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Realität versus Satire Es gibt keine Feinde mehr. Der eine ist endgültig in seine Partei integriert, der andere überlebt kaum mehr als in Bildern der Erinnerung — als die Schwarzen noch farbecht waren und noch nicht so bunt gesprenkelt. Der Kandidat «Sagen Sie den Menschen, daß diesmal um unser Schicksal gewürfelt wird. Sagen sie ihnen, daß sich keiner mehr dem Wellenschlag der Politik entziehen kann. Es gibt kein Glück im stillen Winkel mehr. Sagen Sie es den Verschlafenen, Verdrossenen, Saumseligen, Letscherten und Lapperten in diesem Lande.» Der Kandidat — Original-Ton. Wiedergehört am vergangenen Freitag im Münchner ARRI-Kino. Da hieß es ‹Leinwand frei› für den großen Schauspieler, den Selbstdarsteller Franz Josef Strauß. Eine seiner Lieblingsrollen ist die eines Führers, der Führer eines Landes, das auch das unsere ist. Für diesen Part probt er bereits dreißig Jahre. Daß er die Hauptrolle bekommt, wollen viele Menschen verhindern. Die einen rocken gegen rechts, andere machen Bücher wie Aus Liebe zu Deutschland, Kabaretts widmen ihm ganze Programme, und wieder andere machen Filme wie Der Kandidat. Sie heißen: Volker Schlöndorff und Alexander Kluge, Stefan Aust und Alexander von Eschwege. Die ersten beiden Spiel-, die anderen Dokumentarfilmer. Theoretisch finden alle vier Gnade vor den Augen des Großen Bayerischen Vorsitzenden: Sie haben Abitur. Entstanden ist der Film auf Vorschlag von Theo Hinz, dem Geschäftsführer des Filmverlags der Autoren, der sich eine Fortsetzung des Films Deutschland im Herbst vorstellte. Und um aus Deutschland im Herbst 1980 keinen zweiten, dritten oder werweißwievielten Frühling des politischen Stehaufmannes Strauß werden zu lassen, haben die vier Filmer zurückgeblickt. Aber leider nicht im Zorn. Ob Der Kandidat den Kandidaten in seiner Rolle erschüttern wird, ist fraglich. Andererseits: Was hat diesen ‹Vollblutpolitiker› je wirklich aus seiner Umlaufbahn geschossen? Die Biographie von Strauß liest sich wie ein Politik-Thriller: Hispano Suiza, Spiegel, FIBAG oder Onkel Alois, Starfighter heißen die Stationen, die Affären. Daran zu erinnern, ist das Anliegen des Films, im Dokumentarischen liegt seine Stärke. Denn wer von uns weiß noch genau, wie das war? Daß Strauß als Verteidigungsminister den Schützenpanzer HS 30 zu einer Zeit kaufte, als das Kriegsgerät lediglich im Holzmodell existierte; er wegen des «landesverräterischen» Artikels im Spiegel dessen Redaktion ausheben und den damaligen Chefredakteur Conrad Ahlers über sämtliche (juristisch legitime) Grenzen hinweg in Spanien verhaften ließ. Auch der plötzliche Reichtum seines Nenn-Onkels Alois und die zahlreichen runtergefallenen Starfighter sind bei vielen von uns der Schnee zweier vergangener Jahrzehnte. Das alles holt Der Kandidat aus unseren Hinterköpfen hervor, hilft den Jüngeren bei der Aufarbeitung bundesdeutscher Geschichte. Und das, obwohl ARD und ZDF den Autoren den Zugang zur verfilmten deutschen Nachkriegsgeschichte verweigerten! Im Wahljahr könne man sich das nicht leisten, war die Begründung des elektronischen Meinungspools. Der Hauptinitiator des Films, der Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff, ist der Meinung, daß nicht von Strauß die Gefahr ausgeht, sondern von der «Trägheit unserer Gesellschaft, die bereit ist, eine mehr oder minder funktionierende Demokratie aufzugeben und sie einem sogenannten starken Mann zu überantworten». Diese These bestimmt auch den Film. Hätte