Walzriges zum Wiegenfeste

Von «Grußsendung» las ich heute früh an Brightons Pier. Mit einem Mal war ich wieder mittendrin in den Sarkasmen, ohne die es zu meiner Zeit beim Hörfunk nicht ging; ich nehme an, es hat sich daran nichts geändert. Hier war die Rede von NDR 1. Jede öffentlich-rechtliche Anstalt hat solche Wunschsendungen. Beim Bayerischen Rundfunk wurde sie ebenfalls im 1. Programm ausgestrahlt, wahrscheinlich ist das bei allen Sendern so, wo Moderatoren wie der immer sanfte, ungemein sympathische Gustl Weishappel, an den ich mich auch seines listigen, geradezu wienerischen oder auch bisweilen augenzwinkernd bairisch «hinterfotzigen»* Witzes wegen gerne erinnere, früh morgens um sechs auf «sein Fensterbankl» schaute, um den Hörern zu sagen, ob sie einen Schal umlegen oder die Badelatschen einpacken sollten, das nahezu uneingeschränkte Sagen hatten, weil sie möglichst wenig sagten. Wir nannten diese damals bereits seit Jahrhunderten bestehende und deshalb niemals aus dem Programm zu nehmende wöchentliche Pflichtübung «Erbschleichersendung». Meist waren es Kinder, die von deren Eltern vorgeschoben worden waren, um der Uroma allerherzlichst zum 91. Wiegenfeste zu gratulieren. Dazu sang dann Peter Alexander der alten Dame Lieblingsmelodei. Alexandras Gesänge vom Freund Baum kamen da eher seltener vor, das war unverständliches intellektuelles Geraune. Einen Baum umarmte Urgroßmutter nicht, sie nahm dessen Äpfel, und nach dem (ersten und zweiten) Krieg wurde der auch schonmal umgelegt, auf daß es warm wurde in der Stube. Wiener Blut oder Salzburger Nockerln brachten den Schaukelstuhl der alten Dame da schon eher ins leichte Wippen. Überhaupt: Operette! Was heutzutage junge Frauen über die Elbe schwimmen oder gar den großen Teich rudern läßt, um schmachtend dem König der Löwen und höfischem Gefolge zu lauschen, war früher Die lustige Witwe. Dabei ging das Herz auf:

Vilja, oh Vilja, du Waldmägdelein,
Faß mich und laß mich dein Herzliebster sein!
Vilja, oh Vilja, was tust du mir an!
Bang fleht ein liebkranker Mann.


Ich kenne mich da aus, hatte ich doch einen engen Verwandten, der es einmal fertiggebracht hatte, auf einer Autofahrt von Berlin nach Reit im Winkl das gesamte Repertoire dieses Sangesreiches abzusingen. Gewiß, er hatte eine passabe Stimme, aber diese Musik war nicht die meine, ich lauschte lieber Tönen von auch noch sehr fremdartig musizierenden Negern, wie das damals hieß. An der unterschiedlichen Sozialisation lag es nicht. Ich kenne nicht eben wenige Menschen, die, wenn auch klammheimlich, in einem Frack und unter einem Zylinder versteckt, einschlägige Etablissements aufsuchen.

Nun gut, es gibt dafür ja immer wieder ausreichende Argumentationen, zum Beispiel diese, die Geschichte sowie deren Mythen einmal aus anderer Perspektive zu betrachten beziehungsweise zu hören. Und verstecken ist vielleicht auch nicht mehr so der korrekte Begriff für eine solche Handlung. Die Zeiten sind schließlich vorbei, als man sich als Intellektueller durch den Bühnenengang hineinschleichen mußte ins große Haus am Grünen Hügel; glücklicherweise hatte man einschlägige gute Kontakte. Heute geht da sogar eine promovierte Physikerin hinein, einstmals Sekretärin für Agitation und Propaganda bei der FDJ. Sicher doch, das war schließlich damals schon Kulturarbeit.

