Diplomatie der unteren Stände

Höflichkeit ist eine Zier, doch besser geht's auch ohne ihr.

Mutter schmeißt Baby aus dem Fenster, so oder so ähnlich schlagzeilt das Blatt, bei dem ich immer daran denken muß, daß es sich zu nichts anderem eignet, als damit allen möglichen Menschen mal in diese vier Buchstaben zu treten. Es ist jedoch keineswegs nur dieses Blatt, von dem ich seit Jahrzehnten gerne sage, daß ich nicht einmal als seit Tagen toter Fisch darin eingewickelt sein möchte. Das geht bis zur Weigerung, Opa aus der Nachbarschaft dieses lediglich mit allerärgstem Analogkäse in Verbindung zu bringende Blatt mitzubringen. Die Millionen Fliegen, die nicht irren können, assoziiere ich, wenn ich seniler Bettflüchtling beim vermutlich einzigen Bäcker in ganz Norddeutschland, der ein sogar recht wohlschmeckendes Ciabatta produziert, Espresso (nun ja) trinkend auf den Lieferwagen warte, im Blickfeld den Verkaufsständer mit vier verschiedenen Zeitungen, aus dem Hereinkommende nahezu ausnahmslos zu diesem Osservatore pauperum greifen. Doch nicht nur das greift ständig zu diesem Kammerton des gesunden Volksverstandes, genügend andere, weitaus mehr als die drei darbenden seriösen Zeitungen in diesem Blätterwäldchen bedienen sich dieser immerwährenden Volksweise, die allerorten erklingt, auch in bewegenden TV-Bildermagazinen, mögen sie nun Brisant oder Leute heute heißen: Wie das nur geschehen konnte! Dabei war sie doch so höflich und zuvorkommend, die Mutter. Nie kam laute Musik aus der Wohnung, und ihren Müll hat sie immer sauber getrennt.

Wie ich darauf komme? Der gute alte, auch nach seinem zweihundertsten Todestag noch jünger daherkommend als die renaissancierten, ewig nach hinten Klagenden dieses Wider die Theaterverhunzer, das sind diejenigen, die so ahistorisch und werkungetreu Geschichte in die Aktualität (ver)zerren, dieser Claus Peymann hat es ausgelöst, er hat's endlich mal wieder zurechtgerückt, was anläßlich dieses ganzen andächtigen Todestagsgeschwurbels in den Medien völlig untergegangen oder auch von ihnen unterdrückt worden zu sein scheint: Heinrich von Kleist war von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden, die sich ohnehin alles mögliche angeeignet hatten, was ihnen in den Rahmen ihrer scheußlichen Ideologie paßte, nicht nur, weil dieser preußische Offizier gegen die Franzosen kämpfte. So einer darf sich sogar umgebracht haben, auch wenn das eigentlich streng verboten ist im Land der christlich-jüdischen Leidkultur. Er war schließlich deutscher Dichter, da spielt ein unstetes Leben quasi als Landfahrer ohne festen Wohnsitz, sozusagen als Zigeuner lediglich eine Nebenrolle. Auch wenn er den Geheimrath zu Weimar mal duellieren wollte: Er ist schließlich deutsche Volkskultur. Man kennt es: Michael Kohlhaas, den Ernst Bloch einen «Don Quijote rigoroser bürgerlicher Moralität» nannte. Und dann Der zerbroch'ne Krug, für den man gerne sein Tourneetheaterabonnement nutzt und sich dann überhaupt nicht darüber wundert, welch ein höflicher und zuvorkommender Mensch dieser Dorfrichter Adam doch eigentlich ist; als Musical täte der sich sicherlich auch gut eignen tun. Nicht schließlich dieses Über das Marionettentheater, für dessen Bewegung man ebenfalls abonniert hat im städtischen Marionettentheater für Kinder, weil die von der Einheit von Kunst und Leben eher eine Vorstellung haben, die in ihrer Anmut nachgerade romantisch daherkommt, wie im Mittelalter, in dem der Franzosenkaiser Charlemagne, der im anderen Nationalbewußten eigentlich ein deutscher Führer war, auch wenn diese Lande bis fast zu den Preußen noch als Kleinstaaten immer fröhlich und bunt wie beim heutzutagigen mittelalterlichen Handwerkermarkt vor sich hinträumten oder sich, je nach Geisteshaltung, gegenseitig massakrierten wie Karl der Große einst die Sachsen, die daraufhin endlich zu christlichem Kreuze krochen. Da darf man auch schonmal die Fäden aus der Hand verlieren und ihm andichten, er hätte schließlich aus Liebe erst seine Gefährtin und anschließend sich erschossen. Wie bei Petra Kelly und ihrem deutschen Offizier Gert Bastian, wenn die auch nicht unbedingt in diese Art der Märchenvermittlung paßten. Ein Weltverbesserer sei er gewesen, dieser Kleist, meinte Peymann, ein Revolutionär. Und er, Peymann, und noch ein paar andere wissen auch, daß dieser Kleist nicht unbedingt einer gewesen war, bei dem keine laute Musik aus der Wohnung gekommen wäre und Zweifel daran bestehen dürfen, daß er seinen Müll immer sauber getrennt hätte. Selbst in der ständig auf der Suche befindlichen Erinnerungsarbeit meines Dachstübchens hat er seine Spuren hinterlassen, seine Denkpraxis habe ich mir angeeignet, wenn auch nicht ganz so werkgetreu, bei der allmählichen Gedankenverfertigung.