der starke Mann Strauß gewußt, wie wenig ihm das Vierergespann auf die Zehen tritt, die Kamerateams wären bei den Dreharbeiten am Ort nicht immer wieder ‹rausgeflogen›. Strauß bei der Arbeit, in der Familie, als noch ranker Jung-Politiker unter Adenauer, als Hochzeiter und ballspielender Vater. Immer ein bißchen verschwitzt und auch verschmitzt, ein Unikum halt. Selbst wenn er in Passau vor Tausenden seine Sozialisten-Hatz runterbelfert, kann er einem in diesem Film fast leid tun. Ihm verhagelt's darin viel öfter die Sprache als dem Kinogänger. So gesehen sind die (kommentarlosen) Bilder und Original-Töne am interessantesten und aufschlußreichsten, die diese schauerlich-herbstliche Stimmung im Deutschland der achtziger Jahre zeigen: das von den Massen in der Passauer Nibelungenhalle gesungene Deutschland-Lied (zu dessen dritter Strophe Strauß — demonstrativ? — schweigt); unser Proporz-Bundespräsident auf Wanderschaft in der Lüneburger Heide («Finden Sie nicht auch, daß es nicht mehr so stark regnet?»). Auch die Parallelität der beiden Führungspolitiker ist frappierend dokumentiert. Da macht der Film spätestens den dramaturgischen Schlenker in die informative Satire, vervollständigt von der Gegenüberstellung des Gründungsparteitages der ‹Grünen› und einem Luftwaffenball und der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht in dessen Amtssitz — beide im Glauben, daß die Kamera noch nicht läuft. Nach gut zwei Stunden Der Kandidat resümierte ich mit dem Passauer Kabarettisten Siegfried Zimmerschied: Die Satire ist nicht in der Lage, die Realität einzuholen. Der Kandidat ist (am Ende) Satire. Stoppen dürfte Der Kandidat den Kandidaten kaum. Allenfalls könnte er ein bißchen nachdenklich machen, allerdings nur diejenigen, die das ohnehin tun: nachdenken nämlich. Flohmarkt: savoir-vivre, 1980
Molière zurück auf Thespis' Karren Ich hab' geträumt heut' nacht. Von ihm. Es war wie einst zum 1. Mai. Inne Kneipe. Klar. — Ihm ein Denkmal. ![]() Tagtäglich und überall begegnet man ihm. Früh morgens, auf dem Weg zur Arbeit, in der U- oder auch S-Bahn, auch im via Bankkredit zusammengestoppelten unteren Mittelklassewagen, das Gesicht mürrisch zerknittert vom Ständig-viel-zu-frühen-Aufstehen, die Manchesterhose schlotternd um die Beine, die wie übers Faß gebügelt scheinen (dick scheint einer wie er, obwohl er das Glas gern immer nachgefüllt sieht, nicht werden zu können). Abends dann, in der Kneipe an der Ecke, sind die Gesichtsfalten zwar nicht weniger geworden, doch der Feierabend hat die Physiognomie offener, heiterer gestaltet, die Witzchen kommen ihm jetzt leichter über die zwar vollen, aber immer doch ein bißchen zusammengekniffenen Lippen. Im breitesten Hamburger, Dortmunder, Kölner, Stuttgarter oder Münchner Dialekt könnte er sie erzählen. Das laute, meckernd-unbekümmert-freie Lachen, vorwiegend über sich selbst, ist geographisch überall einzuordnen. Wie überhaupt der ganze Typ. Dieser ‹Allerweltstyp›, von dem hier die Schreibe ist, hat nach zwanzig Jahren Heidelberg, Göttingen, Berlin, Zürich mit überwiegendem Wohnsitz München seinen breiten, gutturalen, temperamentvoll den Rhythmus wechselnden Tiroler Dialekt nicht nur nicht abgelegt in die Lade neutraler, regional nicht mehr identifizierbaren Sprache, er wird sie gar beibehalten bis zum letzten Stoßseufzer, der da lauten könnte: Begrabt mich an der Biegung des Inn, irgendwo dort, wo die Teutonen über den Brenner gehen. Richtig, vom Brenner wird hier geschrieben. Vorname Hans, geboren am 