Von Bau- und anderen Häuslern Hier hängt der Aufhänger für das da unten. Der dritte Leser wird vielleicht auch noch eintreffen. Über Architektur wird eigentlich nur geschrieben, wenn es um die solitären Ereignisse geht. Wenn es nicht heißt höher (alle vier Wochen ein neuer Wolkenkratzer kurz vor dem Endkilometer) oder weiter (Landnahme des Luxus und der Moden in den Golfstaaten) et cetera, dann dreht es sich um das Kunstwerk, das die Architektur spätestens seit den achtziger Jahren wieder sein darf. Kürzlich erst habe ich in einer dieser feuilletonistischen fernseherischen Huldigungen eines der vielen neuen Museen, von denen es bald mehr geben dürfte als Kunst, gehört, wie der Sprecher des Autors (Autorin?) die für unsere Zeit symptomatischen, absolut ironiefreien Worte sprach: Ihm (ihr?) wäre so, als störe bei Zaha Hadids neuem Kunstmuseum in Rom die Kunst ein wenig. Das erinnerte mich an das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main, entworfen vom von mir durchaus geschätzten Richard Meier, der anfänglich das Aufstellen von Vitrinen und das Anbringen von lichtabweisenden Jalousien untersagen wollte. Bisweilen unterliege ich dem Eindruck, daß das letzte Museum, das ausschließlich für die Kunst als Präsentationsort gebaut wurde, die in den sechziger Jahren von Hanns Schönecker entworfene Saarbrücker Moderne Galerie ist. Aus dieser ablenkungsfreien Architektur weht ein wenig vom Lüftchen des Bauhaus, das in seiner Intention Licht und Durchblick verhieß, aber letztendlich nur noch als Epoche wahrgenommen und oft genug bespöttelt wird, gerne von Qualitätsjournalisten, deren Blick von keinerlei Sachkenntnis getrübt ist. Herr Martenstein bildet da keine Ausnahme, wenn er für ein paar Tage in ein als Torso gerademal einigermaßen gerettetes Denkmal einzieht und aus der Perspektive des Bewohners luxus-modernisierten Alt- oder schlichten Neubaus seine flotte Feder richten läßt. Die fachlich fundierteren Kommentare zum Text, die etwas Hintergrundwissen vermitteln, interessieren da nicht weiter. Heutzutage hat die Verpackung einen höheren Stellenwert als der Inhalt. Eigentlich geht es beim Wohnen ja meistens weniger um das denkmalerische Bauhaus an sich; es wird letztlich häufig stellvertretend für das Neue Bauen genannt, das den meisten, die darüber lesen oder auch schreiben, nicht unbedingt bekannt sein muß. Angefangen hat es mit den Nöten der Menschen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Hinterhöfen der Städte zu hausen gezwungen waren. Im selben Jahr, in dem der größte Bauherr aller Zeiten deutscher Reichskanzler wurde, verabschiedete der Internationale Kongreß für Moderne Architektur, die sogenannte CIAM, die Charta von Athen. Mit ihr wurde unter anderem auch für diejenigen menschenwürdiger Wohnraum gefordert, die mit dem Beginn der Industrialisierung eingepfercht worden waren in Gebäude, die nach Gesichtspunkten der reinen Unterbringung entstanden. Billigheimerwohnen. 1909 hatte Adolf Loos, auch bekannt als der Mörder des Ornaments, gefordert, die Architektur sei aus der Kunst herauszulösen, da sie nicht Privatsache des Künstlers sein dürfe. Es folgten im Wien der zwanziger Jahre Arbeitersiedlungen, über die Ilja Ehrenburg in Iswestija schrieb: «Ihr habt nicht mit Gewehren begonnen, sondern mit Zirkel und Lineal.» Andere Städte folgten dem nach. Dem hinzuzurechnen sind, wenn auch nur bedingt, da sie via Bauhaus bereits höhere Wohnqualität aufwiesen, beispielsweise Siedlungen in Frankfurt am Main oder Stuttgart. Gerne hat man diese erhöht, vor allem in der Nachkriegszeit, indem man Türen und Fenster durch hochwertigere Materialien wie Kunstschmiedeisernes oder Glasbaustein ersetzte. So erlangte man unter anderem mehr bunte