Aber weg von diesem agitatorischen Exkurs. Was dieser mir damals sehr nahestehende enge Verwandte und auch die ebenfalls glückselige Hörerin der Erbschleichersendung, allerdings auch ich zu dieser Zeit nicht wußten: die Operette an sich enthielt, bevor sie endgültig ins rein Seichte verfiel (oder verfallen wurde), sogar gesellschaftskritische, politische Ansätze, versteckte Anspielungen jedenfalls. Die große Zeit der Operette war ja in etwa zeitgleich mit den Monarchien, deren Herrscher an den prämusicalischen Zentren von Berlin über Paris bis Wien es nicht so gerne hatten, wenn sie verulkt oder gar kritisiert wurden. Zwar gab's im 19. und auch in den Anfängen des 20. Jahrhunderts keine so ausgeprägte kirchliche Inquisition mehr, aber immerhin noch Kaiser und Könige. So muß ich dabei beispielsweise an die herrschaftskritischen Elemente in den Stilleben der spanischen Malerei des 17. Jahrhunderts denken. Dargestellt wurde (und wird bis heute) — wie in der Operette — gerne ein lustiges Kabinett, aber die gemalten Gegenstände verweisen durchweg in symbolischem sowie theologischem Sinn auf den Menschen, deuten die Welt. Und wenn beispielsweise ein Bücherstilleben gemalt wurde, so war da häufig genug die Auflösung des Rechts im spanischen 17. Jahrhundert die eigentliche Leinwand (siehe Lustiges Cabinett).

Das aber hätte nichtmal Gustl Weishappel in seiner Anmoderation zur Galathée von Franz von Suppé zu erzählen gewagt, daß dieser Pygmalion möglicherweise deshalb einen schweren psychischen Defekt hatte, weil schon zu früheren Zeiten Frauen die Macht anstrebten und sich dabei aller erdenklichen Mittel bedienten ...

*die Wikipedia-Autoren waren offensichtlich noch nie in Oberbayern, weshalb es wohl ausblieb, dem von mir durchaus geschätzten Kluge eine kleine Aktualisierung nachzutragen.
 
Mo, 24.08.2009 |  link | (2627) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: La Musica



 

Zeit ist Geld!

«Ein wenig erinnert mich das an das Aufkommen der Digitaluhren damals», schrieb mir dieser Tage ein lieber und freundlicher Hilfegeist aus dem Blogger-Dorf, den ich angerufen hatte, um an einem Elektroort der ständigen Zeitdokumentation den Garaus machen zu können, «als man plötzlich nicht mehr ‹halb zwei› sagte, sondern ‹13:32›, als ob das einen Unterschied machte.»

Nicht nur, daß mich das an Douglas Adams erinnert, an seine zauberhafte Geschichte vom Anhalter im All, in der er unter anderem eines der rätselhaften Attribute der irdischen Bewohner benennt: das um ein Haar leidenschaftliche Tragen von digitalen Armbanduhren. Gäbe ich mich dem Assoziationstaumel hin, landete ich dann zwangsläufig in der himmlischen Philosophenkneipe bei Michael Ende. Am dortigen Tresen würde ich ihm mal eben so im Vorübersitzen sagen müssen, daß seine Zeitdiebe zwar sicherlich passabel tituliert sein mögen, aber die Kinder vielleicht doch ein bißchen arg auf das christliche Beuteschema von hier dem Guten in Form von fröhlich Buntem und dort dem Bösen in deprimierendem Grau einfriert. Nun ja, so richtig totzukriegen war dieser Dualismus eigentlch nie, und diese Form der Kindheitsunterweisung nahm zu dieser Zeit ohnehin seinen gegenaufklärerischen didaktischen Lauf.