25.11.1938 in Innsbruck, Sohn eines tatkräftig engagierten sozialdemokratischen Arbeiters und dessen gleichgesinnter Ehefrau, nach dem Abitur beinahe Medizin- oder Forstwirtschaftsstudent, aber dann doch nur Schauspieler geworden. Anzunehmen ist, daß er, bei seinem Arbeitseifer, besagten letzten Seufzer auf der Bühne tun wird, wie gesagt: in seinem Dialekt. Zu dem ist er, der Polyglotterie der gebildeten Theaterwelt fast überdrüssig, zumindest zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, unumstößlich zurückgekehrt. Vorbei, so scheint es, dieses Deutsch der gespitzten und geschürzten Lippen, das mehr oder minder allerorten von den weltbedeutenden Brettern auf ein nur noch vom Ästhetizistischen berauschtes Publikum hinab-, um es wie Brenner zu formulieren, herabgelassen wird. Er, der die Partitur des deutschsprachigen klassischen (Bildungs-)Theaters rauf- und runtergespielt hat, ist mit vollem Blut zu der Bühne zurückgekehrt (oder auch: endlich dort angelangt), die dramatisch/theatralisch das Leben des vielzitierten einfachen Volkes reflektiert, aber bittschön nicht platt(-deutsch) wie Ohnesorg/Hamburg, vermillowitscht wie in Köln oder wie aus diesen touristischen oberbayerschen Komödienstadl-Küchen, in denen das Bühnenerlebnis schmeckt wie Pappe. Dialektisch soll es sein, in des Begriffes doppelter Bedeutung. Wie aus der «Hausmanns»-Küche eines Bertolt Brecht, eines Heiner Müller oder eines Franz Xaver Kroetz einerseits und in einer Sprache andererseits, die noch nicht zum Artifiziellen hin abgerutscht ist. Einfach, aber kräftig, für jedermann genieß-, ergo verstehbar, versehen mit der Würze des Für und Wider, basierend auf einer Ästhetikrezeptur, die er, der Volksschauspieler expressis verbis, im Augenblick allerdings noch nicht so recht vermitteln kann. (Überhaupt kommt ihm, dem Virtuosen der Körper- und Bühnensprache, die freie Rede nur schwer über die Lippen.) Diese Ästhetik müsse jetzt, im neuen Haus, erst wieder neu, nein, überhaupt müsse sie erst gefunden werden, es habe sie ja nie gegeben, eine Kleinbürgerästhetik. Bei Brecht ja, der ... Aber was sie, die Regisseure des Bürgertums, gemacht haben daraus auf ihrer Olympiade der Eitelkeiten! Den Brecht oder auch den Büchner, die erkenne man ja überhaupt nicht wieder, man wisse ja gar nicht mehr, was in diesen Stücken gespielt werde ... Das neue Haus, in dem zunächst einmal die Spuren, die zu einer Kleinbürgerästhetik führen, gesichert werden sollen, ist das am 24. November letzten Jahres eröffnete Münchner Volkstheater. Zusammen mit Lebensgefährtin und Kollegin Ruth Drexel hat er das Zustandekommen dieser subventionierten Volksbühne betrieben wie kein anderer. Hier will er seine seit rund fünfzehn Jahren gewachsenen Vorstellungen vom Theater für die kleinen Leute, gemeinsam mit einer alten Riege bayerisch-tirolerischer Volksschauspieler und unter der Leitung des ehemaligen Chefdramaturgen des Münchner Residenztheaters, Jörg-Dieter Haas, realisieren. Die Konsequenz: Auf dem Bildschirm, über den Brenner zu seiner Popularität gelangt ist, wird man diesen grantigen, kantigen Übersetzer von ‹Milieu›-Charakteren in nächster Zeit kaum sehen. Zunächst einmal ist es ihm wichtig, die Institution Volkstheater München als Forum «für die Leute, die Schwächeren, die die Abhängigen sind, die dominiert und gegängelt werden», im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu installieren, aber auch im Bewußtsein der nach wie vor gegen dieses Theater opponierenden Lokalpresse. Abgesehen