Feinste Gänseleber mit dem Geruch strengsten Münsterkäses

Ich mag es,
mehreren Sinnesreizungen
auf einmal zu erliegen.
Ein Bein in kaltem Wasser,
eines in heißem Schlick.
Mit einer Hand malen,
mit der anderen
my Lady zu liebkosen,
eine Duriau
(eine thailändische Frucht,
von Geschmack und Art
feinster Gänseleber
und dem Geruch
strengsten Münsterkäses).
Mit jedem Ohr
eine andere Musik hören,
in einem Nasenloch
den Duft exotischer Blumen,
im anderen eine
frische Brise vom Atlantik.


Die Künste hatten mich nach meiner Berufung noch einige Jahrzehnte weiter beruflich beschäftigt, zwei davon überwiegend die bildenden; so kann es gehen, wenn man sich Befehlen verweigert, etwas Anständiges zu lernen. Bei einer solchen Tätigkeit kommt man ein wenig herum, geschehen Geschehnisse, die so unglaubwürdig sind, daß es sich lohnt, sie auf den Sockel des anekdotischen Denkmals zu hieven. Man will ja nicht ständig umstürzlerisch gesinnt sein.

Den Isländer — selbstverständlich auch die Isländerin, aber zu dieser besonderen Species komme ich später einmal — meiner Erfahrungswelt kennzeichnet, daß er irgendwie etwas mit Kunst macht. Heute mag das zwar auch etwas mit Medien sein, aber bereits früher haben die recht gerne in eine Richtung kommuniziert. Wer nicht schriftstellerte oder komponierte oder malte, der vermittelte das teilweise skurrile und bisweilen auch ernsthafte Treiben seiner Landsleute hinauf auf seine Insel. Häufig lieferte den Strom zu dieser Tätigkeit der konstante Genuß spiritueller Flüssigkeiten. In meiner Erinnerung waren es durchweg Männer, die auch dann noch rasch, verständlich und durchaus auch poetisch in einem Zustand die Kunstinhalte nach Reykjavik kabelten, in dem ich längst in der Ausnüchterungszelle gelagert worden wäre. Aber auch die Artisten selbst nahmen's allesamt gerne hart. Vielleicht verließen sie deshalb gerne ihr Eiland da oben und suchten Zerstreuung in der weiten Welt.

Einem Isländer wollten wir einst ein Denkmal setzen in Form einer Monographie. Für uns kleinen Kreis sogenannte Fachleute war sein Ableben vor einiger Zeit klar. Schließlich hatten wir seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört. Während eines Aufenthaltes in Paris berichtete ich einem anderen, in der Stadt lebenden Künstler gegenüber von unserem Vorhaben des Totengedenkens. Daraufhin fragte mich dieser, ob ich mir im klaren darüber sei, welchen Frevel wir zu begehen seien. Noch vor zwei Tagen habe er mit Gudmundur Gudmundson hier in diesem Café auf der Kuppe des 5. Arrodissements zusammengesessen, geplaudert und einige Pastis gesüffelt. Er würde mich töten, würde er auf diese Weise von seinem Tod erfahren. Nein, töten wäre wohl nicht die richtige Bezeichnung dafür. Er würde sich eher totlachen. Dann könnte ich mit Recht meinen Totenschrein basteln.

Ich mußte wieder zurück zum Ausgangspunkt dieses fachgemäßen Beinahebegräbnisses. Mein Bericht gegenüber dem Rest des kleinen Kreises an Experten, darunter der Kurator eines angesehenen Museums, der an sich diesem Requiem mit einer Gedenkausstellung beteiligen wollte, schuf sozusagen eine Vorab-Erschütterung. Aber so recht als Tatsache hinnehmen wollten wir die uns entgehende Leich' auch nicht. Wir hatten uns zu sehr auf dieses von uns ins Säkulare umzupolende Kaddish (Uleachaja Metaja, uleasaka jatehon leChajej Alma [Er belebt die Toten, und führt sie empor zu ewigem Leben]) gefreut. So einfach wollten wir uns das nicht nehmen lassen. Irgendwie mußte der doch totzukriegen sein. Schließlich hatten wir seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, geschweige denn gesehen.

Aber so einfach war es dann auch wieder nicht. Wir waren immerhin seriöse Fachleute. So mußten wir sichergehen, ob es sich bei der Behauptung dieses Parisers nicht um eines der gefürchteten Scherze handelte, die Künstler zu machen gedenken. Aber wie konnten wir den Totenschein ausstellen?! Das letzte Mal war er vor vielen Jahren in einer asiatischen Mentropole gesichtet worden. Da fiel mir die seinerzeitige Dame an meiner Seite ein. Sie war vor noch nicht allzu langer Zeit aus Paris geflüchtet, weil die Bank ihr den Scheckhahn zugedreht hatte (zu dieser Zeit bezahlte man auch im petit Supermarché das Stück Butter fürs Baguette mit dieser Art von Papier). Ihr waren die vielen düsteren Löcher dieser bereits in den achtziger Jahren beliebten, weil strahlenden Weekend-Ausflugszielmetropole allesamt bekannt. Wenn dieser Herr als Leichnam tatsächlich durch die abseitigen Quartiere von Paris geistern sollte, sie würde ihn ausmachen. Dann müßten wir uns zwar einen anderen Toten suchen, den wir feuchtfröhlich beweinen wollten. Aber eine Blamage wäre uns immerhin erspart geblieben.