Oder so: Feuriger Schutz ...
Französisches Exerzitium
«das man nachmachen sollte:

Ein französischer Artilleriekapitän, der, beim Beginn einer Schlacht, eine Batterie, bestimmt, das feindliche Geschütz in Respekt zu halten oder zugrund zu richten, placieren will, stellt sich zuvörderst in der Mitte des ausgewählten Platzes, es sei nun ein Kirchhof, ein sanfter Hügel oder die Spitze eines Gehölzes, auf: er drückt sich, während er den Degen zieht, den Hut in die Augen, und inzwischen die Karren, im Regen der feindlichen Kanonenkugeln, von allen Seiten rasselnd, um ihr Werk zu beginnen, abprotzen, faßt er mit der geballten Linken, die Führer der verschiedenen Geschütze (die Feuerwerker) bei der Brust, und mit der Spitze des Degens auf einen Punkt des Erdbodens hinzeigend, spricht er: «hier stirbst du!» wobei er ihn ansieht — und zu einem anderen: «hier du!» — und zu einem dritten und vierten und alle folgenden: «hier du! hier du! hier du!» — und zu dem letzten: «hier du!» — Diese Instruktion an die Artilleristen, bestimmt und unverklausuliert, an dem Ort, wo die Batterie aufgefahren wird zu sterben, soll, wie man sagt, in der Schlacht, wenn sie gut ausgeführt wird, die außerordentlichste Wirkung tun.»
Paris, den 14. Juli Zitiert nach: Heinrich von Kleist: Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Sembdner, Carl Hanser Verlag, München 1966, Anekdoten, Seiten 782f.

So langsam darf die Gesellschaft die berechtigte Frage stellen, ob ich auch so ein Mörderbube bin, der vielleicht heimlich Kleinstkinder aus dem Fenster schmeißt und andere, nur weil sie Fremde sind und deshalb keinen Nationalstolz haben können, einfach umbringt. Ich bin verdächtig, alleine deshalb, weil ich ein immer höflicher und zuvorkommender Mensch bin. Weshalb das so ist, spielt dabei keinerlei Rolle. Es ist nämlich alles nur gespielt. Da mag das noch so seine Wurzeln haben. Ich bin nämlich französisch erzogen worden. Man stelle sich das in der Art vor: Ich habe im Supermarché jemanden versehentlich touchiert, drehe mich herum, schaue den Berührten in die Augen und entschuldige mich gerührt für diese Tat. Und zwar von Herzen kommend. Denn ich bin verzückt von Schönheit. Doch die ist eine Frage der Ästhetik, kommt also von innen und will draußen als Anmut gefallen. So gesehen hat sie mir oftmals geholfen beim Erstürmen von Herzen. Stehe ich in einem Berliner oder Münchner (Hamburg und sein, nicht nur der geldfette, Speckgürtel scheint die Ausnahme von der Regel) Supermarkt und jemand schiebt mir den Einkaufwagen in die Achillessehne, wird er mich fragen, warum ich hier so dumm herumstehe. In Frankreich, dem Land der köpferollenden Revolution geht man höflich miteinander um. Im deutschen Land des Gehorsams trennt einem der Kadaver die Achillessehne ab, wahrscheinlich, um nicht mehr flüchten zu können. Aber es ist wohl alles eine Frage der Auslegung des Begriffes Ästhetik.