Gemütlichkeit. Wohnraum sollte geschaffen werden, der erschwinglich war. Das hatte beispielsweise kleinere Räume zur Folge, auch engere Türen und vieles dieser Art mehr, was aber im Vergleich zu den vorigen Bedingungen geradezu üppig zu nennen ist. Wenn ein heutiger Hüne des Journalismus, noch dazu mit den etwas runderen Hüften des Fortschritts mit seiner Schreibe da nicht durchkommt, dem wird das tatsächlich zum Problem. Ich war einige Male zu Gast in Gebäuden des Bauhauses und bin überall durchgekommen. Wohlgefühlt habe ich mich obendrein. Aber ich bin ja auch kein Germane. Einem solchen hatte Le Corbusier nach der beklagten Deckenhöhe in den fünfziger Jahren geschrieben: Selbst bei einem Meter achtzig passe noch ein zwanzig Zentimeter hoher Helm auf einen Germanenkopf, und dann wäre immer noch genug Platz; ich meine für eine Feder, so genau weiß ich es nicht mehr, und der Briefwechsel ruht auf meinem Dachboden der (Architektur-)Geschichte. Ich habe aber auch Jahrzehnte unter solchen Decken verbracht, ohne daß sie mir auf den Kopf gefallen wären. Davon mal abgesehen, daß mittlerweile sogar die ganzen besserverdienenden Martensteins ihre Altbauwohnungen tieferlegen, weil die Gehälter nicht so schnell wachsen wie die Gewinne der Energiekonzerne. Aus dieser Perspektive möge das betrachtet werden, wenn von Bauhaus et cetera die Denke ist, vorausgesetzt, sie findet statt vor der Schreibe. Man war noch nicht an der energiepolitischen Erkenntnis angelangt, das Klima werde es schon richten mit der Wärme. Damals waren noch so Problemchen zu bewältigen wie etwa die Teilevorfertigung, dieser Art des Bauens mit Beton, das die Kosten enorm senken sollte. Die ganzen Martensteins schreiben sich einen Wolf gegen diesen Baustoff, der bereits von den alten Römern eingesetzt wurde, auf deren hohe Baukunst man sich so gerne beruft. Richtig eingesetzt gibt es kein besseres Material für die Massenbauweise. Und das haben uns die Bauhäusler beziehungsweise die Herren des Neuen Bauens gelehrt. Was später daraus gemacht werden sollte, steht auf einem anderen Blatt (das ich noch vollschreiben muß). Deshalb wohl wird er allüberall verblendet, auf daß sie verschwinde, diese Geisel der Architektur, städtisch gerne unter unter Granit oder gar Marmor. Die norddeutschen Häuslebauherren kleben ihre traurigen Kisten aus Gasbeton mit Klinkern zu, um regionale «Authentizität» sowie eine stabile Bauweise aus Backstein zu vermitteln. Innen drinnen haben sie auch nicht mehr Platz als die zu Zeiten des Neuen Bauens. Und meistens hängen sie im Randbezirk der großen Stadt oder im ohnehin völlig zersiedelten Land als Appendix eines kaputten Dorfes so dicht aufeinander, wie es die Sparkassen erlauben. Und abends in der Kneipe, so sie überhaupt noch eine haben oder sie sich dort noch ein Bier leisten können, wettern sie gegen das Material, das ihnen ihren Traum vom Eigenheim überhaupt ermöglicht. Denn für das Holz, in dem sie neuerdings so gerne wohnen würden, hätte es nicht gereicht. Außerdem brauchen sie das jetzt fürs Verheizen in ihrer hochmodernen Feuerstelle. Preislich ist da kein Unterschied. ![]() Ich mache jetzt erstmal Pause. Es scheint doch länger zu dauern. Überarbeitet um 12.05 Uhr.
