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Der politische Analyst Mein inzwischen dreijähriger Henri II, für den ich eigentlich eher eine künstlerische Karriere vorgesehen hatte, plappert mittlerweile von der Schule, in die er mal kommen wird: trilingual (chinesisch, englisch, französisch und, als Nebenfach, deutsch) und privat, weil eine normale gar nicht mehr geht, wie Maman meint. Angedeutet hatte ich es vor einiger Zeit, als mir klar geworden war, daß neuerlich bald ein neues Wort die Gipfel aller Moden erklimmen würde, jenes Olympia, von dem die sprachlichen Himmelsstürmer meinen, es erklimmen zu müssen, um sich ganz oben zu wähnen auf der leicht geplätteten Kugel, die wohl deshalb in ihrer Form global genannt wird. Vorgestern nun war es endgültig: Da erzählte mir geistig Minderbemitteltem eine Fernsehreportin des aktuellen Tagesgeschäfts vom «politischen Analyst», der Professor sei an einer bayerischen Universität. Ein Politikwissenschaftler als politischer Analyst. Vielleicht lag's ja daran, daß er über Euro und Krise und Weltwirtschaft und die Möglichkeit sprach, irgendwelche Hebel zu nutzen, um anderen die Börse aufzustemmen, also über Blasen redete, die zu produzieren wahrlich nicht nur Angehörige der sogenannten Finanzmärkte in der Lage sind, weil sie nicht wissen, worüber sie konfabulieren, sondern auch Journalisten, deren Sprachvermögen an den heutigen Schulen mittlerweile offensichtlich auf einen kleinsten, aber auch wirklich von jedem (nicht) verstandenen gemeinsamen Nenner eingedampft, ja zu Tütensuppenstaub totreduziert zu sein scheint, so daß sie sich von anderswoher Begriffe ausleihen müssen, die alles zulassen, nur keine sprachliche Viefalt. An die Wortführer aus der Welt der Finanzen haben die Deutschen sich längst gewohnt, wie sie sich eben an alles gewöhnen, was von drüben kommt. Nein, nicht dieses Drüben, wohin derjenige gefälligst gehen sollte, der geäußert hatte, daß ihm dieses oder jenes nicht passe. Das Drüben von der anderen, sozusagen der Gegenseite, wo alles herkommt, das gut ist, quasi wie ein warmer Regen, der Gewinn verspricht. Von den Brüdern und Schwestern aus dem wilden Westen nämlich, die den Deutschen aus reiner, christlich-altruistischer Mengenlehre so kostbare Güter wie Marshall-Plan und Care-Pakete via Rosinenbomber bescherten, ohne die sie vermutllich mindestens so arg am Hungertuch genagt hätten wie die aus dem Osten, die schier ohne Ende Reparaturleistungen abzuführen hatten und sich ohne Westkredite höchstwahrscheinlich um einiges früher im Schmieröl blühender Landschaften hätten suhlen oder eben eine sibirische Provinz werden dürfen. Mit diesem Gewinn wurde es ihnen schließlich möglich gemacht, (sich) zu behaupten, etwa: an ihnen solle die Welt, zumindest Europa genesen, beispielsweise durch eine erfolgreiche Politik des Exports, bedingt durch das Absenken realer Löhne und Erhöhung zu erbringender Leistungen. Daß Deutschland 1953 entschuldet werden mußte, unter anderem durch Griechenland, davon wird zwar immer wieder mal geredet, aber die meisten hören nicht zu. Wie bei fast allem, das sie unmittelbar betrifft. Oder ihr Leidbild ins Wanken bringen könnte. Was ist das für ein Land, das immerfort von sich behauptet, eine Nation von Kultur, nicht im Sinne von Landwirtschaft, sondern eher französisch im Sinn von Civilisation (die Suchmaschine scheint, zumindest an vorderster Sprachfront, allerdings nur ein Computerspiel dieses Namens zu kennen), also weniger von Martin Luther als von den Encyclopédistes zu sein, und dabei ständig die aus einem anderen importiert, die das Überflüssige zum höchsten Gut und alles andere für schlecht, weil, beispielsweise, kommunistisch, erkärt hat? Weshalb sprechen die Deutschen, zum anderen Beispiel, eigentlich nur noch von Technologie, wenn Technik gemeint ist? Und wundern sich, wenn sie, wie bei ihrer Tütensauce aus garantiert nichtnatürlichen Zutaten, daß es Unterschiede gibt