Dennoch war der Fortschritt nicht aufzuhalten. Was insofern naheliegend ist, als er das Leben schließlich doch einfacher machen sollte. Allerdings konnte Michael Ende, als er Momo verfaßte, nicht einmal ahnen, in welcher Weise die Zeit das einfache Leben überrollen sollte. Heutzutage reicht ja beispielsweise einer Hausfrau und Mutter so eine schlichte digitale Armbanduhr längst nicht mehr aus. Am Abend programmiert sie nicht nur den Eierkocher, die Brötchenback- sowie die Kaffeemaschine, da der Gatte morgens immerfort ruft Zeit ist Geld, dabei ständig auf die von Quarzen getriebenen Zeiger starrend; der Kunde wartet nicht auf seine Zertifikate, zumal die sich momentan sowieso irgendwie schleppend bewegen. Auch der Terminplaner im hochsicherheitsstählernen Automobil will gefüttert werden. Die Schulzeiten hat die jungdynamische Mutter noch im Kopf, auch ihre morgendlich Fit- und Wellnessübungen kann sie sich gerade noch merken, weil die Freundin immer pünktlich um neun zum Frühstück vor der Tür steht. Aber dann geht's los: 13:00 Jean-Luc von der zwanzig Kilometer entfernten Schule abholen (die fünfhundert Meter entfernte hiesige geht ja überhaupt nicht, bei den lahmarschigen Lehrern, bei Anna-Louise ist das was anderes, ist ja ein Mädchen, das setzt sich schon durch, aber abgeholt werden muß sie auch, bei der Kriminalität im Dorf); Jean-Luc 15:00 Tennis, Anna-Louise 15:05 Ballett, 15:25 Einkauf (Champagner für 20:00 nix vergeß!) Jean-Luc 17:00 Nachhilfe Mathe, Anna-Louise 17:20 Schach-Meistertraining, 19:00 Abendmahl, 20:00 Gäste, 22:59 Planer, 23:03 Kaffeemaschine, 23:05 Backofen programmieren. Die nicht ganz so begüterte Freundin, man kennt sich seit dem Sandkasten, hat sich so ein abgelegtes Gerät günstig aus dem Internet herausgeschossen und in ihren von der Abwrackprämie Ausgeschlossenen, da's für den Restkredit nicht gereicht hätte, an dessen Zigarettenanzünder gehängt. Damit wird für Lisa, Leonie und Lukas geplant: Cheerleader (Kinderjugendkultur), Eiskunstlauf auf Pferd sowie Vorschule zum Fernsehen. Leicht unangenehm ist es, daß es täglich um 17:45 laut und vernehmlich Lotto! piept, aber das läßt sich nicht abstellen beziehungsweise, was wichtiger wäre, auf Mittwoch und Sonnabend programmieren; die Software ist halt doch etwas ältlich, war aber günstig.

Zu Zeiten, als man noch mit Momo gegen die Zeit-Diebe kämpfte und die noch ungestraft dicke Zigarren pafften (die Cohiba wurde damals nur Staatsoberhäuptern und Hochdiplomaten auf den Bauch gebunden und war Fußballspielern noch nicht bekannt, die hatten noch anderes zu tun), zu dieser Zeit war ich für den Rundfunk unterwegs. Wem auch immer ich über den Äther etwas zurufen wollte, nichts war mit Gemächlichkeit — schon damals zeichnete sich die Rennerei ab. Um elf Uhr irgendwo die Pressevorbesichtigung einer Ausstellung mit dreihundert Gemälden und Skulpturen aus dreißig Ländern sowie drei Jahrhunderten, die vorzubereiten die Kuratoren drei Jahre gebraucht hatten — egal, um 14.00 Uhr war Sendung. Da mußte der erste Beitrag fertig sein, auf daß die Hausfrau beim Bügeln in 1'50 hochinformativ unterhalten werde zwischen Udo Jürgens und Peter Maffay; na gut, füllte man eben rasch auf mit ein paar O-Tönen, das entsprach ohnehin eher der gewünschten «Lebendigkeit». Für den Kulturbericht um achtzehn Uhr konnte ich dann ein klein wenig nachdenken über das, was ich da alles gesehen hatte, was am besten auf dem Weg zwischen Studio und Schreibstube zu bewältigen war, denn damals ging noch nichts per Telephon, der Hörer hatte ein Recht auf Qualität. Sicher, das war dann bereits der Einschalthörer, der in 4'00 Dezidierteres erwarten konnte. Das Kulturjournal um einundzwanzig Uhr mit seinen 7'30 bot dann einigermaßen Freiräume für den Austausch von eigenem und fremdem Wissen (und klammheimlichen Korrekturen). Geradezu angenehm wurde das Verfassen des Textes für die Zeitung, gesetzt den Fall, es war eine wöchentlich erscheinende und der Redaktionsschluß nicht am nächsten Tag. An einem solchen frühen mußte ich auch ran, wenn ich abends im Theater gesessen hatte. Denn der geneigte Radiohörer wollte schließlich morgens um sechs darüber informiert werden, was die alles so getrieben haben, während sie darauf warteten, daß Godot endlich käme. Damals trieb noch keine private Radiokonkurrenz die öffentlich-rechtliche an. Man wollte einfach aktuell sein. Eine sehr viel angenehmere Arbeit und sicherlich auch für den Hörer informativere, weil durchdachtere Tätigkeit war die, als ich, bevor ich das immer hetzigere Medium in Richtung ruhigerer Zonen verließ, Kulturkorrespondent fürs Ausland wurde. Da mußte ich mich dann nicht mehr weigern, um vierzehn Uhr auf Sendung zu gehen mit acht Minuten über eine (frühere als diese) documenta, die gerade erst eingeläutet worden war. Da hieß es dann: Keine Hektik, die Veranstaltung geht ja noch drei Monate. Denken Sie in Ruhe erstmal nach.

