Hohe Zeit. Talstation.

Fortsetzung von Hohe Zeit. Anstieg.

So steil, wie er von unten aussah, war der Weg denn auch tatsächlich. Ältere Besucher der Stadt dürften sich diesem Teil vermutlich eher weniger zuwenden, da die Besichtigung einer Bergwanderung nahekam. Tatsächlich tummelten sich überwiegend jüngere Menschen in den zahlreichen Gassen. Bevor er danach fragen konnte, erklärte seine Reiseführerin ihm, durchaus lebten auch Ältere im insgesamt doch recht großen Quartier. Sie verließen das Viertel jedoch kaum, und an den vielen kleinen Plätzen gebe es überall leicht erreichbare kleine Läden, meist von arabischstämmigen Familien betrieben, wo man sich ausreichend versorgen könne. Und wer nicht mehr gut zu Fuß sei, dem käme nahezu ausnahmlos Unterstützung durch die jüngeren Mitbewohner zu, die dann auch umfangreichere Besorgungen miterledigten. Zwar sei Croix Rousse in Gefahr, da seit der Ernennung vor zwei Jahren zum Weltkulturerbe die Immoblienhändler wie ein ausgehungertes Wespenvolk ausgeschwärmt seien, momentan stünde das soziale Gefüge jedoch noch geradezu romantisch intakt im alten Gemäuer, was sich auch in der Anzahl der kleinen Bars und Restaurants mit ihrem verhältnismäßig heterogenen Publikum zeige. In einigen koche man mittags und abends quasi für die Nachbarschaft mit, zu Preisen, die oftmals unterhalb der Kosten für ein selbst zubereitetes Hauptgericht lägen, man jedoch nie ohne amuse-gueule sowie Käse und Café wieder nach Hause ginge, das Glas ordentlichen Weines nicht zu vergessen. Ein wenig würde auf diese Weise auch das vermutlich aus der Zeit der Revolution überkommene Recht eines jeden auf ein schmackhaftes Mahl weitergeführt, eine Art Ärmerenspeisung. So partizipiere ein jeder, auch beim Restaurateur bleibe noch ein wenig hängen, zumal dem Tourismus an der Place des Terreaux eine Grenze gezogen schien, die nur die ganz Mutigen überschritten. Aber der weltläufige Mensch fühle sich ohnehin eher auf der edlen Rue Edouard Herriot wohl, wo er sich bequem per le shopping bis zur feineren Place des Jacobins oder zur kaufhausbelebten Place de la République durchmondialisieren könne und unterwegs an fast jeder Ecke die weltweit prominenten Kulinaria geboten bekomme, die unter Frankreichs Flagge segelten. Es dürfe schließlich auch nicht vergessen werden, daß Lyons Stadtväter, irgendwo habe sie das gelesen, stolz auf die Partnerschaft mit dem in Planung befindlichen europäischen Fort Knox Frankfurt am Main seien.

In einer solchen bescheideneren Lokalität, fügte sie an, würde sie auch gerne eben rasch guten Tag sagen und nach ihrer Post fragen, da der Bote gar nicht mehr zu ihrer Wohnung hinaufsteige, weil sie ihr Croissant und ihren Milchkaffee durchweg in ihrem externen Wohnzimmer zu sich nehme. Manchmal sei er früher dran oder sie später, sie hätten unterschiedliche Rhythmen, so liefere er die Sendungen für sie gleich bei den Wirtsfreunden ab, die um sieben Uhr früh ihre Tür öffneten und sie oftmals erst um Mitternacht schlössen, wenn in sie und auch in ein paar Mittrinker nichts mehr hineinginge. Außerdem sei sie ein paar Tage verreist gewesen und habe zudem heute früh ihren Café quasi in der fernen Innenstadt nehmen müssen, um ihn beobachten und anschließend in Empfang nehmen zu können. Auch müsse er sich zunächst stärken, merkte sie beiläufig an und stieß dabei die Tür zum Lokal auf, da ihr Etablissement in der dritten Etage läge.