Das Wetter und die Katastrophe Parallel zu dem, was ursprünglich dem vernunftbezogenen Handeln zugerechnet wurde, nämlich sich, etwa über die Medien, zu informieren, scheint der Funktionslieferant des Denkens vollends abgeschaltet worden zu sein — wie die vielen schönen Kernkraftwerke Frankreichs, die sich angefühls ein paar mehr Kältegraden als Atomsprengköpfe zu erweisen scheinen und deshalb zumindest temporär stillgelegt werden müssen, anstatt die mittlerweile ebenfalls ein wenig euroglobal rachitischen Bretterbuden der nationalen Architektur- beziehungsweise Wohnungsbauprogramme zu heizen. Gut, es gab zuletzt überwiegend Winter, die jeweils nur zwei bis drei Tage dauerten. Den letzten erlebte ich ausgerechnet dann, als es mich vom französischen Sandsüden in die nordostdeutschen Schneesümpfe verschlagen hatte. Gleich gut drei Wochen und bei fünfundzwanzig Grad minus sogar auch schonmal tagsüber blieb der des ausklingenden Jahres 2002, der auch den Anfang des folgenden arg frieren ließ. Die einen warfen dann die Rentiermotoren an und fuhren in die Kirche, um zu protestieren, ich pflege dann zu flaggen und mit meinem Mahnmahl an das Geburtsland der Vernunft die weltweiten Götter der Sonne anzurufen. ![]() Mit dem Resultat, daß es kurz darauf in Marseille schneite. Der Schnee war mir persönlich auf den Kopf gefallen, als ich aus dem Kino kam. Lange wollte mir das niemand glauben, schon gar nicht die Pariser, aber die sind ohnehin berüchtigt für ihre Ungläubigkeit, es sei denn, sie kommen nicht, wie die meisten der Hauptstädter, irgendwo vom platten, gern Campagne genannten Land, sondern von dort, wo der Natur noch geglaubt und gehuldigt wird. Bis es irgendwann wieder passierte. Dann war aber was los. Eine Marseillaise füllte eine ganze Bilderseite, die mittlerweile stetig angewachsene Möglichkeit auch privater Informationspolitik half ihr dabei. Man braucht gar nicht mehr aus dem Haus. Längst hat man sich daran gewöhnt, daß der Klimawandel samt versprochener Heizkraft irgendwie nicht ganz richtig im Koppe ist. Und man selber auch. Da kommt eine Kollegin der Büddenwarderin angestürmt wie der angekündigte Katastrophenwind und ruft gehetzt, schnell alle Hamster kaufen, es wird schlimm. Und alles stürmt los. Sämtliche Supermärkte und sogar die Kleinkrämer freuen sich über den gelungenen Coup. Wieviel die Konzerne den Wetterdiensten oder vielleicht besser den Medien dafür geleistet haben wie unlängst die pharmazeutische Industrie gemeinsam mit der deutschen Regierung wegen dieser Pandemieübung, bei der es sogar die Sau grauste, dürfte nicht zu klären sein. Die Lager sind leer, und der Norddeutsche sitzt zuhause, hat die Fenster zugenagelt, um den Schneesturm abzuwehren wie die Venezianer das Wasser, und wartet gebannt darauf, daß er endlich kommt. Alle Hinweise auf Fakten nutzen nichts. Daß der Schnee mit ziemlicher Sicherheit eher mittig ein wenig rieseln werde, wird zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht wirklich geglaubt, denn so ein wenig katastrophales Denken ist doch irgendwie kuschelig. Da braucht man gar keinen Horrorfilm mehr einzuschieben. Auch persönlich hat man ein Recht auf Katastrophe, also hat sie, verdammt noch mal, auch zu kommen. Daß die sich nach ihrer Ankündigung meistens als -öphchen erweist, hat das dafür zuständige Gedächtnis innerhalb kürzester Zeit von der organischen Festplatte getil(g)t. Ich muß annehmen, daß in den Redaktionen der Radio- und Fernsehanstalten mittlerweile nur noch Menschen sitzen, die sich auf die Party zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag freuen. Nicht, daß ich nun eine neue Generation erfinden und damit einen Konflikt heraufbeschwören oder an die des Praktikums erinnern möchte, aber irgendwie frage ich mich schon, ob die keinen normalen Schneefall kennen. So lange ist das nun auch wieder nicht her, daß wir winters regelmäßig die Autos freigeräumt hatten und dann nicht gestartet bekamen, weil der Batterie die Restsäure hochkam wegen des Geleires; das «servicefreie» Stromlieferungsaggregat war noch nicht eingeführt. Ebenso dürfte der eine oder die andere (sogar in Norddeutschland) sich gut daran erinnern, wie hurtig man in einer Schneewehe steckenbleiben kann. Mit diesem