Hohe Zeit. Anstieg.

Lyon hatte ihn eigentlich nie interessiert, wahrscheinlich, weil die Stadt nicht am Meer lag. Doch die schwarzfüßige Freundin, die er seit der Londoner Zeit im gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis still begehrte und die vor einigen Monaten wieder ins heimatliche Ardèche zurückgekehrt war, um ihrem sechsjährigen Sohn einen bodenständigen Vater zu geben, nicht einen solchen allzu lebensfreudigen Tunichtgut wie dessen Erzeuger, der vermutlich seiner Realitätsignoranz wegen mit einer tödlichen Apoplexie bestraft worden war, schwärmte ihm immerzu von den zwei Wassern vor, die die Presqu'ile spielerisch umfaßten und liebkosten und zur Rhône vereinigt den Süden eröffneten. Diese Situation sich anzuschauen, hatte er sich vorgenommen, vor allem aber die Oper der Stadt, die sie nie ohne Nachdruck erwähnte. Ein wenig erstaunt war er darüber gewesen, da die von ihr bevorzugt gehörten Stimmen einer anderen Lärmkategorie angehörten. Doch möglicherweise war es die Sehnsucht aller französischen Provinzler nach dem Triumphalen außerhalb der Hauptstadt. Denn diesem offensichtlich außergewöhnlichen Haus, das hatte er nachgelesen, war vor einiger Zeit neben Paris als einzigem der Status einer Nationaloper zugesprochen worden. Zudem war es seit Ende der achtziger bis in die neunziger Jahre von Jean Nouvel derart umgestaltet worden, daß ihm auch ohne Musik ein Ruf wie Donnerhall voraustönte. Dazu gehörte die Geschichte vom Tonnendach, auf dem es zu blinken begann wie die Energieanzeige eines hochfrequentierten Rotllichtviertels, wenn darunter die Ouverture einsetzte. Einige Gründe waren es, die ihn zu dem Entschluß gebracht hatten, dort aus dem Zug auszusteigen und für ein paar Stunden Station zu machen. Vielleicht ließe sich auch noch ein Treffen mit der mittlerweile Unerreichbaren arrangieren, die nicht allzuweit entfernt auf dem Land lebte. Dann würde er gegebenenfalls mit der letzten Bahn weiterfahren und immer noch vor den Wassern der Rhône in deren Mund angekommen sein.

Mit einiger Bewunderung hatte er die prachtvolle Architektur nicht nur des Opernhauses genossen, auch ansonsten fühlte er sich recht wohl in dessen unmittelbarer Umgebung. Unweit der Oper am Rand des Getümmels an der Place des Terreaux hatte er einen etwas ruhigeren Platz gefunden, wo er, wie er später erfahren sollte, obendrein einige Centimes weniger für den Pastis zahlen mußte als ein paar Meter weiter das Gemisch aus Touristen und Einheimischen, die die Nähe des für seinen Geschmack übermäßig schwülstig-pathetischen, aber eben sehr französischen Brunnens von Bartholdi suchten. Es sollte noch eine Weile dauern bis zum Wiedersehen nach längerer Zeit. Im Schatten der Mairie sitzend gab er sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, Menschen zu beobachten. Nach einer Weile spürte er, daß er selber unter Beobachtung stand. Behutsam, um keine größere Aufmerksamkeit zu erregen, drehte er seinen Kopf leicht nach rechts, um zu prüfen, wer ihn da vermeintlich einer genaueren Betrachtung unterzog. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, den Blick sofort wieder abzuwenden, ließ er sich von diesen sehr wach blickenden Augen in einem offenen Gesicht fixieren. Ihm war, als ob er eine Herausforderung annehmen müßte. Das löste ein Lächeln aus in dieser zweifelsohne südlichen, fast hageren Physiognomie mit leicht schiefgesichtigen Zügen, der ein Nicken folgte sowie ein freundliches Bonjour Monsieur. Ein freundliches Gespräch entspann sich, das die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin zum Inhalt hatte. Bereitwillig antwortete er auf die gleichwohl dezent geäußerte Neugier und stellte bald fest, daß die einzige Distanz zwischen der etwa Vierziggjährigen und ihm die beiden quadratischen, unbesetzten Tischchen zu sein schienen. Behaglich lehnte er sich zurück und bestellte einen weiteren Anis. Die Einladung zu einem für sie lehnte sie dankend ab, es sei ihr noch zu früh für Alkohol, doch auch einen weiteren Café oder zumindest noch ein Wasser wollte sie nicht annehmen. Im Lauf ihrer beider Unterhaltung kristallisierte sich ein offensichtlich elementares Wissen seiner Gesprächspartnerin über die Stadt heraus, in der sie lebte. Seine so entzündete Wißbegierigkeit mündete in ihre Frage, ob sie ihm ein wenig der Umgebung zeigen dürfe.