zwischen Ingredienzien. Klar, die kennen sie nicht (mehr). Die erste ist nämlich die Lehre von der zweiten. Bei den fortschrittlichen Brüdern und Schwestern aus dem wirtschaftlichen Westen ist das ein Klumpatsch. Und so schmeckt der sich modern gerierende, alles wesentliche abstrahierende Sprachbrei auch. Gefragt wurde ein politischer Wissenschaftler nach seiner Meinung zur ökonomischen Situation Europas. Da Europa nach Meinung der wohl meisten Deutschen ohnehin nur noch eine Sprache zu sprechen scheint, jene, die einst vom sogenannten alten Kontinent kam und im gewinnenden Westen ohne historischen Zeitbezug endgültig auf einen Begriff, auf den des Schnellfraßes eingedampft worden war, nimmt man das, was schneller geht, was kein weiteres Nachdenken erfordert: das vereinfachende Vereinfachte. Ein vor die Kamera gebetener Experte redete davon, die «Bewegung» (siehe Delius' Unterscheidung zwischen dem 68er-Singular und Plural) in den nordafrikanischen Ländern oder die von den neunundneunzig Prozent beziehungsweise einem seien von Intellektuellen forciert. Im Nebensatz fiel der Begriff Gebildete. Genau das ist es, zu dessen Unterscheidung ich mich hier und anderswo vielfach geäußert habe: Bildung, so wie sie heutzutage verstanden wird, hat mit der Fähigkeit, zu unterscheiden, ein eigenes Denkgebäude entwerfen zu können, wenig zu tun. Intellegere bedeutet: wahrnehmen und erkennen, abwägen zu können zwischen dem Denken des einen oder der übernommenen Schablone des anderen, das eigene Wissen mit einzubringen und daraus eine eigene Meinung zu formulieren. Daß es dabei zu Übereinstimmungen mit der anderer kommen kann, steht außer Frage. Aber derjenige, der lediglich zur Steigerung des Bruttosozialprodukts (seit etwa der Jahrtausendwende Bruttonationalprodukt) nicht einmal mehr 333 als Issos Keilerei auswendig lernt, der mag, sollte er's dennoch tun, vielleicht ahnen, daß sich seinerzeit da irgendwo in der damaligen zivilisierten Welt mal wieder einige die Köpfe eingeschlagen haben, mag sein aus Macht- und Ruhm-, damit verbunden wohl Gewinnsucht, aber er weiß deshalb noch lange nicht, warum sie's tatsächlich taten. Er mag also vielleicht das Angebot kennen, auf welchen Märkten für ihn eine Markenzukunft angeboten wird, aber Merkmale zur Unterscheidung hat er deshalb noch lange nicht gelernt, die ihn befähigen könnten, zu differenzieren zwischen schwarz und weiß, zwischen gut und schlecht, als Gottesanbeter möglicherweise noch zwischen gut und böse. Nun gut, ich mag das sein, was andere einen Sprachnörgler nennen. Zwar kann ich der Argumentation durchaus nickend folgen und gar bestätigen, daß auch das geschriebene Wort sich dem gesprochenen anpaßt, Wandlungen unterworfen ist. Auch Rezepte ändern sich. Aber mir ist es eben keineswegs wurscht, was in der Sauce oder Suppe enthalten ist, ob trockene, getrocknete Knochen, bald auch noch synthetisch rein hergestellt, oder tatsächlich Fleisch. Gut, möglicherweise wird mir demnächst das zu essen verboten, weil es nicht mehr korrekt ist, nicht mehr den Moralvorstellungen «gebildeter» Menschen entspricht. Ich hingegen habe bereits vor zwanzig und mehr Jahren, als der Konsumterror und das Billigheimerdenken sich zur Paarung entschlossen hatten, gewußt, wie schädlich Übermaß, Überproduktion sein kann. Aber solange noch ein Rest an Geschmacksnerven in mir sind, will ich schmecken, was dran und drinnen ist. Solange heißt der «Analyst», meinetwegen, so, weil der ohnehin ein-, gar weggedampft gehört. Der politische Wissenschaftler ist jedenfalls, wenn denn überhaupt dazu fähig, allenfalls ein Analytiker. Es sei denn, mein persönlicher Psycho überzeugt mich nach einem meiner nächsten Sprachwutbürgeranfälle auf dessen Couch liegend davon, auch er sei ein solcher. Dann bin ich allerdings dort, wo vor gut zwanzig Jahren die DDR war, die Globalisierung genannte Raserei einsetzte und mittlerweile auch das gesamte Deutschland zu sein scheint: sprachlos.