Das habe ich, als ich raus war aus diesem sich damals bereits abzeichnenden Aktualitätenwahn, als Lebensform schätzen gelernt. Sicher, auch danach konnte ich sogenannten Todeslinien nicht ausweichen. Aber es macht doch einen entscheidenden Unterschied, ob man für heute etwas errennt, das morgen nicht einmal mehr in der Kurzzeiterinnerung Platz hat, oder ob man etwas produziert, das möglicherweise in hundert Jahren noch gelesen wird. Deshalb will mir die Bemerkung auch nicht einleuchten, die vor ein paar Wochen ein geschätzter Leser auch meiner elektrischen Kladderei fallen ließ: «Rückwärts» lese er nicht. Das hieße dann, alles früher — und sei es gerademal vier Wochen her — einmal Aufgeschriebene habe seine Gültigkeit verloren. Weshalb sollten dann noch diese uralten Gedanken dieser ganzen Dichter und Denker gelesen werden?

Aber wer weiß, vielleicht liege ich ja ohnehin völlig falsch und bald liest überhaupt niemand mehr — der Mensch bekommt einen Chip eingeplanzt, über den die aktuellen Politiker-Affären (immer die der anderen) und nett aufbereiteten Regierungsverlautbarungen direkt ins Gemüt gezwitschert werden — alle fünfzehn Minuten die Nachrichten in hundert Sekunden, nach der Werbung. Dann braucht man auch keine digitalen Uhren und Planer mehr.

Und schon gar keine Weblogs mehr vollschreiben.
 
Sa, 22.08.2009 |  link | (5951) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Widerstand

«sensible Geister und empfindsame Köpfe»,
schrieb Prieditis zur Äußerung von Paula Jacques in Sensible Männer, «sind bereits in den zwanziger Jahren auf offener Straße niedergeknüppelt und gemeuchelt worden. Insofern stimme ich dem Zitat nicht zu ....». Ich erklärte dazu bereits etwas, will das jedoch außerhalb des Erzählerischen nochmal aufgreifen. Es war zwar immer wieder Thema bei mir, allerdings oft nur am Rand erwähnt. Mir scheint es an der Zeit, mich auch ohne den Gewandschutz des Kardinalsmantels Erzählung dazu mal äußern zu müssen. Denn zum einen sind da die beiden Länder, die ich im Jahrzehnteblick habe und die mit Motivation für meine Bloggerei sind, wie ich das kürzlich jugendlich öffentlich-rechtlich kundgetan habe. Und zum anderen gibt es aktuelle beziehungsweise sich anbahnende Ereignisse.