davon: Spricht Brenner von sich als Schauspieler, dann will er das aufs Theater bezogen wissen. Sicher, er ist in den letzten Jahren vor allem im Pantoffelkino ständig präsent gewesen. In der Alpensaga beispielsweise, in der Fernsehfassung von Marie-Luise Fleißers Stück Der starke Stamm, in Folgen von Tatort, Derrick, Der Alte oder Walter Sedlmayrs Der Nächste bitte. Doch das Fernsehen, wie auch der Film, bringt ihn künstlerisch bei weitem nicht so in Wallung wie das Theater. Nur auf der Bühne ergibt sich für ihn dieses «sehr sensible Miteinander oder auch Gegeneinander», lernt man, «wie doch der Einsatz sein muß, um den Kollegen näherzukommen». Nur beim allabendlichen Live-Auftritt könne er im Publikum das «kontroverse Klima produzieren», in dem die einen, die ihn «am liebsten runterprügeln wollen von der Bühne, trotzdem lachen», und die anderen, die ihn «ans Herz drücken wollen, fragen: Warum muß er denn dem Affen so Zucker geben?». Demgegenüber ist ihm, zweifelsohne ein ranghoher Solist, der Film eine «zu solistische Betätigung». Zwei, drei Titel sind ihm dann doch zu entlocken, Arbeiten, zu denen er «voll steht», die auch seinem sozialdemokratischen Verständnis vom dialektischen Abbilden der Wirklichkeit entsprechen. Daß er dabei einen Film besonders hervorhebt, fast schwärmerisch auf Peppermint Frieden zu sprechen kommt, ist aus verschiedenen Gründen plausibel. Die Rolle diesen fiesen, die Kinder eines niederbayerischen Dörfchens in bigotte Lustfeindlichkeit treibenden Pfarrers Expositus hat er nach der Lektüre des Drehbuchs (Marianne S. W. Rosenbaum) mit dem begeisterten Ausruf «Endlich mal ein Film mit Widersprüchen» vorbehaltlos angenommen. Gespielt hat er sie dann mit Team (Peter Fonda, Konstantin Wecker, Cleo Kretschmer u. v. a.) und Thema (Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Mädchens) entsprechender Virtuosität. Allein seine Kanzelworte, mit denen er seinen Schäfchen die Angst vor den antichristlichen, bolschewistischen «roten Sternen, die drohend über den Gipfeln unseres schönen bayerischen Waldes stehen», zwischen die gerade wieder nachwachsenden Hörner drischt, haben die Durchschlagskraft einer mittleren Friedensbewegung. Da der im Herbst '83 angelaufene Leinwandeinstieg von Marianne S. W. Rosenbaum, von Stern-Kritiker Bodo Fründt als «beste deutsche Kinopremiere seit langem» prädikatisiert, demnächst auch die US-Amerikaner (friedens-)bewegen wird, ist anzunehmen, daß in nächster Zeit manch ein Rollenangebot über den großen Teich kommen und im Einfamilienhaus im oberbayerischen Zorneding anlanden wird. Hermetisch abgeriegelt scheint dieses Katalogreihenhaus, dem das Wie-du-und-ich-Paar Brenner/Drexel nebst achtjährigem Töchterchen Cilli ‹innewohnt›. Denn, von Freunden abgesehen: Wie's da drinnen aussieht, geht (fast) keinen was an. Nun ficht da drinnen der Brenner seiner Drexel nicht unbedingt aus Apfelblüten einen Kranz. Da wird schon mehr handfest über die Arbeit gesprochen, die nahezu identisch ist mit dem Privatleben. Vordergründige Sentimentalitäten sind nicht eben die Fracht dieses Schauspielerdoppels, das sich vor den Thespiskarren Volkstheater gespannt hat, seit rund 15 Jahren immerhin. Dennoch geht es, zumindest was den reichlichen Musikkonsum des Hans Brenner betrifft, des öfteren operettenhaft zu bei ihm zu Hause. Er ist «ein hoffnungsloser Fan des seichtesten aller seichten Milieus». (Es zu überdenken, sei überhaupt vonnöten. Man denke nur an Brechts Kaukasischen Kreidekreis, eine «der schönsten