Dem hinkenden Boten, neben der Kopfschüttlerin einer meiner zwei in Berlin ansässigen Vorleser, schulde ich besonderen Dank für den Hinweis auf den 68er-Text von Friedrich Christian Delius (ich wußte gar nicht, daß er eine eigene Seite im Zwischennetz hat). Seine Gedichte habe ich, seit Kursbuch-Zeiten, manchmal gelesen, seine Erzählungen mochte ich von Anfang an, endgültig festgesetzt hatte er sich in meinem sandbankartigen, von der ewigen Wiederkehr der Gezeiten geprägten, absolut antihollywoodianischen Kopfkino mit Ein Held der inneren Sicherheit. Dann geriet er, völlig grundlos, in die Untiefen meiner eben nicht berechenbaren Langzeiterinnerung. Doch er hat sich, wie selten einer bei mir, bis heute auch oder gerade als Erzähler, als Gedächtnisanker in mir gehalten; der würde mir, das war mir immer klar, nie zur Gänze hinter dem Horizont des weiten Weltmeeres verschwinden. Und eines Tages tauchte er im Regal der kleinen Uhlenorster Buchhandlung in der Papenburger Straße wieder auf, wo ich außerhalb des von mir nicht sonderlich geschätzten Versandgeschäftes auf der Suche nach den literarischen Achtzigern fündig geworden war, dieser Delius, mit seinem Spaziergang von Rostock nach Syrakus, einer atemberaubend in sich, wie im Protagonisten, ruhenden Geschichte von einem Mann, der die Freiheit außerhalb der DDR nicht unbedingt suchte, sie deshalb nicht verlassen wollte, sondern einfach das Sizilien sehen und erleben wollte, in das sich einst Johann Gottfried Seume aufgemacht hatte — und zwar mittels eines Schlauchboots via Ostsee. Da kommt keine dieser fernseh- oder fernwehsehnsüchtigen, meist vom MDR in alle anderen Sender gekippten Reportagen von freiheitsfliehenden Bürgern aller möglichen runden Tische gegen an. Das hat eben jene Lapidarität, fast Lakonik, die manch eine weltbetrachtende Rezeptur der West-Ost-Perspektive auf die nötige Reduktion einkochen würde, feinster, reiner Fond aus minimalen, hier darf's mal gesagt werden, authentischen Ressourcen. Delius' immer zweiflerischer Rückblick, hier auf die letzten dreißig-, vierzig und noch mehr Jahre wird an dieser Rede deutlich: «Das sollten heutige Forscher, Betrachter, 68er-Hasser und Nostalgiker beachten: Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen wegläßt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.» Ich nehme mal an, daß mir dieser Satz von ihm deshalb am besten gefällt, weil er die Lage am zutreffendsten, mit dem ihm eigenen Humor und stillen Witz beschreibt: «‹Er ist gesehen worden, wie er zusah.› Der Autor [Delius] definiert sich als teilnehmender Zuschauer, mitlaufender Beschreiber, als sich beobachtender Beobachter. Also wieder einmal: Nichts da vom Tod der Literatur, sondern Literatur als Ziel und vielleicht als Mittel.» Hans Magnus Enzensberger zitiert er etwas ausführlicher in seiner Betrachtung des wiedergelesenen Kursbuch 15, der Natur der Sache dienend, aber eben nicht letztlich doch unfreiwillig heroisierend wie jene, die zum Immergleichen, Mehrfachwieder- oder Widergekäuten aus der Futterkiste der Sekundärklischees greifen, wie das bei allzuvielen der heutigen Rezipienten oder Textzusammensetzer der Fall ist, die in ihrem Willen, Idole oder Ideologien (die es, dabei Delius zustimmend heftig zunickend, eben so einfach beziehungsweise vereinfachend nie gab) zu zerstören oder zu erhöhen, vor Klappentexten und Waschzetteln niederknien, vielleicht sollte ich schreiben: Rezeptionisten einer vor bald fünfzig Jahren begonnenen, sich in alle Winde und deren Richtungen ausgebreitet habenden Hotelanlage namens Utopia, hier knapp mit: «Zur ‹politischen Alphabetisierung Deutschlands› empfiehlt er, Reportagen, Kolumnen, Berichte zu schreiben [...]» Ein schöner Tod der Literatur. Vielleicht auch: Wer konnte in dieser Zeit auch nur ahnen, wie sicher es sich einmal sterben würde über einem für alle gespannten Netz, geheißen w(esentlich)w(ichtig)w(urscht).