Erinnerungsvermögen scheinen im übrigen die altersmäßig offenbar ebenfalls etwas zu jungen Geschäftsführer des öffentlichen Nahverkehrs und der Straßenmeistereien Probleme zu haben. Die noch nicht in Frührente geschickten und somit wenigen verbliebenen etwa Fünfzigjährigen können nicht gefragt werden, wie das ist, wenn Weichen und Türen zufrieren; die sind unterwegs, um die Computer aufzutauen. Drei Stunden benötigte gestern die junge Biologin, um die paar Meter von Plön nach Kiel an den Arbeitsplatz zu gelangen; alleine am Busfahrer lag es nicht, der die junge Frau mit dem großen Koffer für Mamas Wäsche heraneilen sah, der hielt lächelnd den Fahrplan ein, gefehlt hat eigentlich nur noch das www-bekannte einfingrige Ficktory-Zeichen. Von der abendlichen, zwangsläufig mit dem Automobil bewältigten Strecke in den heimatlich-holsteinischen Schneesumpf soll hier erst gar nicht die Rede sein, auch nicht von dem Meister des Autofahrens, der sein Gefährt auch bei spiegelglatter Fahrbahn und Tempo hundert im Griff hat. Er weiß aus dem Fernsehen, was seine Pneus zu bremsen in der Lage sind. Nichts funktioniert mehr. Auch keine Streusalzbestellung. Wahrscheinlich weil man dort langfristig nur noch in Aktien denken kann. Deshalb wohl haben die Hamster sämtliche Mittel gegen Straßenglätte in den Backen. Alles ausverkauft, auch in den Supermärkten und bei den Kleinkrämern, die auf diese Weise auch ein paar Krümel abbekommen, wenn auch kein Streusalz. Aber auf diese Weise erholt sich wenigstens die Marktwirtschaft. Vermutlich ist das Ganze ohnehin dramatischer Bestandteil des Förderungsprogramms, inszeniert von namhaften Führungspolitikern. Die Büddenwarderin schaut in ihrer geliebten Programmzeitschrift aus dem großen Fernsehverlag schon gar nicht mehr nach den noch mehr geliebten Katastrophenfilmen, die aber auch irgendwie keine sind, weil das Flugzeug ja nie wirklich abstürzt. Langweilig. Es gibt schließlich stündlich Sondersendungen zu den Schnee- und Eismassen, die ganze Länder lahmlegen. Da braucht's nicht einmal mehr Guido Knopp und sein Erinnerungs-TV.
Berufung Ich mochte Parties noch nie, ich saß schon immer lieber gemütlich in schwätzender Runde. Nun ja, das hier war keine gewöhnliche Party, sondern, wie man mir nachdrücklich versicherte, eine Premierenfeier. Aber es ging in der Theaterkantine trotzdem zu wie in der großen Küche einer studentischen Wohngemeinschaft. Gut, man trank anderes als in London, wo ich die letzte Zeit verbummelt hatte. Aber das Gekreische unterschied sich nicht unbedingt. Der Spirit in der Flasche macht eben keine Unterschiede zwischen bier- und schnapstütteligen, mehr oder minder fortgeschrittenen Lehrlingen aus den tiefen Bergwerken des Geistes und der Champagner- oder Weinseligkeit gestandener Koryphäen sekundärer Künste. Daß sie nahezu alle herumhüpften wie nach der sechsten Limonade auf einem Kindergeburtstag, hatte sicherlich damit zun tun, daß sie es gelernt hatten. Man bewegt sich eben anders, wenn man sich jahrelang an der Stange die Füße samt anhängender Gliedmaßen verbogen hat, auch die späteren alltäglichen Bewegungsabläufe verändern sich dabei. Sowohl die Damen als auch die Herren schweben eher als daß sie gehen, und immer mit leicht ausgestellten Füßen. So klischeehaft das klingen mag, aber ich hatte es so immer wieder beobachtet. Man mußte sich in der Gewandung nicht unterscheiden beispielsweise vom Vernissagepublikum, das einige Zeit später sogar Uniformen tragen würde wie die europaweit von den fünf Schneidern produzierten, die sich der enormen Nachfrage wegen genötigt sahen, ihre sich daraus zwangsläufig ergebende Massenproduktion in exclusive kleine Geschäfte in bester Lage auszulagern. Aber damals war eines wie heute: Der Mensch des Musiktheaters wird alleine an seiner Haltung erkannt. Nicht nur der vom Ballett. Auch der Sopran und sein Tenor haben Gefallen an diesen Wirkungen gefunden, die sie auf Außenstehende machen. Lediglich Baß und Bühnenarbeiter stehen und gehen häufig nicht ganz so leichtfüßig. Es ist eben alles eine Frage der (Aus-)Bildung. Die Grazien, denen ich am Vortag in einem Café in die Arme gelaufen war und die mich mit verführerisch blitzenden Augen in dieses musikalische Posttheater eingeführt hatten, tanzten, gestikulierten und brüllten mit. Hin und wieder schauten sie zu mir herüber, einmal wurde ein Winken angedeutet, ein andermal kam es zu einer leichten Hebung des Glases. Das war allerdings leer, das wievielte Mal wußte ich nicht. Auch mir war anfänglich Champagner gereicht worden, vermutlich der auf den Erfolg, dann gab's passablen Wein. Eine Flasche hatte ich für mich auf den nahen Tisch gestellt, an den ich mich dann auch setzte. Dort sah und hörte ich auch nicht weniger als mit erhobenem Haupt. Ich gehörte eben, entgegen den Verlautbarungen der Damen, doch nicht dazu. Das war hier nicht anders als anderswo. Aber vielleicht änderte sich das nach ein paar ausgiebigen Schlucken mehr. Ich schluckte. Nein, ich goß. Zumindest den Inhalt des einen Ballons und auch den eines zweiten. Möglicherweise würde das eine der Elevinnen aus ihrem Plauderpülkchen herauslösen und in meine Richtung hin bewegen. Die waren selbstverständlich ebenfalls eingeladen, auch wenn sie ebenso irgendwie nicht dazugehörten, zu den Erwachsenen oder auch Arrivierten. Doch von deren Seite aus schien für mich noch weniger Hoffnung auf die Befriedigung meiner Bedürfnisse aufzukeimen. Aber so ganz sprach- oder auch fleischlos wollte ich mich dann doch nicht von der Festtafel erheben. Mit einem leichten Ächzen nahm jemand neben mir Platz, nickte zunächst vor sich hin und schaute mich dann direkt an. Dieses etwas robuste Gesicht entsprach nun nicht unbedingt meinen Vorstellungen von einer nahen Zukunft auf dem Bettrand feinfühliger Deklamation rostandscher Poesie, bei der ich mich schmachten hörte Dir dank ich's, Dir allein, daß durch mein Leben gestreift ist eines Frauenkleides Saum. Aber der Wein hatte mich längst eingekerkert, so daß meine zunehmende Einsamkeit auch einen solchen Zellengenossen nicht ganz freudlos begrüßte. Ich nickte dem vierschrötigen Mann mit der umfangreichen Nase zu, die ihre Färbung nicht alleine am heutigen Abend angenommen haben dürfte. Ob man auch ihn alleingelassen, ja aussortiert habe aus dieser Gesellschaft der feinen Damen und Herren da hinten, lautete seine Antwort auf meine Kopfbewegung. Und daß er mich noch nie gesehen habe, demzufolge ich Außenstehender, also Gast hier sei oder neu. Wobei letzteres ausscheide, denn neuen Kollegen gegenüber sei man sogar innnerhalb der hiesigen wilden Musiktruppe hier eigentlich recht nahbar. Aber wer nicht dazu gehöre, wie er von einer anderen Baustelle, der werde zwar aus Gründen der Höflichkeit immer wieder aufs neue eingeladen, doch jeweils alsbald auf die Insel des glückseligmachenden Alkohols verbannt. Weit ausholend lieferte er seine Philosophie des Einzelnen in einer solidarischen Gemeinschaft wie dem Theater ab, die ihm allerdings vorkomme wie die Gewerkschaft, in der die unterschiedlichen Gruppierungen jeweils einzeln die vornapoleonische Auszeichung anstrebe, die historischen Zinnen als erste erklommen zu haben. So, wie er sprach, war er vermutlich doch kein Bühnenarbeiter, wie ich ihn anfänglich eingeschätzt hatte, wobei die leicht angeschmuddelte Latzhose diesen Eindruck noch verstärkte. Eine doch etwas gehobenere Syntax samt einem recht umfangreichen, von Witz unterlegtem Wortschatz sowie die von