Es mag daran liegen, daß diese Höflichkeit sozusagen eine urfranzösische Angelegenheit ist. Trotz allem wird sie häufig auch rechts des Rheins als Kompliment mißverstanden. «... il soutint sa thèse pour le doctorat d'une façon si remarquable, qu'elle lui valut les compliments des professeurs», schrieb Gustave Flaubert in seinem 1869 erschienenen Buch Lehrjahre des Gefühls, da buckelt einer, in meiner wirren Auslegung, vor den Professoren. Ich bin zwar ein höflicher Mensch, mache mir aber nichts aus Komplimenten und verteile sie auch höchst ungern, da ich sie mit dem Höfischen, den Höflingen in Verbindung bringe. Das sind diejenigen, die vom Sonnenkönig in den goldenen Käfig von Versaille gesperrt wurden, wo sie nichts anderes durften, als ihm ehrerbietig Komplimente zu machen. So ist das bis heute geblieben. Wo man auch hinschaut in diesem Land, das ich, ja nun, da halte ich's eher mit einem Deutschen, der zum «Vaterland» gesagt hat, er liebe seine Frau, aber ich tue mich da auch leicht, schließlich ist's ohnehin mein Mutterland; doch ich vaterlandsloser Geselle bekomme bereits bei dem Begriff Patriotismus Probleme. Kurzum, alljährlich feiert man mit riesigen Aufmärschen La Révolution, von der schon Kurt Tucholsky anmerkte, die meisten wüßten kaum noch, weshalb sie am 14. Juli auf die Straße gingen. Und doch sehnt man sich kaum nach mehr, als selber ein bißchen alter Adel sein zu dürfen. Es gibt dazu keinen Kitsch, der zu schade wäre, nicht doch ein sonniges Plätzchen in der durchgeistigten Haltung zu finden. Da hilft nicht einmal die (fast) strikte Trennung von Kirche und Staat. Einmal katholisch, immer katholisch. Wer an den Himmel glaubt, der will hinein in ihn, will wenigstens ein bißchen Niederadel, unterer Stand sein. Das sind diejenigen, die am niederen Wild nagen durften, den Karnickeln und Wachteln et cetera. Und so etwas wird heutzutage wohl deshalb gezüchtet in den euroglobalistischen Bachelor-Aufzuchtstationen.

Daß ich solch ein höflicher Mensch geblieben bin, gleichwohl nie katholischer und auch kein hugenottischer oder was es sonst noch gibt auf diesem Schlachtfeld christlich-jüdischer Liebe zum Andersseienden, dafür kann ich nichts. Wir schon Heimito von Doderer bemerkte: «Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.»

Um meinen guten alten Bekannten werde ich mir keine Gedanken mehr machen müssen, der in seiner unhöflichen Art jedes Dankeschön gegenüber Dienstleistern mit der Begründung verweigerte, er bezahle schließlich dafür. Diejenigen, die sich nicht so benehmen, wie es die Gesellschaft von ihnen verlangt, stehen nicht mehr unter Verdacht. Jetzt sind solche Höflinge wie ich dran, allesamt Mörder, aber höflich und zuvorkommend.
«Man stürmt heute keine Bastillen mehr. Das äußerlich greifbare Symbol ist seltener geworden, und man muß schon ein bißchen künstlich nachhelfen, wenn man einer modernen revolutionären Bewegung zu Gedenktagen verhelfen will. Die Unterdrücker sitzen nicht mehr in einem einzigen Palast der Stadt, der zu stürmen wäre, Banken stehen an jeder Ecke, selten gerinnen Reaktion, Nutznießertum und die Pest der Unterdrückung zu einem Mann, zu einem Haus, zu einer Fahne. Das Leben spielt sich heute auf dem Papier ab, in Telefondrähten, an der Börse. Schwer, das zu stürmen und den Sturm kenntlich zu machen.»
Paris, den 14. Juli

Verwirrt ab zum Sturm ins Nickerchen.
 