Schnulzen überhaupt». Mit solchen Sujets käme man doch endlich ans «Volk» ran, das den Kulturschaffenden hierzulande bei jeder Gelegenheit mehr oder minder heuchlerisch zwischen den Lippen hervorquille.) Aber auch die ganze Klassik hört er, «bis runter zu Schönberg, natürlich die Mozart-Opern und Verdi». Das sei nicht, «wie man sagt, Musikhobby, sondern das ist eine Leidenschaft». Die Rockmusik nicht ausgenommen. Und die anderen Künste, die zeitgenössische Malerei und Bildhauerei? Da war er, sieht man vom im Haus hängenden Picasso ab, «kein echter, aber einer von 2.000 handsignierten», bislang abstinent. Aus zweierlei Perspektiven repräsentiert er da ein altes Dilemma: Zum einen die gewisse Bilderfeindlichkeit, vor allem gegenüber der Moderne, die das Kleinbürgertum entwickelt hat (und Hans Brenner bekennt sich nicht nur zu ihm, er entstammt ihm tatsächlich); zum anderen durch die (ebenfalls historisch bestimmte) Konfrontation einer Kunst der oberen (Adels-)Stände, der ‹bildenden›, mit der des Volkes, des einfacher zu verstehenden Theaters. Doch Brenner reflektiert die Ablehnung, die er beispielsweise gegenüber der abstrakten bildenden Kunst hatte (und die er für sich selber bald abgelegt haben will), über private Begegnungen mit Malern und Bildhauern: Sie seien ihm «zu monoman, zu egozentrisch, zu zurückgezogen» für ihn, der «gern mit den Leuten am Stammtisch hockt». Aber er, der meint, die bei uns praktizierten Ästhetikvorstellungen stünden im krassen Mißverhältnis zur Nachfrage, will die bürgerliche Kultur keineswegs abgeschafft wissen. Schließlich werde «dieses Land ja von den Bürgerlichen regiert, und die brauchen ja auch ihre Kultur». Nur, daß die ständig in die der kleinen Leute eingreifen, bringt ihn fast in Harnisch. Das war schon so zur Zeit der Studentenbewegung, als er bei Peter Stein an der Berliner Schaubühne war. Damals, Ende der 60er Jahre, kamen die Studenten jeden Abend und fragten, ob unter den gesellschaftspolitischen Verhältnissen Theaterspiel überhaupt noch möglich sei. «Natürlich», sagt der damals von der bürgerlichen Theaterkritik nahezu Gehätschelte, «die Sympathie, die gehörte denen. Aber diese Leute, die die großen Diskussionen geschwungen haben in irgendwelchen Aulen, die haben mir zum Teil fürchterlich gestunken. Das waren auch so Bürgerkinder mit besten Manieren und hervorragenden Möglichkeiten, sich zu äußern. Denen lief das da alles so runter von den Lippen wie Honig, deren Argumentation.» Und er resümiert, daß das Scheitern der Studentenbewegung daran lag, «daß es diesen Leuten überhaupt nicht gelungen ist, einen Zugang zum Kleinbürger zu finden». Da er Kunst und Politik voneinander nicht trennen kann und will, wettert er auch, womit wir wieder beim Theater wären, gegen diejenigen, die sich zum Beispiel einen «echten Grattler wie den Karl Valentin in ihrer bourgoisen Hybris reinziehn». Was sie mit ihm gemacht haben, findet er «zum Teil unappetitlich». Es sei «natürlich schon ein Leckerbissen für alle Bürgerlichen, die tausend Nöte und Ängste, diesen fürchterlich chaotischen Boden eines Kleinbürgers so komisch» auszustellen. Ihn, den Valentin, das von den Falschen vereinnahmte Symbol des armen Schluckers, möchte Brenner nach eigenen Vorstellungen vors breite, vors richtige Publikum bringen. Mit Chaplin, mit den großen Shakespeare-Narren vergleicht er ihn, und spielen will er ihn, auch wenn er sich sicher ist, daß er damit «das Maul sehr voll nimmt», schon angesichts der Tatsache, daß doch tatsächlich ein