Der große (tote) Diktator Ich stimme Verts Apo-Legierung (Titangold: 99 Prozent Gold, ein Titan) quasi hundertprozentig zu. Erst vorgestern hat sich jemand in einer spätabendlichen ARD-Reportage die Mühe gemacht, in Naheinstellungen diese unglaubliche Furchenvielfalt des Gesichtsausdrucks dieses Mannes zu zeigen. Auch meines Erachtens war der eben alles andere als der tumbe Clown, als der er jetzt nahezu allumfassend dargestellt wird — vor allem in den Medien (vor 23.00 Uhr), in denen zudem kaum noch ein Wort darüber verloren wird, wie gerne die meisten sogenannten Spitzenpolitiker seinen Hofstaat gebildet haben. Als am bedeutsamsten empfinde ich es jedoch, wie lapidar in der christlich-jüdischen Blätter- und Fernsehwelt über eine offensichtliche Hinrichtung berichtet wird. Nach westlichem Demokratieverständnis, klärten mich einige Experten auf, wäre es besser gewesen, den Herrn vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Da dreht in meinem runden Kopf, dessen weise Form schließlich von meinem Urdesigner allein dafür geschaffen wurde, dem Gedanken die Richtungsänderung zu erleichtern, einiges durch, dürfen bei mir Assoziationen zum Holterdipolter-Verständnis von Charles Manson aufkommen, der es seinerzeit, nach der mißlungenen Taktik der Polizei von San Francisco, immerhin schaffte, die Presse nahezu einheitlich gegen die Hippies einzuschwören. Dabei liebte im Gegensatz zu diesem geborenen Gesetzesbrecher alle Welt (von einem Teil der arabischen vielleicht abgesehen) den großen Diktator doch fast mehr als den von Charlie Chaplin. Auch dem «bestangezogenen Diktator (der achtziger Jahre)» will ich nicht widersprechen. Dabei denke ich jedoch hauptsächlich an den Verzicht auf die sich wie H&M (die Nachfolger von C&A, in den Sechzigern und Siebzigern auch Clamotten-August genannt) virusähnlich verbreitende Billigheimer-(Sprach-)Mode, wie etwa in der erwähnten Reportage, in der diese wunderschönen Operettenkostüme als «Designer-Uniformen» bezeichnet wurden. Ich weiß, daß es nichts nützt, immer wieder darauf hinzuweisen, trotzdem muß ich als Motzer und Sprachnörgler weiternörgeln, da es schließlich nicht alleine um Applikationen, sondern um Wesentliches geht: Alles wird gestaltet, es sei denn, es handelt sich um die Trachten von Volkskämpfern, aber deren Tücher kommen zu großen Teilen aus den Waffenschmieden der westlichen Welt, die sich seit längerem wieder auf Kreuz- oder auch Kolonialisierungszügen befindet, das zutiefst kommunistische China hat sie längst erobert. Während der allenthalben von 99 Prozent der Kampf angesagt wird, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß letztlich einer von hundert den Sieg davonträgt, mit bedrucktem Papier wedelnd. Mode ist kuhler als die Liebe.
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