nach der Zeugung seiner Kinder noch einmal Höchstleistung vollbracht zu haben. Seit sie alle diesen Wein tränken, hätten sie sich von der Welt ab- und sich selber zugewandt. So vertrete der ältere Bruder als Rechtsanwalt zwar nach wie vor fast die gesamte nicht recht koshere christliche Gesellschaft der Stadt, aber er tue dies, seit seiner Scheidung von einer weiteren höheren Tochter der Handels- und Finanzkommune, in Frauenkleidern. Seine Klientel sorge sich nach anfänglichen Irritationen nicht mehr weiter, da er mit seinen Rechtsauslegungen überaus erfolgreich sei; seit er sich vor einigen Jahren zu ihrem respektive seinem Geschlecht bekannt hatte, war nicht ein Prozeß mehr verlorengegangen. Seitens der Richterschaft werde schon seit geraumer Zeit in Erwägung gezogen, ihn wieder ins Althergebrachte zurückzuzwingen, ihn zumindest vor Gericht wieder als Mann auftreten zu lassen. Doch dem Männerbund fehle jede rechtliche Handhabe, zumal er namentlich immer als der auftrete, der er nach der Geburtsurkunde ist. Lediglich privater Post füge er eine Kleinigkeit an, so daß er mit einem schlichten Stäbchen den großen Schritt in die Welt zumindest der geistigen Geschlechtsumwandlung quasi unterstreiche. René(e) sei längst auch an internationalen Gerichtshöfen bekannt wie eine bunte Tunte, aber eben nicht als Hofnärrin, sondern als wilder Feger des Rechts und dessen sich bietenden Möglichkeiten. Auch halte er es wie der älteste Bruder, der als quasi gut florierende Zahnärztin — der Vater habe eben immer nur Mädchen gewollt, weshalb wohl der Zweitälteste frauengerechte Häuser baue — die einen völlig überteuert liqudiere, um die anderen kostenlos behandeln zu können. Unter anderem sei der eine oder andere ehemalige sans papier keiner mehr, da der Bruder ihm zu einer neuen Identität verholfen habe. Sie liebe ihre obendrein musisch veranlagten Robins sehr.

Photographie: Jessie Romaneix CC oder L'homme qui aimait les femmes

Lediglich die Schwester sei ein wenig aus der Art geschlagen, da sie immer wieder das Glück dieser Erde auf dem Rücken eines Mannes suche. Allerdings lebe die auch im teuren Paris sowie überhaupt inmitten von Illusionen. Das möglicherweise Entscheidende könnte allerdings sein, daß sie ihrer eher seltenen Heimatbesuche wegen diesen wunderbaren und -samen Wein nicht so recht nachgeschoben bekomme, und wenn sie denn tatsächlich ein paar Flaschen mit in ihre Dachstube in der Rue Monge brächte, die sie früher einmal teilte, seien die jedesmal innerhalb kurzester Zeit ausgetrunken und sie müsse sich anschließend immer wieder auf die Suche machen. Nach einem neuen Mann. Vielleicht sollte sie, gab sie dem letzten Bissen dieses nicht minder wunderbaren, ebenfalls aus familiarem Anbau stammenden Entrecôte mit auf den Weg, öfter mal nach Hause ins schöne Lyon kommen. Hier hielten sich in letzter Zeit so viele wundersame Männer auf, die allesamt die Frauen sehr zu lieben schienen.

So langsam schien er endgültig zu erfassen, in welch seltsame Umgebung er einmal mehr in seinem Leben geraten sein könnte, und dachte erneut an eine baldige und definitive Weiterreise, zumal er sich offensichtlich auf einem Feld befand, auf dem es für ihn nichts zu bestellen gab. Vor allem diese exotische Blüte namens Anouk war offenbar bestens assimiliert, wenn auch unter Umständen, die seinen Vorstellungen nicht unbedingt entsprach. Um so abwegiger kam es ihm vor, ausgerechnet hier sozusagen abgeholt worden zu sein. Andererseits hatte diese Landschaft allein des sich andeutenden, nicht nur gastronomischen Abwechslungsreichtums ihre Reize. Und zu prallem theatralischen Umfeld fühlte er sich obendrein von jeher hingezogen. Das schien hier geboten. Überdies stand es heute abend an. Das wollte er dann wenigstens noch mitnehmen.

