Schrei der Vergangenheit

Sie habe noch drei Kollegen, die bei seiner Hochzeit mitgefeiert hätten, erwähnt sie wie beiläufig, sie könne das durchaus belegen, wenn es sein müsse, einer der Mitakteure befinde sich ebenfalls in der Stadt. Heftig war's. Drei Tage lang. Oben an der Place de Lenche. Er meint, leichte Verzückungen in ihren Mundwinkeln zu sehen, während sie spricht, die Lippenmuskulatur scheint über das gewohnte französische Formen von Sprache hinaus zu sprechen, das Gesicht nahezu spitzmündig ganze Nächte genüßlich nachzuschmecken, als ob sie sich über ein Wochenende dort hätte einschließen lassen, wo der Champagner in den Trüffeln wächst.

Photographie: Jean-Pierre Jeannin CC

Erstaunt schaut er seine Gesprächspartnerin an, mit der er in der kleinen Bar sitzt, wie auch die Cafés hierzulande genannt werden, nachdem sie ihn im Panier an seiner alten Dame-des-Accoules angesprochen, ihn eine Weile angeschaut und dann gefragt hatte, ob er sie nicht wiedererkenne. Entschuldigt hatte er sich und es auf sein schlechtes Personengedächtnis geschoben. Nur allzu vage, von zu weiter Ferne her schien ihm da etwas auf. Es war ihm letztlich dann aber nicht schwergefallen, auf das Angebot der sympathischen, leicht angegrauten, jedoch überaus frischen und obendrein erfrischenden Dame einzugehen, sich auf eine kleine Plauderei niederzulassen.

Sie war nach einigen Jahren wieder zurückgekehrt ans Criée, dem Nationaltheater von Marseille. Überdruß am alles einebnenden Zentrum da oben, meinte sie, vielleicht auch ein wenig einem allgemeinen Strom des Ruhesuchens in der Provinz folgend, möglicherweise die alte Liebe der Pariser zum Mittelmeer, das ja mittlerweile so rasch erreichbar sei mit dem TGV und weniger umständlich und auch nicht zeitaufwendiger als mit dem Flugzeug, von Stadtmitte zu Stadtmitte, in drei Stunden nur. Auch werde damit der abseitige Ruf der Stadt ein wenig korrigiert, die Distanz zu Afrika etwas vergrößert. Das sei diskutabel, aber für viele Motivation zum Aufbruch ins südliche Abenteuer. Nachmittags in den Zug steigen, Zeitung lesen oder auch im Buch, das lange schon bereitläge, gut essen, dann in eine Aufführung hoher Güte gehen, anschließend die Nacht durchfeiern, und morgens früh wieder zurückfahren. Oder sich gleich ein Appartement zulegen. Sie wohne aus Kostengründen zur Miete, wenn das mittlerweile zwar auch schon abenteuerlich, aber nicht zu ändern sei. Entscheidend sei jedoch, daß sie vermutlich endgültig zurückgekehrt ist in das lebendige Haus am Quai de Rive Neuve. Auch wenn die Stadt sich extrem wandele und zusehends einem europäischen Wolkenkratzer zu ähneln beginne, so habe sie sich ihren familiaren Charakter doch bewahrt. Ihr Engagement bis vor gut zehn Jahren sei ihr in zu guter Erinnerung gewesen. Und damit verbinde sie auch die erwähnten drei Tage. Er möge sich jedoch den Kopf nicht weiter zermartern, wisse sie doch, daß der nach diesem wunderschönen Ereignis in ein enormes Amnesieloch gefallen und er deswegen längere Zeit in einem Hospital gewesen sei. Die andere Hauptakteurin habe ihr davon berichtet.

Von der mittlerweile im fernen überseeischen Westen Ansässigen wußte er, daß damals mächtig was losgewesen sein mußte an dem kleinen Platz oben im Panier. Und er mittendrin, als direkt Beteiligter. Ebenso erinnerte er sich an die mehrfache Erwähnung, nach der das halbe Théâtre La Criée ebenfalls teilgenommen und das zweite Arrondissement leergetrunken habe. Das Ereignis selbst war noch immer nicht in seiner Erinnerung angekommen und würde es, wie manch anderes an Vergangenheit, vermutlich auch nicht mehr. So war er gezwungen, zu glauben, was ihm erzählt wurde. In gewisser Weise hatte er sich daran gewöhnt. Zumal dieses aktuelle Zusammentreffen vertrauenswürdig schien, auch wenn er ein wenig den Verdacht schöpfte, es könnte arrangiert sein. Aber diese Eindrücke holten ihn ohnehin immer wieder ein seit der denkwürdigen Begegnung Anfang des damals neuen Jahrtausends. Ein paar Jahre fehlten ihm schlichtweg. Sie wurden nach und nach aufgefüllt — allerdings hauptsächlich durch die Schilderungen anderer. Und so erfreute er sich am zunächst beiläufig eingestreuten, dann jedoch ausführlicher werdenden Bericht seiner einstigen Trauzeugin. Zudem hörte er ihr gerne zu in ihrem gelösten Theaterfranzösisch. Als ob Anne Brochet ihn ein wenig mit Rostand erheitern wollte, leicht durchsetzt von einem bißchen Molière.

