Die Zigarrenkiste und die Nähmaschine

Leben ist Kunst, Kunst ist das Leben. Ich trage wenige Vorbilder in mir (um meine geistige Nähe zum Nihilismus zu verschleiern, vermeide ich die ziemlich schwächelnd sinnige Verneinung «gar keine»), aber ein Vor-Bild schwebt mir fast immer in Person eines Künstlers durchs innere Auge, der nicht nur großartige Bilder für die Augen zu produzieren in der Lage war, sondern mir darüber hinaus immer wieder sprachbildlich die Welt erklären konnte. Von Robert Filliou stammt die einzigartige Welterklärung — womit zumindest ein marginaler Beleg meines Nicht-Nihilismus erbracht wäre, die der wohl ausgesuchteste Filliou-Erklärer Michael Erhoff 1989 und bis heute gültig parat hatte:
«Welche Beziehung besteht zwischen einer Socke und einer Zigarrenkiste? Oder bekanntlich zwischen einem Regenschirm und einer Nähmaschine, wenn sich diese auf einem Operationstisch begegnen?»
Da haben wir das Sinnbild von «allen möglichen Maschinen», zwischen und unter oder in denen ich, liebe Vorleserin, hin- und hergeschoben werde. Ich lasse das mal den allerbesten Filliou-Kenner, ihn selbst übersetzen:
«So dachte ich daran, Dinge in Einklang mit bestimmten Kriterien des Augenblicks zu messen. Zum Beispiel, meine Länge beträgt 60 verschiedene Tomaten, und ich bin 111.225 Eisenbahnfahrten Kopenhagen-Paris alt.»
Alles fließt ..., wie wir wikipedianischen Lateiner besonders gerne an den Kontaktbörsen des Elitischen, nenne ich's mal Ökonomisierung der Liebe, zum besten zu geben bereit sind — dem Ende zu. (Bevor die Elite-Partnerschaft aufkam, textete die PH-Absolventin in Annoncen der FAZ oder der Zeit: «aus Paritätsgründen Akademiker bevorzugt», was in etwa hieß: nicht unter 100.000 p. a. Auch damals dort verkehrende Direktoren, heute hochgebildete Topmanager, schrieben es bereits bevorzugt pro anno aus.)

Vor der geschilderten Begegnung des Regenschirms und der Nähmaschine sind in Michael Erlhoffs Filliou-Exegese diese Sätze zu lesen:
«Ökonomie könnte als die Realität der Abhängigkeiten beschrieben werden oder als die Darstellung von Differenz, also als die Gegenwart eines real existierenden Netzwerks, das als Knotenpunkte oder als Bewegungsmotor auf die Existenz von Werten und deren Austauschbarkeit spekuliert. Deshalb basiert Ökonomie erst einmal auf dem Besitz oder Nicht-Besitz von Gütern, Kompetenzen, psychischem Vermögen, Freundschaften ... und auf deren Täuschung.

Was nun Robert Filliou — und wahrlich nicht nur ihn — an der Ökonomie so aufregte, war der Vorgang, daß die Ökonomie ständig Unvergleichbares in Vergleich setzt, Inkompatibles kompatibel macht. Alle Gegensätze werden scheinbar aufgelöst oder sind zumindest in ein- und demselben System integriert, alles ist tauschbar. Obwohl Äpfel nichts mit Birnen, Krieg nichts mit Frieden, Arbeit nichts mit Autos und Liebe nichts mit Geld oder Vögel nichts mit Kugelschreibern zu tun haben. Filliou zitierte hier gern in Anlehnung an den französischen Frühsozialisten Charles Fourier das Wort ‹Non-Comparaison›, eben die Unvergleichbarkeit; in der französischen Sprache jedoch wird bei diesem Wort zugleich die kategoriale Dimension deutlich, über die sich Ökonomie hinwegsetzt: ‹Comparaison› verweist durch das ‹raison› auf die verstandesgemäße Beziehung alles Vergleichbaren, also auf die Kategorienlehre, die nach einsichtigen Schlüssen zwischen Objekten fahndet (weshalb Philologen und Polizisten sich strukturell sehr ähnlich sind). Im Markt, in der Ökonomie, werden diese Beziehungen vollständig aufgelöst und dynamisiert, da eben alles gegen alles getauscht werden kann.»
Täuschung. Es fließt eben nicht alles. Manchmal stockt alles, obwohl so getan wird, als ob alles flösse. Mir stockt dabei das Blut, es brodelt, es kocht. Nicht nur, weil die Ökonomisten der Gesundheit alles relativieren. Wer erkrankt ist, der ist nur dann bedrohlich, wenn er privat versichert ist. Nur wenn der kalkulierende Arzt einen Platz in seinem Belegbett errechnet hat, müssen Regenschirm und Nähmaschine runter vom Operationstisch. Alles andere darf noch ein Weilchen dahinfließen, auch wenn's eher nicht mehr so flüssig ist. Ich kann, auch oder gerade als Privatversicherter, solche Mediziner (und deren politischen Beschützer) nicht ausstehen. Zwar ist mir das längst bekannt, aber diese Kunstform erlebe ich ersten Mal. Ja, ich bin sehr aufgebracht.