Irritiert folgte er ihr nach und suchte ihr Gesicht, um darin eine Erklärung zu finden. Doch sie befand sich sofort in einer recht lautstarken Begrüßungszeremonie, ein Teil südfranzösischer Gepflogenheit, der andere wohl freundschaftliche Lebhaftigkeit. Kurz danach wandte sie sich ihm zu, der immer noch verdattert an der Tür stand, und winkte ihn heran. Ihr Besuch aus England, stellte sie ihn vor, von dem er zwar noch immer nicht wisse, wie er heiße, aber das würde sich sicherlich gleich ändern lassen. Nun völlig außer Fassung stammelte er seinen Namen, den niemand verstehen konnte, vermutlich ebenso die Anmerkung, es müsse sich um einen Irrtum handeln, denn er sei keineswegs Engländer. Dann eben Schwede, bekam er zur Antwort, seinem Akzent nach sei das auch naheliegender, aber das spiele hier keine Rolle, Hauptsache kein Franzose. Zwei zwar bleiche, aber von den sandfarbenen Pigmenten Nordafrikas grundierte männliche Hände, auf denen sich die ersten Altersflecken auszubreiten begannen, streckten sich ihm über den Tresen entgegen, die er nacheinander leicht schüttelte. Seine Begleiterin zog ihn sanft zu sich heran und rückte ihm einen der vier hölzernen Barhocker zurecht. Dann wohl erst schien sie seine Irritation zu bemerken. Lächelnd meinte sie, er müsse sich nicht ängstigen, bei ihr sei er in bester Obhut. Er nahm einen Schluck von dem Pastis, den man ihm ungefragt hingestellt hatte. Ein Anflug von seltsamer Ahnung kam in ihm auf, nervös schaute er auf seine Armbanduhr. Einen Augenblick noch, kommentierte sie, mehr dem Männerpaar hinter dem Tresen als ihm zugewandt, seine hilflose Geste, dann gingen sie nach oben. Nein, so hatte er sich das nicht vorgestellt, schüttelte er den Kopf. Dann wollte er doch lieber den nächsten Zug nehmen, murmelte er in sich hinein. Dennoch tat er wie aufgefordert, trank seinen Pastis aus und folgte seiner Führerin.

Am Hauseingang drückte sie den in französischen Städten üblichen Zahlencode und sprach ihn dreimal deutlich aus. Er möge sich den bitte merken, da sie nicht wisse, wohin sie alle ihre Schlüssel verlegt habe und er sonst nicht hineinkönne ins Haus. Er wollte darauf hinweisen, daß das nicht notwendig sei, da er nach wie vor gedenke, in Kürze weiterzureisen, aber irgendetwas in ihm hinderte ihn daran. Allez, rief sie ihm kurz zu und federte im recht geräumigen Aufstieg ihm voran die Treppen hinauf. Er trat direkt in einen küchenähnlichen Raum, daneben ein fensterloses Badezimmer mit einer alten Wanne auf freistehenden Füßen, all das versehen mit einer wirren Dekoration aus blauen Plastikpflanzen aller erdenklichen Schattierungen. Am Ende des gepflegt wirkenden Küchendurcheinanders befand sich der Durchgang zu einem Saal, er schätzte ihn auf zehn mal zwanzig Meter. Auffällig waren die außergewöhnlich hohen Decken. Bis zu sechs Meter, beantwortete sie seine ungestellte Frage. Diese Höhe war der Webstühle wegen erforderlich. Von unten sehe das teilweise aus, als ob es sich um zwei Etagen handele, die meisten Mieter hätten, auch der exorbitanten Heizkosten wegen, Zwischendecken eingezogen. Hier habe sie ein paar Wände herausgerissen, zwar verboten wie das heimlich eingerichtete Badezimmer, weil hier schließlich nur Gewerbe betrieben werden dürfe, aber sie habe vorsichtshalber von ihrem Architektenbruder die Statik berechnen lassen. Hätte sie das alles angemeldet, wäre es ihr vermutlich genehmigt worden, doch dann hätte ein neuer Vetrag angestanden und ein mehrfaches an Miete. Um ihm das zu zeigen, habe sie ihn hinaufgebeten. Das sei nämlich die Gewalt, von der sie gesprochen habe, die man dem Quartier antun würde nach der Denkmalisierung durch eine in Altersschönheit schwelgende Weltbehörde, die offenbar von Menschen besetzt sei, die gewachsene Strukturen und Armut nicht kennen oder aber einfach ignoriere und sich in prachtvoller und vor allem gewinnträchtiger Umgebung wohlfühlenden Kommunalpolitikern willfährige Mitstreiter fände. Sie habe Paris verlassen, weil sie mit ihrem Gewerbe sich die Mieten dort nicht mehr leisten könne und sei in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Jetzt werde sie vermutlich umschulen müssen und Revolutionärin werden. Und das als Tochter der örtlichen Hochbourgoisie. Und da er, das habe sie ihm sofort angesehen, aus ähnlich schrecklichen Verhältnissen stamme, gehöre er hierher.

Wo er denn sein Gepäck habe, fragte sie ihn, sicher im Gare de Perrache, das müsse man wohl holen, denn es sei davon auszugehen, daß er am Abend mit ihr in die Rotlichtoper gehe. Sie brauche mal wieder richtige Musik. En direct. Eben nicht aus der Konservendose. Und anschließend ein gutes Essen. Oder besser vorher. Bei Sami und Dienne, dem alten Ehepaar da unten in der Kneipe. Er sei eingeladen. Die Stadt zeige sie ihm morgen. Am besten ruhe er sich zunächst einmal ein wenig aus. Sie zeigte ihm ein etwa drei Meter breites Zimmer, das bis auf einen winzigen Schrank völlig von einem Bett ausgefüllt war. Willenlos tat er, wie ihm geheißen und legte sich hin. Erschöpft genug war er.


Der dritte Teil windet sich noch durchs Gehirn.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Mi, 30.09.2009 |  link | (1924) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit















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