Di, 22.11.2011 |  link | (5295) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


edition csc   (22.11.11, 18:47)   (link)  
Ein Deutscher, den wir erst jetzt erkennen

–cabü


einemaria   (22.11.11, 23:28)   (link)  
Ich kenne Frankreich aus 9 Wochen Westafrika und da war es oftmals etwas ruppiger als freundlich. Frankreich nur eine Woche. Als mir der französische Grenzbeamte meine Jacke hinhält, bin ich lange verunsichert, welcher Schuld ich mir bewußt sein sollte, bis ich begriff, daß er mir beim Wiederanziehen behilflich sein wollte. Vielleicht wenn ich älter, schon taub und stumm bin, werde ich mich auch innerhalb der Grand Nation gehörter fühlen.
Aber hier im Land des Schweinebratens :( Ich weiß nicht, ob Grottenmolche notfalls auch Grottenmolche fressen, aber da hier die Pfütze immer kleiner wird, tritt der Charakter, ich möchte es mal deutsche Nationalitäten nennen, seiner zahlreichen Esser immer deutlicher zu Tage. Eigentlich boten sich zur Zusammenrottung, zur Nationenbildung nur Weltkriege, der Faschismus und (das will ich ich gerne mal positiv sehen) der ausschleichende Postfaschismus. Europa? Mal sehen.

Daß man neuerdings den Froschfressern die Achillessehnen im Supermarkt durchtrennt, das nenn ich mal Zwickau gehabt, mein Lieber. Wir müssen die Bastille garnicht mehr finden, obwohl ich den Satz schon gelernt hätte: "U c'est le Bastille?"

Wir hatten es eigentlich Jahre vor Augen, die Abschreckung. Um nicht belästigt zu werden, gilt es - so auch der Gedanke der hartenlinie - eine mehr als grenzwertige Position zu beziehen. Counterterror! Die welken, braunen Blumen pflücken, wo man sie antrifft. In ihrem und meinem Fall handelt es sich um den deutschen Nationalgeist. Ich will da mal ganz ehrlich sein ;) um ein historisches Gleichgewicht zu bekommen, könnte man für eben diesen, die Gaskammern nochmals kurzfristig anmieten und diesen hinterherblasen hinter all dem Leid und Tod, die seine Schwingen tragen.

Wie Sie sehen könnte auch der revolutionäre Geist makrobiotische Ansätze haben - lokal handeln. Aber es ist ja nur ne Schnapsidee ... um diese Zeit. Apropos Okapi Everything - es würden eigentlich schon die Zubringerautobahnen der Großstädte genügen.

Ich genieße es jedesmal, als wäre es das erste mal, den höflichen Charakter in jeder Ihrer Zeilen wiederzufinden. Und ich muß gestehen, daß mich durchaus ein schlechtes Gewissen überkäme, bei meiner ruppigen Schriftart und dem Einfluß automatischen Schreibens, daß es mich sozusagen ein wenig stubenzweigte, manchmal, ganz höflich, ... wenn ich es denn nicht absichtlich täte.

Zudem: ich habe viel auf der Welt gesehen, aber ein Zeitungskasten mit einer guten Zeitung ... da scheiden sich die Geschmäcker.