Völlig im klaren bin ich mir darüber, daß es zu allen Zeiten irgendwie Widerstand gegeben hat — gerade eben wegen der sensiblen Köpfe, die dies oder das haben kommen sehen. Ich habe den einen oder anderen persönlich kennengelernt, der innerhalb der nicht mehr so ganz jungen Geschichte manch einen Knüppel auf den Kopf bekam oder auch richtig schlimme Dresche oder auch sehr viel mehr einsteckte. Der eine hat's überwunden, der andere seinen Schmerz in einer bestimmten Sprache auf ewig schweigend mit ins (mittlerweile eigene) Grab genommen, nicht nur in einem Teil der Levante; letzteres habe ich in Familienbesuch mal zu erklären versucht. Ich selber will auch keineswegs für mich in Anspruch nehmen, ich hätte mich eventuell heldenhaft den Braun- und Schwarzhemden oder auch einfach geistig und schlicht Uniformierten entgegengestellt. Eher wohl hätte ich versucht, mich in das winzigste verfügbare Loch zu verkriechen. Aber eine starke Gemeinschaft, das kann ich mir vorstellen, hätte meine nicht nur pazifistisch bedingte Feigheit vor dem Feind besiegen helfen können.

Als Beispiel seien die aktuellen (oder auch zurückliegenden) Ereignisse in Frankreich genannt. Eben diese kämpferische Gemeinschaft gegen die Machenschaften von unfähigen oder auch schlicht unwilligen Konzernführungen hat es ermöglicht, Werksangehörigen wenigstens einige zehntausend Euro Abfindung für teilweise jahrzehntelange harte Arbeit zukommen zu lassen (im Vergleich zu den Millionen, die diejenigen zugesteckt bekamen, die das Unheil mit angerichtet haben). Wer sich dem nicht (so resolut) entgegenstellte, indem er Manager in deren Büro festsetzte oder gar mit der Exekution der ehemaligen und hinfällg gewordenen Existenzgrundlage drohte, ging leer aus. Die etwas Älteren kennen das aus der bundesrepublikanischen Zeit, als man innerhalb der Bannmeile noch festgenommen wurde, wenn man nicht dem hohen Haus entsprechend gewandet war, einem Oppositionsredner und späteren Innenminister das Wort entzogen wurde, weil er dieses Geschehen lautstark beklagte, als ein späterer Außenminister und Vizekanzler senatsunwürdiger Reden wegen des Plenumsaals verwiesen wurde, was ihn zu der vielzitierten mehr oder minder leidigen Äußerung verleitete: «Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.» — «Wer sich nicht wehrt», hieß es dann, als auch auf der rechten Seite des Rheins, nicht nur nahe des friedlichen Rosengärtchens sich Auflehnung abzuzeichnen begann, «lebt verkehrt.»

Das ist es, was ich unter anderem auch meinte mit den Wurzeln in der Geschichte. Wobei hier nicht unerwähnt bleiben darf, daß der rechtsrheinisch so herbeigesehnte Elite-Gedanke in kaum einem anderen Land so ausgeprägt sein dürfte wie im linksrheinischen der Égalité. Diese Gleichheit aus dem revolutionären Liberté, Égalité, Fraternité meint allerdings, das wissen einige nicht (mehr), nicht etwa, alle Menschen hätten einander zu gleichen wie das eine Ei dem andern, sondern es bezieht sich auf das Recht, vor dem alle gleich zu behandeln seien. Vor diesem Hintergrund wird es etwas heller, wenn es dem Deutschen den Geist vor soviel Gewalt verdunkelt, es ihm unverständlich wird, daß hier die Staatsgewalt nicht zurückschlägt. Die hält sich in Frankreich aktuell schon alleine deshalb zurück, um nicht noch mehr davon zu erzeugen. Denn ein paar Rudimente aus dem Grundschulunterricht sind noch vorhanden in den Hirnwindungen der an bestimmten Hochschulen einzig für Führungsaufgaben ausgebildeten Politikern und Konzerndirektoren. So geschieht dann im Geburtsland der Revolution durchaus hin und wieder etwas, das im Land der Staatsraison undenkbar wäre: Ein Gericht stellt ein einmal angestrengtes Verfahren wegen — nennen wir's mal Haus- oder Landfriedensbruch — ein. Man könnte es auch zentralistisch geregelte Politik des inneren Friedens nennen. Auch ein Monsieur le Président ist sich im klaren darüber, daß nicht alles wegzukärchern ist. Denn das ist eine andere Gewalt als die von einigen benachteiligten Randfiguren der Gesellschaft, mit denen man ohnehin von jeher macht, was man will, und sei es, daß man sie einfach ausgrenzt, nicht nur an die Ränder der großen Städte, diese ganzen Andersgearteten, die sowieso nicht ins Land gehören, auch wenn sie (etwa als unglückliches Überbleibsel aus der Zeit der Kolonialisierung) Franzosen sind. Hier lehnt sich nämlich eine Kraft auf, die ein anderes Verständnis von Staat hat. Nicht nur, wir sind (vielleicht) ein Volk. Sondern: Wir sind der Staat. Merken Sie sich das, Herr Präsident.