Was denn gegeben werde, fragte er seine Nachbarin zur Rechten, ohne sich noch größerer Hoffnung auf Erhörung hinzugeben. Aber von der Anmut konnte er auch nicht lassen, die sich ja erwiesenermaßen draußen als Schönheit präsentierte, und sei sie noch so entfernt. Mit einem Lächeln, das durch diesen Wein offenbar noch verzückender geworden zu sein schien, antwortete sie, extra für den englischen Besuch, auf daß er sich ein wenig heimisch fühle, werde ihm heimatlicher Stoff geboten, wenn der auch im wärmeren Süden angesiedelt sei, wo der Engländer sich ja bekanntermaßen ohnehin wohler fühle, was sich merklich auf die Weinpreise südlich der Loire auswirke. Und man ginge schließlich in ein Opernhaus, deshalb geschähe es in musikalischer Form. Seinen neuerlichen Versuch, die ihm anhaftende Herkunft zu verneinen, wischte sie mit der Bemerkung weg, wer wisse heutzutage schon, woher er komme und von wem was stamme, selbst Shakespeare habe vermutlich nicht gewußt, welch herausragender Dramatiker er gewesen sei.

Selbst Sami und Dienne hielten sich Polen zugehörig, was wohl damit zusammenhänge, daß sie als pieds-noirs in den sogenannten Kommunismus geflüchtet seien, da sie sich dort willkommener fühlten als in dem Land, dessen Bürger sie eigentlich sein sollten. Ursprünglich müßten sie wohl tatsächlich einmal Polen gewesen sein, was aber einige hundert Jahre zurückläge, als sie einem Fürsten namens Stanislaus untertan und mit ihm nach Lothringen gezogen waren, wo er eine hübsche Architektur hinterlassen habe, die heute vornehmlich dem glanzvoll aufpolierten Tourismus der kleinen bürgerlichen Sehnsüchte nach Adelung diene. Als die Vorfahren dann nichts mehr zu beißen gehabt hätten, seien sie nach Nordafrika aufgebrochen. Das kolonialisierende Frankreich habe seinerzeit alles genommen, was habe krauchen und siedeln und auch ein bißchen schießen können. Dann wurde zurückgeschossen, auch in der dann wieder neuen Heimat. Weshalb sie sich für die ganz alte entschieden hätten. Daß sie auch von dort wieder flüchten mußten wegen anderer, weniger politischer als mehr gesellschaftlich bedingter Unvereinbarkeiten, belege nur, welchen Wert eine Nationalität oder ein Paß darstelle. Sie selbst spüre in sich eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der Unüberwindbarkeit dieser ganzen Wälle, die rundherum um einen aufgetürmt würden. Man getraue sich ja gar nicht mehr hinaus aus dem Kontinent, vor lauter Furcht, nicht mehr hineingelassen zu werden. Selbst eine traute Heirat garantiere heutzutage keine Heimat mehr.

À propos Heirat. Es sei an der Zeit aufzubrechen, um zu schauen und zu hören, welches Gewese zu des alten Herrn Shakespeare Zeiten darum gemacht wurde. Um die Widerspenstigen zu Lebzeiten kümmere man sich später.

Das wird wohl Folgen haben.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Do, 03.12.2009 |  link | (2054) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit


uferblume   (05.12.09, 10:59)   (link)  
Frühe Stunde
Diesen vielen links machen mich beim Lesen banane. Ehrlich gestanden.
Und die Geschichte liest sich sehr schön, aber mir erschließt sich der Inhnalt nicht.


jean stubenzweig   (06.12.09, 11:56)   (link)  
Das Verlinken
schafft die Möglichkeit, immer neue oder auch erläuternde alte Verbindungen herzustellen sowie zu bebildern. Man muß es ja nicht anklicken.

Die Geschichte selbst ist ja eine in Fortsetzungen, was auch oben ersichtlich und unten festgehalten ist. Wo sie hinführen wird, habe ich selbst erst im Kopf.


nnier   (05.12.09, 11:41)   (link)  
Wie heißt das
eigentlich bei Getränken: auch Appetit? Durst jedenfalls ist es nicht, der sich da beim Lesen regt, aber doch ein ziemlich reges Interesse an einem solchen Tropfen. Sie haben nicht zufällig noch ein Fläschchen davon vorrätig?


uferblume   (05.12.09, 14:09)   (link)  
Lust
heißt es, bei Getränken. Man darf durchaus Lust auf einen guten Tropfen haben, wenn´s mensch nicht dürstet.
Meine ich jedenfalls.


jean stubenzweig   (05.12.09, 17:21)   (link)  
Mit dieser Lust
kann ich leider nicht dienen. Ist doch alles Traumschaum hier!

Nein, stimmt so ja auch wieder nicht. Andere vor mir haben ja für mich vor langer Zeit festgestellt, alles sei autobiographisch. So gab's auch diesen außergewöhnlichen Wein. Und ich bin sicher, es gibt ihn noch. Ich muß nur mal wieder hinkommen. Gründe genug gäb's ja.


uferblume   (06.12.09, 18:27)   (link)  
Schon wieder
so ein scheußlicher Link, der mich verführen will, ihre Geschichten zu lesen.
;-)
Den von den Herren im Anschluß geäußerten philosophischen Gedanken über das Wesen der Läbberwurscht und die Mysterien der Weiblichkeit kann ich jedenfalls einigermaßen zustimmen.















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