Wohlan und merci für Ihren Wind, der auch meine Segel oftmals füllt.


jean stubenzweig   (23.11.11, 18:21)   (link)  
Eine Weile nachdenken
mußte ich bei dieser harten Linie. Aber das soll(te) ich ja wohl. Und da ich im Schlaf am besten denken kann, habe ich erstmal ein wenig genickert. Den ganzen Tag nicht rasenmähen zu können, das ermüdet so. Ich sollte mir einen Laubsauger zulegen. Unsere Vermieter haben nämlich keinen. Und meine zwei Mitbewohner im Haus arbeiten den ganzen Tag. Als ob's nichts schöneres zu tun gäbe. Nun gut, ausgenickert. Sodann, schreite ich nun voran, gehe vorwärts in meiner verzweigten Stube darauf ein:

Europa? Ist das nicht das Heilige Römische Reich? In dem sich die Grande Nation von der Maas bis an die Memel, vom Etsch bis an den Belt über alles Charlemange beziehungsweise Karl der Große über die Führerrolle streiten. Na gut, die einen haben ihre Kärcher-Banlieu, die anderen sind in den Zwickau gekniffen. Randgebiete zählen nicht, wenn's um die Mitte, um die Einheit geht. Im Zweifelsfalle singt sogar der Countertenor, der sich zu sel'gen Zeiten dafür sogar kastrieren ließ (wurde, wie getauft?), in hohen Tönen: die Augen zu und durch.

Froschfresser fressen Frösche, sind also per se Kannibalen. Ein Deutscher täte das nie. Der ist, wenn's so weitergeht, bald beim vegetarischen Döner gelandet.

Mein makrobiotischer revolutionärer Geist ist hier bereits seit längerem in der Person von José Bové, in der Conféderation paysanne manifestiert: Gegen Malbouffe: Die Schaufel des Bulldozers (chargeuse sur roues) hoch, die Ketten fest geschlossen. Auch ich bin ein attacierender Sympathisant. Aber immer höflich. Fast immer.

Von den Okapiisten habe ich gestern gesehen und gehört, daß und wie sie friedlich revolutionieren: Seid ihr zu den Polizisten nett, dann sind die auch lieb zu euch. Ein Bekannter erzählte mir, daß er Einlaß begehrte in den inneren Ring einer Demonstration gegen neue und alte, also nicht aussterben wollende Nationalsozialisten. Als er sich dem verbeamteten Kampfuniformierten gegenüber als Gegner der Rutenbündler erklärte, habe der ihm gesagt: Dann erst recht nicht. Ob's der Wahrheitfindung entspricht, daran habe ich meine Zweifel, denn ein Polizist würde sicher nie so handeln. Was klebenbleibt, ist die Metapher.

Und, auf daß es nicht in Vergessenheit gerät: Vermutlich habe ich im Zusammenhang mit den Zeitungen in ihrem Ständer das seriösen zu apostrophieren oder zumindest zu kursivieren vergessen. Denn diesen Kammerton des gesunden Volksempfindens lese ich überall, auch in der süddeutschen, verfazten Welt und Zeit: Wie kann ein immer so höflicher und zuvorkommender Mensch einen anderen umbringen? Auf diese Weise fragen, wenn auch ein bißchen kryptisiert, auf daß man, wie bei Ihnen oder mir, nicht ganz so ratelos trist sein Dasein friste, sogar ehemalige Amtsrichter.


einemaria   (23.11.11, 23:31)   (link)  
Europa und Essen, gestern und heute. Wie Recht Sie da haben. Fügen wir dem hinzu Verbot von Rohmilch, und somit auch Camembert, Rebsorten wie Clinton und (Baquoc? oder so), im Friaul gibt es den Fragolino auch nur unter der Theke. Mir reißen die Geschmacksnerven derzeit endgültig. Ich darf das als einemaria hier mal so sagen, auch wenns in Ihren Kommentaren steht: Wir fressen inzwischen die Scheiße nicht nur, sondern wir bezahlen auch dafür.

Wenn ich wüßte, daß keiner mitläse, könnte der europäische Gedanke aus der von Ihnen angedachten Zeit zugestandenermaßen auch Einlaß in meine Hirnrinde finden. Doch im sehr lehrreichen Kommentar aus der Unterwelt bin ich dann, ehe ich ersteres tuen konnte, auf das Wörtchen Verzeihen gestoßen - als Schlußwort und -gedanke :( und so etwas macht mich unversöhnlich - für Tage. Wer ist ein Meister aus Deutschland? Wer hat Mir den Krieg angesagt. Oder wie es Georg Schramm so schön bemerkt, wenn Deutschland am Hindukush verteidigt wird, dann Afghanistan doch auch im Sauerland. Nun bin ich kein Afghane, sondern ich sitz mitten drin.