Pathos raus. Wieder hinein ins Nachdenkliche. Nicht sich seinem «Schicksal» ergeben, das einem als Kadavergehorsam offensichtlich in die geistige Wiege gelegt wurde. Nein, ich will hier alles andere tun, als rabiater Gewalt das Wort zu reden; sogenannte autarke Linke beispielsweise sind mir ein Greuel. Sich auflehnen ließe sich theoretisch wahrlich auch auf andere Weise bewältigen. Massenbewegt auf die Straße könnte man gehen. Einen Spaziergang in Massen machen zum Wahllokal. Als ob autofreier Sonntag wäre, wie vor bald vierzig Jahren, als schonmal alles verheizt schien. Doch es wird darauf hinauslaufen: Ach nöh! Wen soll man denn überhaupt noch wählen?! Man kann's ja doch nicht ändern. Das mit der Gewalt zwar durchaus! Aber dafür gibt's doch ein Grundgesetz oder eine Verfassung oder wie das heißt, mit dem man die Kindergewalt verbietet und so. Und außerdem macht sie ihre Sache doch ganz gut. Jeden Tag steht's doch in der Zeitung. Nicht nur, daß sie sich ihrer Umwelt bewußt wäre. Auch daß sie die Weltwirtschaft und damit uns und unsere Arbeitsplätze gerettet hat. Soll sie's doch wieder machen. Es wird uns schon nichts passieren.

Gut, Frankreich hat sich in seiner grenzenlosen Fremdenfreundlichkeit einen griechisch-ungarisch-sephardischen recht Kleinadligen zum Präsidenten gewählt, der nach Gutsherrnart politisch zu agieren gedachte. Nun ja, es gibt ja nicht eben wenige im Land, die recht gerne im guten alten Hofstaat eines Sonnenkönigs flanierten und dessen anbetungswürdigem Satz lauschten L'État, c’est moi!. Aber der ist nunmal abgeschafft, und in der späteren Folge sollte das Wir regieren. Er hat sich längst einiger Rezepturen entledigen müssen, der aktuelle Napoléon; diese Lehre hat er offenbar aus seiner Zeit als Innenminister nicht mit hinübergerettet. Und ich bin überzeugt, wären morgen Wahlen, er würde wieder Bürgermeister irgendwo in einem hell leuchtenden Arrondissement, wo man ihm bourgois huldigte. Er hätte wieder mehr Zeit, könnte seiner italienischen Chanteuse de Charme lauschen, der Freund alles Fremdem.

Oder anders: Möge sich ein Volk doch endlich mal darauf besinnen, daß man mittels Kraft durch Gemeinsamkeit Änderungen herbeizuführen oder gar drohende Gefahren abzuwenden vermag ...

Jetzt kann ich mich ja wieder unter den Schutz des geschützten Kardinals begeben.
 
Mi, 19.08.2009 |  link | (2055) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 







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