Münchner Faschingsverein sich erdreistet, einen Valentin-Orden alljährlich zu verleihen. «Speiübel» wird ihm dabei. Nicht mit dessen «eigentlich unwiederholbaren, weil originellen Mitteln» will er ihn für (Münchner Volks-)Theater zurückerobern, sondern «einfach mit den Mitteln eines Schauspielers, der für diese Art von Phantasie sehr, sehr viel übrig hat». Auch Nestroy, den er «für einen außerordentlichen Volkstheaterschriftsteller» hält, habe seine Stücke ja auch für «seine kleine Klitsche, diese Sofittenbühne mit den drei Fetzen», geschrieben, und es sei ja auch gelungen, «den Nestroy für das deutsche Theater zu entdecken». Daß er «manchmal so schlecht inszeniert wird, daß man ihn gar nicht anschauen kann» ... Aber das sei wieder eine ganz andere Geschichte. P. S. Hans wurde 1998 jenseits des Brenner begraben. Flohmarkt: savoir-vivre, Februar 1985 Photographie: © Thomas Karsten
Eisenbahnromantik ![]() Besonders in deutschen Landen frisch auf den Tisch des allzeit bereiten Konsumenten servieren die Medien gerne die Inflation. Doch so sehr diese offensichtlichen Urängste des zur Sparsamkeit erzogenen Menschleins immerfort aus ihm herausdrängen, ihn sozusagen über die rechtzeitige Erziehung «authentisch» machen, nicht zuletzt, da ebendiese Unterhaltungssendungen inflationär zunehmen, in denen vermutlich in Kürze viertelstündlich die Gold- und Silberkurse durch den Äther beinahe dauerfunken, es existiert dabei ein Widerspruch, den ich mangels psychologischem Einfühlungsvermögen nicht nachvollziehen kann — die inflationär produzierte Eigeninflation. Möglicherweise gibt es Verbindungen zwischen dem, das der Mensch nicht hat, und weshalb er sich ständig getrieben sieht, es zumindest virtuell in derartigen Massen zu fordern, daß sich bei der dann tatsächlich erfolgenden Forderungserfüllung selbst der Magen des allerärgsten Vielfraßes wegen Überfüllung in die Rotation begibt. Als Beispiele ließen sich Fernsehsendungen nennen, in denen es ums Kochen oder um die Liebe geht oder um nutzlose Gegenstände, die man zu verkaufen trachtet, um im Anschluß daran Gegenstände erwerben zu können, die garantiert nicht benötigt werden. Zu diesen scheint sich eine weitere hinzuzugesellen: die Eisenbahn, gerne verpackt in dieses blümchenartige Geschenkpapier mit in der fernöstlichen Fabrik vorgefertigten Schleifchen namens Romantik, die sich dann in einer ähnlichen Logik präsentiert wie die Aufklärung im aktuellen chinesischen Kommunismus. Des Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, je weniger Menschen mit der Bahn fahren, vielleicht weil es immer weniger nutzbare Strecken gibt oder dort, wo sie noch existieren, gar keine mehr hineinpassen in die Waggons, um so mehr sehnen sie sich nach diesem scheinbar nicht mehr existenten Verkehr auf den Schienen. Reichte es vor noch nicht allzu langer Zeit aus, dem nächtlich Einsamen die Position eines Lokführers anzubieten, von der aus er virtuell irgendwo von A nach B durch irgendeine Landschaft fuhr, so tuckern mittlerweile soviele Bähnleins durch die Fernsehlande, daß selbst wiederbelebte Geleise nicht ausreichen würden, diese Langsamreisen realiter durchzuführen. Mir wurde zugetragen, daß es sich bei den potentiellen Interessenten dieser meist technikspielerischen Bahnfahrten überwiegend um Menschen handeln soll, die sich im Ruhezustand des Lebens befinden. Vor etwa fünfzehn Jahren bin ich nach einem langen Reifeprozeß zu jemandem geworden, der dieses Reisen mit Muße schätzen gelernt hat, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich, im Gegensatz zum ständig irgendwo tunnelnden ICE oder dem in drei Stunden die Strecke Paris-Marseille durchzischenden TGV dabei etwas von Ländern und Menschen sehe und dabei hin und wieder gar von der Muse oder einer Mitreisenden geküßt werde. Das ist mit ein Grund, weshalb ich von der anfänglich genutzten ersten Klasse in die zweite umgestiegen bin. So ziehe ich es beispielsweise vor, für die Bahnreise vom Holsteinischen nach Berlin durch Branden- und Mecklenburgs Weiten zu rollen. Davon einmal abgesehen, daß trotz zweimaligen Umsteigens ich auch nicht später ankomme, als führe ich mit dem Expreß von Hamburg aus zur hauptstädtischen Zentralstation — ich sehe eigentlich nie Menschen meines Alters in diesen Zügen. Aber die reisen vermutlich nicht wie ich zu Zeiten, in denen sie Zeit hätten, allen anderen die Plätze zu überlassen, die diejenigen benötigen, die sich auf dem Nachhauseweg von des Tages Last ein wenig ausruhen möchten. Oder sie sitzen auf den vor drei Monaten und deshalb äußerst preiswerten bequemen Sesseln der Großraumwagen, bevorzugt karten- oder sonstwas spielend bei mitgebrachten Analogkäsebroten, und auch hier am liebsten während der Stunden des Berufs- oder Wochenendverkehrs. À propos: Auch hier scheint es Analogien zu geben — wer am meisten Zeit hat, geht dann zum Einkaufen seiner analogen Grundnahrungsmittel, wenn am meisten los ist in den Läden. Man möchte schließlich auch mal unter Menschen. So sehe ich nächtlich einsamer, weil von unendlicher Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit Malträtierter in zunehmendem Maße, wie immer mehr Menschen in hundert Jahre alten Bähnchen auf stillgelegten Strecken drängen. Offensichtlich kann es gar nicht eng genug zugehen, so gemütlich oder auch romantisch muß das sein. Oder sollte es dabei, um in die philosophische Dimension meiner Ansprüche zurückzukehren, andere Seinsursachen geben? Wer war zuerst da — die Bahn oder das Ei, das die Unterhaltungsindustrie gelegt hat? Was treibt die Herde Mensch derart gar in eigens dafür gebildete Schaukästen wie etwa dem hamburgischen Wunderland zusammen, daß sogar öffentlich-rechtlich pausenlos neue Strecken eröffnet werden müssen, derweil in der Wirklichkeit kaum noch ein Vorankommen ist (wobei nicht die berechtigten Streiks auf den privatisierten und deshalb lohndezimierten Bahnstrecken gemeint sind)? Hatten die Älteren während ihrer Kindheit mangels Masse keine ausreichende Gelegenheit, damit zu spielen? Müssen wegen dieser Verklärung einer nicht vorhandenen Erinnerung die Kleinen einen ganzen Nachmittag auf ihre Spiele am Computer verzichten? Ich habe einen Traum — der Wutbürger demonstriert sich seine Welt zurück, in der er seine Eisenbahn wiedererhält, die in Staats-, also Steuerzahlerbesitz sich weniger um Gewinne und mehr um diejenigen bemüht, die sie als bequemes und, ja, auch das noch, umweltfreundliches Transportmittel benötigen. Dann kämen einige weniger tiefergelegte Bahnhöfe mehr zusammen, und die in kleineren Städten würden samt Toiletten und Fahrkartenschalter wieder in Betrieb genommen. Das wäre mal eine andere Maßnahme, für Arbeitsplätze zu protestieren. Aber das ginge dann auch schon wieder in Richtung einer Inflation. Die der Nostalgie ist schließlich billiger.
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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6421 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
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