Wissen Sie, ich bin so ne Art Blogger-Hooligan, so auch die Schreibe, wird man sagen: wenn irgendwo etwas am Boden liegt, dann bin ich dabei, nochmal links und rechts in die Vollen, so richtig satt. Den Gaskammerwiedereröffnungsgedanken hatte ich schon länger auf Lager und musste nun Monate warten, immer auf der Pirsch nach einem Opfer, das es lohnt. Und da kamen Sie mit Schlandland an, danke. Bei allen hierdurch Lesegeschädigten möchte ich mich nochmals herzlichst entschuldigen.

Diese süddeutsche, verfazte Zeit, das zu hören, läßt mich leichter atmen. Und auch daß es die letzten deutschen Heiden als Pruzzen dann doch noch so weit gebracht haben, bei der Landschaft, ist mehr als erfreulich. Kleist allerdings kenne ich nur von unbeleckten Buchrücken und steht bei mir bei Malerutensilien, nicht bei Literatur. Wer nicht ließt, der nicht gewinnt. Eigentlich aber keine Prosa, so fühle ich mich unbefleckter.

Ich kriegs einfach nicht hin. Ich wollte doch einfach nur sagen, sehr schöner Text und was man noch so sagt auf französich.


jean stubenzweig   (24.11.11, 16:48)   (link)  
Auf Essen und Trinken,
überhaupt auf Sie komme ich morgen ausführlicher zurück. Ich muß erstmal was anderes tun, also nicht so 'ne Beschäftigung im Sinn von zuviel Freizeit wie Laubsaugen oder -sägen, also solches, für das es nach dem Schreiben irgendwann auch noch Geld gibt. Hin und wieder erreicht sogar mich noch solches. Ich kann's fast nicht glauben. Dabei würde ich doch viel lieber Nickerchen machen, allenfalls einer Einemaria eine Liebespostkarte handmundmalen.


einemaria   (24.11.11, 20:50)   (link)  
No hurry, Harry.
Schön daß Sie es nochmal erwähnen. Laubbläser, nicht so der Sauger, dazu muß ich, solange es Herbst ist, auch noch was sagen. Ich bin nämlich Laubrecher im Haupthobby. Ich muß noch ein wenig mit der Laubbläser-Arie warten, wegen der Verjährungsfrist.


charon   (22.11.11, 23:48)   (link)  
Fr. Wer sind deine Feinde, mein Sohn?
Antw. Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen.
Fr. Ist sonst niemand, den du hassest?
Antw. Niemand, auf der ganzen Welt.
Fr. Gleichwohl, als du gestern aus der Schule kamst, hast du dich mit jemand, wenn ich nicht irre, entzweit?
Antw. Ich, mein Vater? – Mit wem?
Fr. Mit deinem Bruder. Du hast es mir selbst erzählt.
[392] Antw. Ja, mit meinem Bruder! Er hatte meinen Vogel nicht, wie ich ihm aufgetragen hatte, gefüttert.
Fr. Also ist dein Bruder, wenn er dies getan hat, dein Feind, nicht Napoleon, der Korse, noch die Franzosen, die er beherrscht?
Antw. Nicht doch, mein Vater! – Was sprichst du da?
Fr. Was ich da spreche?
Antw. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
Fr. Wozu haben die Deutschen, die erwachsen sind, jetzt allein Zeit?
Antw. Das Reich, das zertrümmert ward, wiederherzustellen.
Fr. Und die Kinder?
Antw. Dafür zu beten, daß es ihnen gelingen möge.
Fr. Wenn das Reich wiederhergestellt ist: was magst du dann mit deinem Bruder, der deinen Vogel nicht fütterte, tun?
Antw. Ich werde ihn schelten; wenn ich es nicht vergessen habe.
Fr. Noch besser aber ist es, weil er dein Bruder ist?
Antw. Ihm zu verzeihn.


jean stubenzweig   (23.11.11, 10:10)   (link)  
Ach, der Unterweltler
ist wieder da. Wie's mich recht freut, da unten an den nebligen Ufern neben der Elbe. Und dann mit einem, wenn nicht gar dem Katechismus (der Deutschen) als Anmoderation.