Doch ich paraphrasiere nicht nur deshalb mal wieder gewaltig; manch einer würde das sogar als Gewalttätigkeit auslegen. Aber wegen dieser sehr freizügigen oder auch, mit einer gewissen Bedeutungsnähe, flottierenden Interpretation des Allesfließenden bin ich ohnehin bei einigen bekannt, nicht nur bei denen, die grundsätzlich alles der Ökonomie unterworfen haben wollen. Wer die Kanäle voll hat wie ich als Ruheständler quasi draußen vor der Tür, der dreht sich zurecht, wie er's mag, der pfeift auf die Stenose des Seriösen, der läßt den Umwegen freien Lauf. Die meinen mäandern eben mit Robert Filliou durch meine Mischlandschaft von Ratio und Gefühl:

«Einige Gefahr: sehr bald, und dann für abertausende von Jahren, könnte das einzige Recht, das man den Individuen zugesteht, darin bestehen, zu sagen: ‹Ja, Chef.› Damit die Erinnerung an die Kunst (als Freiheit) nicht verlorengeht, werden ihre uralten Intuitionen in einfache, leicht zu lernende esoterische mathematische Formeln gebracht, wie zum Beispiel a/b = c/d (wenn zum Beispiel a als Hand, b als Kopf, c als Fuß und d als Tisch genommen wird, so kann Hand auf dem Kopf mit Fuß auf dem Tisch gleich sein, um die Erkenntnis und den passiven Widerstand zu fördern). Studiere dieses Problem. Nenne die Studie: Theorie und Praxis von A/B. Eine Anregung: Werke können so schnell geschaffen werden, wie der Verstand denkt. Du sagst ‹blau›, und blaue Farbe oder blaues Licht erscheinen auf der Leinwand und so weiter ... Das wurde bereits eingesetzt, um in Räumen Licht einzuschalten und um Türen zu öffnen. Vielleicht braucht man keine Handarbeit mehr: Beflügelte Kunst, wie beflügelte Phantasie. Arbeite das mit anderen zusammen oder allein aus. Vergleiche dazu auch das Aktions-Manifest von 1962 L'Autrisme; während dieser Performance fragten sich die Darsteller zuerst untereinander und dann jede Person im Publikum:

Was tust du?
Was denkst du?

Worauf die Antwort immer lautet:
Tu etwas anderes.
Denk etwas anderes.»


Auszüge aus: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 6, München 1989
 
So, 04.12.2011 |  link | (5590) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Brückenlektüre

Ich inmitten von lauter Kranken brauche das hin und wieder, um die Zeit zwischen allen möglichen Maschinen zu überbrücken, die in meinem Körper herumsuchen, um das Teufelchen in mir zu finden. Und da ich's nicht so mit der Wartezimmerliteratur habe, greife ich vorher in mein regales Leben.

Die Suche nach der Geschichte ihrer bürgerlichen Vorfahren und somit ihrer eigenen führt die Autorin nach Brüssel und ins Flandrische des 19. Jahrhunderts, ein wenig streift sie noch das zwanzigste Jahrhundert, bis hinein in den ersten Weltkrieg. Mit kritischer Distanz, da «nicht das Blut und das Sperma uns zu dem machen, was wir sind», gibt sie diesen Menschen ihre Geschichte zurück: deren Unzulänglichkeiten, Sorgen, Nöte, Freuden und Hoffnungen.

Es liest sich wie beziehungsweise assoziert ein wenig eine literarisch-historische Mileustudie des belgisch-französischen Landadels. Doch es ist als Konstrukt ein autobiographisch verquirlter Roman. Die Yourcenar läßt jedoch nie den Verdacht aufkommen, sie betreibe die Rechtfertigung ihrer eigenen Person oder die nostalgische Suche nach Geborgenheit in ihrer (bürgerlichen) «Heimat».