Lächelnd erwähnt sie die Äußerung des Standesbeamten gegenüber dem Kollegen, wenigstens einer der Beteiligten trage hinten einen Namen, den er auszusprechen in der Lage sei. Getobt habe der Brautvater, wenn auch später, außerhalb der amtlichen Räume. Seit tausenden von Jahren werde hier in dieser Stadt zumeist anderes als französisch gesprochen und geschrieben, nur im Geist dieses barbarischen Xénophobe in Amtsschärpe sei das noch nicht angekommen. Nun benötige er, der Bräutigam, auch vorne noch einen aussprechbaren Namen, habe der geistiger Getränke Ungewohnte noch nachgeschickt. Und immer wieder hoch das Glas, Santé, Santé, Santé, Champagner sei schließlich kein Alkohol, man müsse nur ganz fest glauben, die Wurst sei aus Fisch, wie seine jüdischen Freunde ihn, den nicht so ganz Bibelfesten des Koran, aufgeklärt hätten.

Jetzt, da sie das erzählte, erinnerte er sich daran, wenn auch weniger als Teilnehmer, sondern mehr aus den Erzählungen seiner damals mit ihm Wiedervereinigten. Sie hatten ein zweites Mal geheiratet, wenn auch nicht amtlich, das hatte die Behörde nicht gestattet, war die Ehe doch besiegelt. Romantische Regungen und behördliche Vorgänge schlössen einander aus, meinte der Amtmann damals mit einem Lächeln, aus dem zunächst nicht ersichtlich war, ob es von Hilflosigkeit begleitender sanfter Ironie oder beißendem Sarkasmus geprägt war. Doch dann setzte er nach, lediglich für eine Scheidung dürfe man diese Akte wieder aus dem Trésor holen, für die Verbindung von Romantik und Ehe müßten sie selber sorgen, Betriebsanleitungen hole man sich am besten im Theater, das örtliche sei sehr zu empfehlen, habe er gehört.

Zwar hatte man vor, das rauschende Fest ihm zuliebe zu wiederholen, wohl auch in der Hoffnung, die ins Stocken geratene Erinnerungsapparatur wieder ingang zu setzen. Aber ein solches Stück ließ sich eben nicht wieder aufnehmen, darüber war man sich bald im klaren, zumal es die Akteure in die weite Theaterwelt zerstreut hatte. So blieb es bei einer eher stillen Feier im familiaren Kreis, wie es beispielsweise bei Beerdigungen heißt. Und ein bißchen was davon hatte es letztlich auch, denn nach der Zusammenführung dessen, das zusammengehört, schloß das Paradies seine Pforten dann doch recht bald wieder. Seit langem schon liebte man sich auf Distanz, besuchte einander hin und wieder und lebte nach langen Flügen in langen Gesprächen von dem, was einmal war oder von dem, wie es einmal gewesen sein könnte. Daß es nie wieder so werden würde, darüber herrschte beredtes Schweigen. Vielleicht würde es tatsächlich eines Tages wenigstens zurückkommen in sein Gedächtnis, würde es aus der Langzeiterinnerung wieder aufleben. Aber bis dahin mußte er sich eben auf das verlassen, was ihm angeboten wurde als Baustein zur Vergangenheit.

Fortwährend habe dieser fröhliche Muselman versucht, das Brautpaar zu verscheuchen, in dessen nahegelegene Wohnung, ein paar Schritte nur von der Place de Lenche in die Rue de l’Évêché, neben dem vermutlich ältesten italienischen Restaurant der Neuzeit, in dem, so würde kolportiert, offenbar auch Jean-Claude Izzo manchmal seinen Wurzeln nachschmeckte. Sie erinnere sich nicht, inwieweit ihm das gelungen sei, aber diese dreitägige Festivät, die sicherlich zumindest einmalig mit der später legendären Fiesta des Suds in Konkurrenz treten konnte, habe ihre Aufmerksamkeit doch recht in Anspruch genommen seinerzeit, so daß sie es nicht genau schildern könne. Aber eines sei ihr nie aus dem Sinn gegangen: der Grund der Verschickungswünsche des Brautvaters. Nachdem seine Tochter ihn immer wieder darauf hingewiesen habe, sie habe den arabischen Nachnamen abgelegt und trage nun einen aus der Lorraine stammenden, der allerdings keinerlei deutlichen Hinweis auf die Pied-noirs zulasse, auch wenn er das noch so herbeisehne, was ihn jedoch nicht davon abhielt, mittlerweile stimmüberschlagend, immerfort zu krächzen: Egal, es gibt überall wunderbare Pied-noirs, auch in der Lorraine, man muß nur für Nachwuchs sorgen, sie dürfen nicht aussterben, Hauptsache sie werden andere Franzosen als die jetzigen.

Es wurde ein überaus kurzweiliger Nachmittag. Er wurde abrupt beendet von einem Mobiltelephon, aus dem der Leidens-, ja Todesschrei einer Frau klang, der ihn wie auch die anderen Gäste des Cafés aufschreckte. Keine Sorge, meinte sie knapp, während sie in die dicke Jacke geradezu sprang, sie schreit nur einmal. Es war der Ruf zur Probe von Cyrano de Bergerac, die sie vergessen hatte, ihren Einsatz als Roxane. Übrigens, schickte sie, fast in der Tür, noch hinterher, die Wiederaufnahme der elf Jahre alten Inszenierung. Man habe sich ihrer erinnert, er möge das doch auch tun, damit habe schließlich alles seinen Lauf genommen. Und weg war sie. Die Vergangenheit. Aber er war sich sicher: sie würde wiederkommen.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Fr, 13.11.2009 |  link | (3215) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (13.11.09, 16:24)   (link)  
So wie ich, wenn Sie hier weitererzählen.


jean stubenzweig   (13.11.09, 17:13)   (link)  
Daß mich das sehr freut,
Sie Aufrichter, das wissen Sie. Dank. Gerne geb ich's, das Stück von mir, und sei es nur für Sie.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5807 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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