Ihr Besuch hat mir den holsteinischen Nebel ein wenig gelüftet. Nein — gelichtet. Die Sonne zeigt sich bereit, zu kämpfen, wenn auch nicht heldenhaft. Sie ist vermutlich ohnehin areligiös. Und wenn nicht, dann eher okzidental orientiert, also rheinisch-katholisch oder auch rheinisch-kapitalistisch, im Sinne von Jürgen Becker.


charon   (23.11.11, 09:13)   (link)  
Kennse den?
Bevor ich es vergesse, möchte ick mir jehorsamst zurückjemeldet haben, denn Kleist war ja nicht nur in zweiter Linie Aristocat und die preußische Gattung von diesen nicht zuletzt geborene Soldaten. Mit Pistolen umgehen war ihm in die Wiege gelegt und "besser tot als ein Hundsfott" galt in diesen Kreisen schon immer ehrenwert.

Da ich mich nun einmal als Adelsanekdoten-Lordsiegelbewahrer geoutet habe, gebe ich hier noch zwei zum Besten. Deren Wahrhaftigkeit übrigens meine 150 Vettern und die Urahnen in der 13. Generationen gerne beglaubigen werden.

Schritt der Alte Fritz über eines der zahlreichen von ihm eingerichteten Schlachtfelder, auf der Suche nach seinem Jugendfreund Wedel (den anderen hatten sie ja schon um die Ecke gebracht): "Wedel? Wo ist Wedel?" rief der König verzweifelt. Aus einem märkischen Strauch kam die Antwort: "Majestät, hier liegen lauter Wedels. Sie sind alle tot." Komisch nur, dass die Sippe noch immer ebenso viele wie lebendige Soldaten anzubieten hatte.

100 Jahre später importierte der spätere Kurzzeit-Kaiser eine Maid aus dem perfiden Albion, um mit den Pruzzen mehr Demokratie zu wagen. Das scheiterte bekanntermaßen am frühen Krebstod des Kaisers und am Widerstand der märkischen Edelleute -- eine englische Liberale auf dem preußischen Thron??? Ein großes Mißverständnis, beiderseits: Die Kaiserin Friedrich soll eine Hofschranze einmal gefragt habe, was Preußen denn schon zu bieten hätte außer Sand und Kartoffeln. Ihr ward zur Antwort: "-- und HELDEN, Majestät."

Das ist das Holz aus dem deutsche Dichter geschnitzt sind. Und wo man solchen Scheiß nach Jahren der Abstinenz (gut, die Gräfin hat diese schreckliche Epoche ganz ordentlich überbrückt) wieder lesen kann? Günther de Bruyn ist ein guter Einstieg. Dessen Sohn übrigens direktoriert das Kleist-Museum in Frankfurt/Oder. Märkischer Edelmann meets Streusandbüchsen-Intellektuellen.

Habe die Ehre.


jean stubenzweig   (23.11.11, 11:27)   (link)  
Es freigeistet sich
dank des canadischen Adels-Über-Setzers aus Pankow (Bolle? Hat's Messer rausgerissen ...) humorig durch den preußischen Protestantismus. Echt Heldenhaft! Alleine für die «Streusandbüchsen-Intellektuellen» gebührt Ihnen ein Orden. In meiner Heroen-Garde und auch der Galerie befinden Sie sich ja bereits.

An einem rätsele ich allerdings noch ein wenig: «die Gräfin». Sie meinen die zeitlose? Die gerne ein wenig verschweigt, daß sie eigentlich aus dem Westfälischen Reichskreis kommt und Preußen erst später erobert hat.

Anderseits gehörte es zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das wohl gerade renaissanciert wird. Oder sollte ich schreiben: seit zwanzig Jahren? Oder rüstet Sachsen gegen Charlemange wieder auf? Schließlich erklären alle möglichen Kleinstaaten neuerlich ihre Unabhängigkeit. Was meint der Adel dazu? Kann man Kleist dafür an die Front schicken?

Abbildung: Wikipedia Rußland


charon   (23.11.11, 13:44)   (link)  
Es ist die da
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt eine Laudatio anlässlich eines Abendessens, das zu Ehren des 80. Geburtstags der Gräfin im Dezember 1989 in der Villa Hammerschmidt gegeben wurde. Er betonte ihre preußischen Tugenden wie Selbstdisziplin, Unbestechlichkeit und Ehrlichkeit und resümierte: „Wäre ich ein preußischer Dichter, ich würde vor meinen Zeitgenossen nicht verborgen halten, dass die alten Preußen zufrieden vom Himmel herunterblicken können, weil sie unter uns fortleben in einer würdigen und wahren Frau, in Marion Dönhoff, der Preußin unseres Jahrhunderts.“

Auch ich bin hocherfreut, ja geradezu entzückt, wieder hier in Ihrer Stube sein zu können.


edition csc   (23.11.11, 14:52)   (link)  
Falls es noch nicht bekannt sein sollte.

Wo sonst hin, das weiß nicht

–cabü



jean stubenzweig   (23.11.11, 15:12)   (link)  
Bereits getrauert.
Und kaum jemand trauert mit. Der hätte noch ein paar Jährchen verdient gehabt.


vert   (25.11.11, 11:45)   (link)  
"karl der gefräßige" oder auch "carolus mangus", wie der lateiner sagt?;-)


jean stubenzweig   (26.11.11, 09:44)   (link)  
Ein Gourmand
war er demnach? Aber war er auch Gourmet? Wissen Sie's?


vert   (26.11.11, 12:31)   (link)  
natürlich nicht, ist doch ma/fn nicht gerade meine spezialität. daher wusste ich auch grad nicht, ob der oben mehrfach so betitelte "charlemange" ein historischer flüsterwitz ist oder doch nur eine stuchbabenvelwechserei...


jean stubenzweig   (26.11.11, 15:03)   (link)  
Als Charlemange(r)
täte ich ihn durchaus auch dann gerne einsetzen, wäre er nicht so ein Fanal der (französischen) Geschichtsschreibung. Den Verdreher, den ich vermutlich ständig einsetze, den habe ich selbstverständlich nicht bemerkt in meinem kreativen Furor. Groß wie eine Magnum Champagner. Aber ach und nun – wir befinden uns hier schließlich nicht im Geschichtsunterrricht.

Ich versuche mir dennoch gerade vorzustellen, was Louis Germain David de Funès de Galarza aus Charliemanger gemacht hätte in einer dieser Hollywood klar besiegenden französischen Verfilmungen von Geschichte wie etwa die von Patrice Chéreau der Pariser Bluthochzeit, hier die Bartholomäusnacht: Louis beim Abendmahl, das die ganze Nacht dauert. Er hat ja auch passable Filme gedreht, wir hatten das hier oder hier ja schonmal mit L'aile ou la cuisse. Zwar bin ich, wie mal erwähnt, nicht unbedingt ein Jünger dieses Zappelphilips, aber unter dem richtigen Regisseur oder einer entsprechenden Réalisatrice, also gezähmt oder ernstgenommen könnte ich mir den durchaus komisch vorstellen. Aber er ist ja auch längst Geschichte. Und ich nehme auch nicht an, daß Chéreau oder Jean-Paul Rappeneau ihn in ihre Filmvorstellungen gelassen hätte, auch wenn er früher mal ein sogenannt seriöser Schauspieler war und beispielsweise neben Jean Gabin in La Traversée de Paris den Charcutier Jambin gegeben hat. Aber weil mir heute so blödelig zumute ist, versuche ich mir den Kleinen als den Großen bei La Grande Bouffe des achten Jahrhunderts vorzustellen.















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