Als er den Kopf schüttelte, um abzulehnen, klingelte sein Telephon. Er entschuldigte sich für die Unterbrechung und nahm das Gespräch entgegen. Das Auto war kurz hinter Annonay liegengeblieben, nichts Dramatisches, aber eine Weiterfahrt sei nicht möglich. Ob er nicht doch eine Nacht bleiben wolle, dann könne er am Abend unters Rotlichtdach schlüpfen und man sich morgen sehen. Er verwies auf ein nicht verschiebbares Treffen, das über seine Zukunft entscheiden könnte, schließlich müsse er nach Beendigung seines über zehnjährigen Studiums der brotlosen Geisteskünste so langsam eine Orientierung finden, von der er zwar nach wie vor nicht wisse, wo ihr Licht aufgehe, aber wenigstens ansatzweise solle der Horizont in Richtung Praxis erweitert werden. Ein Weilchen würde er noch durch die Stadt bummeln, jedoch am Abend mit der Bahn weiterfahren.

Er wandte sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu, entschuldigte sich nochmals für die Unterbrechung und wollte auf ihr Angebot eingehen. Sie unterbrach ihn und meinte, er habe nun dann doch Zeit. Lachend nahm er an, zahlte, seinen Versuch, ihre Rechnung mit zu übernehmen, hatte sie abgelehnt, und so brachen sie auf. Da er die Oper bereits kenne, sagte sie, zeige sie ihm gerne zunächst ihr Quartier. Das ehemalige Weberviertel halte sie sowohl historisch als auch aktuell ohnehin für interessanter als die großbürgerlich restaurierte Pracht, zumal Croix-Rousse demnächst mit Sicherheit eine geschichtsklitternde Gewalt bevorstünde, man zum jetzigen Zeitpunkt also noch etwas vom Ursprünglichen sehen könne, und bog direkt nach rechts in eine geradezu steil nach oben führende Gasse ein, deren Bebauung im extremen Widerspruch zu den Gebäuden sowie der gleichwohl kaum wahrgenommenen zeitgenössischen künstlerischen Aufwertung des zentralen Platzes durch Daniel Buren stand, an dem sie gesessen hatten.


Die Fortsetzung taumelt noch durch die Gehirnwindungen.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Di, 29.09.2009 |  link | (2788) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit


damenwahl   (29.09.09, 11:44)   (link)  
Ich habe gerade nach zwei Wochen mein erstes Bonjour Madame gehört und mich auch gefreut. War allerdings nur der Kabinensteward, nix Einladung und Rundgang. Mein Kollege meinte, ich solle doch über Johannesburg fliegen und mir auf dem Rückweg Südafrika anschauen, aber je mehr ich bei Ihnen lese, desto mehr will ich erst mal Frankreich in Ruhe anschauen!


jean stubenzweig   (29.09.09, 15:46)   (link)  
Bonjour Madame !
Es ist angenehm, von Ihnen zu lesen.

Das ist aber auch mehr als bedauerlich – da sitzen Sie am Rand des Herzens von Frankreich und und sehen nichts von dieser schönen Gestalt. Aber in Kürze können Sie ja wenigstens wieder parler français, und das tun Sie ja sicher längst nicht mehr comme une vache espagnole.

Kommen Sie nicht unter die (kongolesischen) Räder!


damals   (29.09.09, 22:16)   (link)  
Ich bin gespannt. Taumeln Sie sich bitte schnell aus!


jean stubenzweig   (01.10.09, 16:21)   (link)  
Ich bitte um Vergebung,
bei da ... da habe ich schlicht die hier öfters stattfindende Damenwahl (siehe zwei Etagen über Ihnen) assoziiert und eine erneute Antwort als für nicht notwendig erachtet. So richtig wahrgemommen, daß es sich um anderen Besuch handelt, habe ich um einiges später ...

Ursprünglich wollte ich ja nur knapp eine Geschichte wiedergeben, die ich mal erlebt habe. Aber dann hat mich ein Virus angefallen, der ständig neue Bilder produziert und einen Schriftdurchfall ausgelöst hat. Und sie haben mich dann auch noch bestärkt, es laufen zu lassen.

Es hat sich jedoch noch längst nicht ausgetaumelt. Wer weiß, was daraus noch wird, denn immer mehr Filmchen laufen los in meiner Erinnerung an eine sehr, sehr schöne Zeit in Lyon – die allerdings ein klein wenig schlichter abgelaufen ist als in der hiesigen Erzählung, in der die Phantasie den Pinsel geschwungen hat und weiterhin schwingen wird. Aber ein bißchen Wirklichkeit steckt ja in jeder Lüge, Wahrheit auf jeden Fall.















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