Nach drei Tagen hatte sie ihn gefunden, genauer: zunächst lediglich seine Wohnung, wenn ich mich recht erinnere versteckt im Zweiten, einem der alten Chinesenviertel, mit seinen seinerzeit unglaublich zahlreichen Strick- und Häkelbruchbuden, in denen die Herren die eingeschmuggelten oder sonstwie integrierten Frauen und Männer ausbeuteten, denen eine zumindest wirtschaftlich bessere Zukunft versprochen worden war. Die junge Frau hatte Herrn Gudmundson eine Nachricht unter der Tür durchgeschoben. Und tatsächlich rief er sie noch am selben Tag an und zeigte sich erfreut über seine Wiederbelebung und bereit zur Zusammenarbeit. Er sei, wenn ich mich richtig erinnere, vor einiger Zeit aus Asien zurückgekehrt an den Ort, an dem er sich 1958 zum ersten Mal niedergelassen hatte. Und da er zu denen gehörte, die schon zu damaligen Hoch-Zeiten nicht bereit war im höfischen arrière-garde die äffische Basse danse zu schreiten, war es wohl etwas stiller geworden um ihn. Was uns Experten veranlaßt hatte, ihn beerdigen zu wollen.

Zwar wurde das nichts mit unserem Kaddish. Wir mußten einen anderen umbringen. Aber ein Monographielein wurde ihm dennoch zuteil. In diesem erzählt Helmut Bauer über Gudmundur Gudmundson, genannt Erró.

Wegen seines Pseudonyms mußte er vor Gericht. Erró nannte sich zu dieser Zeit noch Ferro, nach einem kleinen Ort in Kastilien, an dem er sich während einer Reise besonders wohlfühlte. Ein in Paris alteingesessener und angesehener Maler mit dem im Französischen phonetisch gleichlautenden Namen Ferraud wollte mit Ferro in keinem Fall verwechselt werden. Der Kunstmaler Ferraud, Mitglied des Salon des Indépendants, zog vor Gericht. Ferro verlor den Prozeß, verzichtete auf den Anfangsbuchstaben seines Namens und nannte sich fortan Erró.

1949 beginnt er an der Kunstakademie in Reykjavik das Studium der Malerei. Nach drei Jahren geht er nach Oslo, setzt sich dort mit der Technik der Freskomalerei auseinander. 1954 setzt er sein Studium an der Kunstakademie in Florenz fort. Vor den byzantinischen Mosaiken in Ravenna eignet er sich die Technik der Mosaikherstellung an. In den Uffizien studiert er Maltechnik und Komposition solcher Renaissance-Künstler wie Carlo Crivelli, Orcagna, Luca Signorelli und Paolo Uccello. Auch in naturwissenschaftlichen Schausammlungen findet er Anregungen. Im Museo di Storia della Scienza werden Anfang und Fortschritt der Naturwissenschaft anhand von Apparaten und Modellen gezeigt. Im Museo della Specolo sind Wachsmodelle ausgestellt, die im 18. und 19. Jahrhundert zum Studium der Anatomie dienten. Die modellhafte Darstellung menschlicher Organe entspricht — gemäß den Prinzipien einer rationalen Weltauffassung — dem wissenschaftlichen Gerät, einer Versuchsapparatur zur Beweisführung physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten. Menschliche Organe als seelenloses Anschauungsmaterial und Apparate als Zeugnisse emotionslosen Kalküls prägen Errós Gesamtwerk. Die apokalyptische Verflechtung von Mensch und Maschine ist Thema der frühen Serien. Dort produzieren Maschinen menschenähnliche Wesen. Physiognomien, Organe sind eingespannt in die Mechanik laufender Motoren, eingerastet in das Fächerwerk von Turbinen und Generatoren. Menschliche Organe wurden mit Maschinenteilen kombiniert oder durch sie ersetzt. Fabriken erzeugen am laufenden Band zu Fratzen verzerrte Physiognomien, Wesen, denen der Moloch keine Chance einer von ihm unabhängigen, freien Existenz läßt. Die Unterdrückung und Verfremdung des Menschen durch die Maschine, Thema im Zeitalter einer industrialisierten Massengesellschaft, erinnert an Fritz Langs Metropolis, einem Film, in dem Menschen zu Sklaven einer personifizierten Megamaschine werden, erinnert ebenso an die Gemälde von Roberto Matta. Der chilenische Surrealist hat Errós frühe Werke stark beeinflußt. Kunsthandel und Kunstkritik, von Matta 1956 in La Bienale de Venise thematisiert, werden von Erró 1959 in der Serie The Art World aufgegriffen. The Art Critics zeigt elephantenartige Wesen, die sich in einer Gemäldeausstellung wie im Porzellanladen aufführen. Das erinnert ein wenig, wie Helmut Bauer schreibt, an Frankfurt am Main, wo er The Art World zeigte, da war «er von dem Äppelwoi-süffisant lächelnden Vernissagepublikum derart angeekelt, daß er aus Wut über die Geringschätzung seiner Kunst die Exponate in Stücke riß und die Fetzen den städelbehüteten Frankfurtern als Mitbringsel anbot».
«Errós Malerei verwirrt. Motive, maßlos variiert und grenzenlos verfremdet, nehmen dem Betrachter die Ruhe, beunruhigen. