Umetikettierte Weinwahrheiten Als Etikettenschwindel, geschätzter zweierlei Shakespeare in einem (haben sie den Emmerich, der der uralten Verschwörungstheorie ein neues Etikett aufgeklebt hat, schon gesehen?) ist es schließlich ins Umgangssprachliche eingezogen. Es dürfte einigen auch bekannt sein, welchen Wert und welche Wertungen diesen auf den Flaschen klebenden Stückchen Papier zukommen. Besonders jüngere Winzer, von denen zweifelsohne vielen Verdienste auch bei der Verbesserung der Qualität zukommen, sind dazu übergegangen, das Etikett zum Kunstwerk zu erklären. Seit längerem gibt es dazu Wettbewerbe. Und da mittlerweile alles meint, sich auch in der Kunst auskennen zu müssen, weil ihr in den Medien, allem voran in den Börsen-Nachrichten, genauso ahnungsvoll, also eher schlagzeilenartig in der Größe des Blattes der vier Buchstaben entsprechender Raum geboten wird, geht das einher: Längst wird kaum mehr unterschieden zwischen Werbung und Kunst. Daß letztere sich nach meinem Verständnis überwiegend der formalen Umsetzung von Inhalten widmet, geht dabei völlig verloren. So lange ist es noch nicht her, daß ich öffentlich-rechtlich mal (unter anderem auch hier) die Frage gestellt habe: Klaut die Werbung bei der Kunst? Meine Gesprächspartner dreier Generationen kamen zu dem Fazit: Sie tut es. Sie macht sich oberflächlich die reine Oberfläche tieferer Gedanken zunutze und propagiert nichts als den Schein. Es ist nachgewiesen, daß ein hoher Anteil der Weinkäufer sich von ihm, dem «schönen» Etikett, verführen läßt. Ich gestehe, dem auch schon unterlegen gewesen zu sein. Das Ergebnis hat zu meiner immer heftiger gewordenen Ablehnung von Werbung geführt, die heutzutage mehr denn je nichts anderes bedeutet, als von Inhalten abzulenken und um Bacchus oder Dionysos willen bloß keine weinische Wahrheit wirken zu lassen. Das Billigheimerproblem gibt es schon lange. Bereits in den siebziger Jahren gab es genügend Menschen in meinem Bekanntenkreis, die eingeschworen waren auf Weine und Champagner von Aldi (andere dieser Un-Art gab es zu dieser Zeit ja noch nicht). Ich habe es ausprobiert. Bis auf eine Ausnahme, den seinerzeit tatsächlich akzeptablen Rioja für etwa drei Mark pro Flasche (aber nur den von Aldi-Süd), konnte ich diese Meinung lediglich in seiner Frühphase, den ersten Schlucken, also allenfalls an der Oberfläche bestätigen, denn Tiefe suchte ich vergeblich zu ergründeln. Jahre später bin ich dann mal richtig eingetaucht. Die studentische Freundin hatte zum Behufe einer Feierlichkeit ihrem Etat gemäß eingekauft, und ich als damals ohnehin zur Überfüllung Neigender habe meinen immer zu trockenen Garten satt begossen. Als quasi gründlicher Testtrinker habe ich die Nach- oder Nebenwirkungen, für die bei diesen Weinen keine Beipackzettel mitgeliefert wurden, im Kopf zur Kenntnis genommen. Als meine Geschmacksknospen noch nicht ertränkt worden waren, stellte ich fest: Das Ergebnis war identisch mit dem jahrelang zurückliegenden. Er schmeckte genauso. Es ist unter altgedienten Dilettanten bekannt, daß die meisten Hersteller, wie beispielsweise die prominenten Anbieter von Champagner fürs Volk, ihre (nicht nur) preisgünstig angebotenen Weine geschmacklich nivellieren, auf daß auch diese ganz gerne irgendwann mal besserverdienenden Lieschens und Fritzchens Müller «ihren» markengleichen Nektar tatsächlich wiedererkennen. Daß Wein und Champagner in der Ureigenschaft des Wachsens von Rebstöcken, also deren Früchte von Jahr zu Jahr unterschiedlichen Geschmack — den Charakter überlassen wir den Menschen — entwickeln, wird dabei völlig ignoriert. Diese Eigenschaften zeichnen, unter anderem, die Arbeit eines qualitätsbewußten, keinem Konzern zugehörigen Weinbauern aus. Er ist zu recht stolz auf diese Leistung, die Unterschiede nicht nur zuläßt, sondern auf sie als tatsächliche Natürlichkeit, auf die Zusammenarbeit mit der Natur hinweist. Assemblage ja, aber eben aus eigenem Gewächs. «Mein» Duménil (um einiges günstiger als die alte Witwe et cetera) beispielsweise schmeckt gar jedes Jahr ein bißchen anders. Lediglich der wunderbare, eigenartige Kellermuff bleibt gleich. Daß das Lebewesen Wein saisonal Stimmungen unterworfen ist wie wir gleich alle Tage, das darf für die meisten nicht sein. Dann hieße es ja Laune. Und Laune wird rechtsrheinisch gerne als schlechte definiert, da mag er noch so launig am Gaumen herumtänzeln. Also kommt er in den Käfig Anpassung. Doch die Entindividualisierung durch die Geschmacksnormierung, diese aus Überallien zusammengekippte Identitätsfindung für(s) Immergleiche kommt ohnehin dem gleich, was auch der sogenannte Analogkäse in seiner Bezeichnung trägt. Ich bin ohnehin der Ansicht, daß das, was seinerzeit gerade umgangssprachlich Anlauf nahm, die Massen zu erklimmen, antipodisch zum Mainstream gemeint war. Es galt, sich selbst zu erhöhen, indem man das Wissen durchblicken ließ, die großen (im Sinn von Qualität) Erzeuger belieferten auch die Billigheimer — die Flaschen versehen mit einem anderen Etikett, sozusagen umetikettiertes höchstes Gut. In den Achtzigern streamte es gar eine Zeitlang durch den Anti-Main im schicken München. In meiner mittelbaren Nähe bestand das ein Weilchen zu einem Teil aus Sauer- und Saarländern , die sich als Erinnerung an gemeinsame Studienzeiten einmal jährlich zur Primeur-Zeit in Hamburg trafen, um sich einen Tag nach dem palettenweisen Genuß von jungem Wein zu fühlen, als hätte ihnen der Schützenkönig aus Arnsberg oder Bexbach in den Kopf geschossen. Sie, die als Ärzte und Apotheker nicht eben zu den Schlechtdotiertesten gehörten, hatten die Idee des Herumtragens der Plastiktüten aus dem Haus der Albrecht-Brüder als Markenzeichen wieder aufgegriffen. Wer besonders scheinen wollte, der trug Billigheimer. Hierbei bestätigte sich meine Theorie von Mamans Brustduftdrüsen. Wer mit der letzten Auswaschung des Tankwagens aufgewachsen ist beziehungsweise nach dem Reinheitsgebot mit Hellem und Dunklem gesäugt wurde, der kommt seiner Vaterdroge Preiswertbier nicht mehr aus. Auch dabei ist mangelndes Unterscheidungsvermögen von essentieller Bedeutung. Da man als dann Wein trinkender Besserverdienender selbstverständlich rechnen gelernt hat und aufgeklärt ist, drängt sich die populäre These vom klammheimlich Güte offerierenden Anbieter von Massenware auf. Was nicht in die Tiefen dieser Allwissenden vorgedrungen war: Ein Großteil dieser Weine und auch Champagner konnte und kann nur deshalb so preisgünstig sein, da die Albrechts seinerzeit eine Art neuerlicher Sklaverei eingeführt hatten (die mittlerweile aktueller Standard zu sein scheint). Riesige Domains hatten sie, nein, nicht einmal gekauft, sondern gemietet. Den Winzern, häufig solche, die sich keiner Genossenschaft anschließen wollten, gehörten zwar noch die Berge, sie waren aber durch langfristige Verträge gezwungen, den Wein auf Reblaus komm' raus so «preisgünstig» herzustellen, daß sie entsprechend in den Regalen der heutzutage zu Discountern umetikettierten und von mir beharrlich Billigheimer genannten Kulturkaputtmacher stehen konnten. Eine bei wohlschmeckendem und tatsächlich gutem Wein aus Rheinhessen zusammensitzende Runde hat sich Ende der Achtziger mal kalkulatorische Gedanken darüber gemacht, wie solche Verkaufspreise zustande kommen können. Das Ergebnis, verkündet von einem Betriebwirtschaftler der oberen Etage einer deutschen Bank, lautete: Der baskische Rioja-Bauer erhält pro Flasche ungefähr 28 Peseten, das entsprach in etwa 0,33 Mark (für diejenigen, die diese Währung aus Zeiten der Kleinstaaterei nicht mehr kennen oder zur Umrechnung parat haben: 16,5 Centimes1), also schon vor gut zwanzig Jahren nicht einmal als Hartz-IV oder Sklavenentgelt für selbständige Tätigkeit bezeichnet werden konnte. Eine Flasche Wein, die weniger als zehn Mark kostet, ergänzte der nicht nur im Monetären kundige Bankdirektor, der tief in rheinhessischen Rebenlatifundien wurzelt, sei nicht nur sozial nicht verantwortbar, sondern bereite nicht nur deshalb nicht das, was er eigentlich tun sollte: Freude. Ich habe mich, wahrscheinlich, weil auch ich die Grundrechenarten einigermaßen im Kopf habe und mit Freuden ein Gutmensch bin, in deutschen Landen daran gehalten. Geändert hat sich das erst, als ich später ins Exterroir französisch beatmetem Weinhandels geriet. Dort, im, wie dieses Intellektuellenetikett neuerdings genannt wird, wenig weinaffinen Holstein, war nämlich die Saat aufgegangen, daß, wie zuhause, Wein zu den Grundnahrungsmitteln gehört und deshalb Handelsspannen nicht in die Höhe schießen müssen wie von Monsanto gedopt. Daß auch ein Madiran nicht mehr so günstig zu haben war wie zu Zeiten, bevor das Gebiet um die Gironde zum Objekt der aktionistischen weinkonservativen2 Erhalter der alten Welt aus England, Japan, der Wallstreet und sonstwo verkommen und auch ich (ohnehin nicht ungerne) auf südwestlichen Geschmack ausgewichen war, das leuchtete ein. Aber ich bekam den oder einen geschmacklich wie preislich nochmals um einiges abweichenden Bergerac wesentlich preiswerter, also unter fünf Euro, weil Madame Lucette ihrem Gatten beigebracht hatte, daß ein Gewinn von dreißig Prozent3 und mehr für Lebensmittel unanständig sei. Bei beim Erzeuger gekauften Wein und einer Handelsspanne von etwa fünfzehn Prozent, läßt der Inhalt einer Flasche eines feineren Roten aus der Bourgogne für fünfzehn Euro das Seelchen noch höher fliegen. Nun käme ich nicht auf die Idee, mich als Weinkenner, am Ende gar als Experte zu bezeichnen. Ein klassischer Dilettant, auf das Nichtspezialisiertsein spezialisiert sein mag ich auch hierbei bleiben. Dieses allgefällige Wissensgeblöke in diversen umetikettierten Werbebotschaften lärmt mir ohnehin viel zu heftig. Manchmal möchte man meinen, man läse in Reklameschriften für Fruchtsalate. Ich halte es lieber in der stillen Schatulle bescheidenen Wissens und ignoriere Etiketten. Dank meiner persönlich favoritisierten Anwärterin auf den Nobelpreis für Biologie im Jahr 2051 weiß ich auch mehr von der Anatomie, vom Wesen des Axolotl als das Töchterlein dieses theatralischen Herrn und schreibe trotzdem kein Buch über ihn. Ich verstehe unter Bildung eher so etwas wie generale. Also will ich auch wissen, wo die Flasche wurzelt, was drinnen ist in ihr, die ich mit mehr oder weniger Lust geleert habe. Deshalb tauche ich ein, nicht nur in den postschmerziellen Inhalt. Und der belegt mir dann obiges oder die Erkenntnis, wie peinlich oder auch voller Scham für Fremde berührt man sein kann, mit manchen Bedächtigen deutschvereinter Convivien deren Vorstellung von Speis und Trank zu besprechen. Ich habe, auch dank eines Herrn, der einstmals einen kleinen Laden, gleichwohl mit großen Ambitionen, führte, die Anfänge der Bewegung in Italien mitbekommen, bin einige Male dort gewesen und weiß nicht nur daher: In der Toskana redet keiner dieser auch ohne Verein langsamen Esser so akademisch geschwollen daher, als müßte er wie in einem Rigorosum den Beweis antreten, daß auch er in der Civilisation angekommen ist. Kultur ist eben nicht Etikette, wie uns diese ganzen Knigge-Propagandisten weiszumachen versuchen. Essen und Trinken ist Heimat, überall auf der Welt gäbe es das beste Essen, bedeutete mir mal ein Sarde, dessen Zicklein ich genießen durfte, das stundenlang im Erdloch garte, und dessen Cannonau ich trinken durfte. Kultur ist Leben, also das, worauf ich bereits zuvor in Anmerkung 1, hier nun die5, mit meinem Lehrmeister Brockhaus hingewiesen habe, also Acker-, hier präzisiert: Weinbau. Prost. Oder wie es richtig heißt: auf Ihre Gesundheit, À votre santé.6
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