Schmunzeln begleitete Lakonik verwischte diese Vermutung zudem. Als ich dann zu Wort kam, fiel mir nicht besseres ein, als meinen Nachbarn zu fragen, was er denn hier mache, zumal er, nach eigenen Worten, nicht dazugehöre. Anstatt eine Antwort auf meine überflüssige und durchaus auch ein klein wenig peinliche Frage zu bekommen, rief mein Gesprächspartner fast begeistert aus: Ein Schwede unter uns? Nur unter größtem Bemühen gelang es mir, zu erklären, es handele sich um einen Irrtum, ein Phänomen, das mir zwar bekannt sei, ich aber trotz alledem nicht wisse, woher ich diesen Akzent hätte. Das sei auch egal, meinte er knapp und setzte interessiert mit der Frage nach, was ich denn nun hier treibe beziehungsweise was ich beruflich mache. Schon immer sprach ich ungern über mich, und schon gar nicht über das, was gemeinhin Beruf genannt wird. Mir fiel dazu nichts ein, da ich es selbst nicht wußte. Das sagte ich ihm auch auch. Irgendetwas werde ich doch wohl gelernt haben, tanzen ja wohl kaum, denn sonst säße ich nicht hier, am Ende sei ich gar Kritiker, wenn auch vermutlich in der Anfangsphase. Um der Gefahr zu entgehen, völlig falsch eingeordnet zu werden, erzählte ich dann doch in knappen Zügen von meinem Studium, das mich in alle möglichen Bereiche zweier zu vergleichender Kulturen geführt, mir jedoch nie ein Ziel genannt hätte. In alle erdenklichen Bereichen hätte ich hineingeschnuppert, Literatur, Musik, das Theater, die Künste, und ach! Philosophie. Nun käme ich mir vor wie des allergrößten deutschen Dichters bekanntester Held mit dessen ratloser Klug- und Torheit. Sogar nach einem passablen Abschluß habe man mir nicht sagen können, was ich damit anfangen solle. Es sei eben so gewesen, man habe gelernt um des Lernens willen, quasi den Weg zum Ziel erklärt, und das würde jetzt vermutlich zwangsläufig so weitergehen. Die Gastronomie wäre nicht schlecht, von einem kleinen Restaurant hätte ich schon immer ein wenig geträumt. Aber ausgerechnet dazu fehle mir vermutlich das erforderliche Wissen. Das höre sich gut an an, meinte der Nachbar. Genau so jemanden könne er gebrauchen. Nun gut, dachte ich mir, zwar wollte ich weiter hinunter in den Süden, schließlich hatte ich nur Halt gemacht, um mir die Altstadt anzuschauen, wobei ich den beiden Entzückenden in die Arme gelaufen war, die mich sofort adoptiert hatten, aber warum nicht hier, ganz hier in der Nähe ist schließlich Bocuse zuhause, das könnte doch etwas werden. Vielleicht ließen sich auf diese Weise doch noch die Sterne ergreifen. Kurz darauf entschuldigte sich der Vierschrötige, reichte mir die Hand, nannte seinen Namen, der seiner normannischen Statur gleichkam, und meinte mit einem leicht wiehernden Lachen, genau, er als Maître benötige dringend einen Gehilfen, der ihm nicht nur die Grobheiten beseitigen helfe, sondern auch die Feinheiten zu verfeinern in der Lage wäre. Das brauche sicher seine Zeit, aber das werde schon werden. Wir vereinbarten für den nächsten Nachmittag einen Termin, zu dem ich meinen Vertrag abholen könne, wenn ich denn einen wolle, es ginge zwar auch ohne, aber ein klein wenig Sicherheit möge schon sein. Dann schrieb er mir die Adresse seines Büros auf, erhob und verabschiedete sich und ging. Als ich am nächsten Tag am Haus der notierten Anschrift stand, kam mir das bekannt vor. Mir war, als sei ich am Tag zuvor bereits durch dieses Tor gegangen. Und als ich wieder hinausging, hielt ich drei Stückverträge des hiesigen Sprechtheaters in der zittrigen Hand, unterzeichnet vom Intendanten und gegengezeichnet von mir. Nun hatte ich einen Beruf. Produktionsdramaturg war ich geworden. Nächsten Monat würde es losgehen mit Armer Mörder.
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