Die 1903 in Belgien geborene (und 1987 gestorbene) erste Frau der Académie Française ist zwar stilistisch in dem zuhause, das heute vielleicht als «klassisch» bezeichnet würde, schreibt dabei jedoch so präzise und zudem spannend, daß selbst eingefleischte TV-Konsumenten von Familien-«Chroniken» mal wieder abschalten und zum Buch greifen könnten. Ja, ich denke dabei wieder einmal an Gianni Celati:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Ich brauche das hin und wieder, um nicht von der Walze Geschwindigkeit überrollt zu werden, von all denen, die meinen, sie hätten keine Zeit (mehr), bei denen ich mich bedanken darf, weil sie keine Zeit haben, sich dafür zu bedanken, daß ich ihnen die Tür zur Arztpraxis geöffnet und offengehalten habe.


Marguerite Yourcenar: Gedenkbilder
Zu den Essays von Marguerite Yourcenar

 
Fr, 02.12.2011 |  link | (2374) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Meine Rede

seit dem Ausschalten des Nachdenkens durch das authentische Hinterfragen in den modischen Medien.

Angeregt durch Einemaria.
«[...] Die auffälligste Fehlentwicklung der Zivilisation ist die Vermarktung alles Menschlichen.[...]

Das Neue aber und zunehmend Verheerende ist, dass nichts Menschliches mehr der Logik der Finanzmärkte entzogen bleibt: Alles muss möglichst hohe Profite abwerfen, vom Ersatzteil zum Krankenhausbett, vom E-Commerce zum Nachhilfeunterricht, vom neuen Medikament zum Transfer von Fußballspielern. Das führt aufseiten der Manager zu Verhaltensweisen, die bis zum brutalen Exzess gehen. Wir erleben eine Verschmutzung der Arbeit, die nicht weniger schlimm ist als die der Gewässer.

Außerdem führt es zu einer umfassenden Kommerzialisierung von Dienstleistungen, die dazu da sind, Menschen auszubilden und in ihrer Entwicklung zu unterstützen: Gesundheit, Sport, Bildung, Forschung, Kunst und Kultur, Freizeit, Information, Kommunikation. Der Aufschwung dieser Dienstleistungen zeugt von der Entwicklung zu einer Welt, deren entscheidender Reichtum der Mensch ist. Auf sie stürzt sich der Kapitalismus, um auch sie seiner Logik zu unterwerfen. Alle Ziele, denen diese Aktivitäten dienen, werden tendenziell durch die Gesetze des Kohlemachens abgelöst. So wird aus dem großartigen Medium von Kultur und Solidarität, das das Fernsehen sein könnte, durch den Werbemarkt ein primitives Vehikel zum Verkauf von Zugriffszeit auf verfügbare Gehirne. Die Bildung wird Profitraten unterworfen — kann man ein solches Verbrechen dulden? [...]»
Le Monde diplomatique: Der Mensch im Kapitalismus
Der Mensch Lucien Sève


Nach dem von Sève erwähnten Jean Jaurès (bei ihm Anmerkung 5) sind in Frankreich viele Örtlichkeiten benannt. Einer der mir liebsten Orte ist der Cours Jean Jaurès in Avignon. Er ist der Platz, an dem ich mir in dem Frankreich, das es, wie mir's immer wieder entgegenschallt, überhaupt nicht mehr gibt, auf dessen Straßen und Plätzen ich mich dennoch aus unerklärlichen Gründen ständig wiederfinde, gerne Ohrenschmalz in Auge und Gehör gebe. Das ist mein links des Rheins, wo ich mich mit dem Sandler, wie auch der Bayer diesen österreichischen Begriff aus der Nachbarschaft gebraucht, auch für den nicht seßhaften, den fahrenden Händler, den Non sédentaire, unter dem auch Herr Prieditis durch die Lande führt, wo ich mich mit dem Verkäufer von vom LKW gefallenen oder aus Nachlässen erstandenen Platten, CDs (Ohrenschmalz), Bücher, Lithographien oder solchen volkssängerischen combattants solitaire ebenso problemlos über politische oder philosophische Themata, gefahrloser über links oder rechts beplaudern kann als mit dem holsteinischen oder mecklenburgischen Bauern, bei dem es rechts nie gab, weil links ein Hirngespinst ist und ich doch rübergehen soll nach links des Rheins. Deshalb sei hier gesondert zitiert, wonach Sève auf Jaurès hinweist:
«[...] Die kleine Empörung entfernt sich von der Politik, die große führt zu ihr zurück. Oder führt vielmehr zu einem politischen Handeln ganz neuer Art: nicht zu einer Revolution alten Stils mit ihren zum Scheitern verurteilten Veränderungen von oben, sondern zu einem Engagement auf allen Ebenen in der gemeinsamen Aneignung gegen neue Formen von Organisation und Aktion. Dies ist die Stunde der Innovation. So lässt sich die Abwendung des Unabänderlichen in Angriff nehmen. [...]»

 
Di, 29.11.2011 |  link | (1848) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 







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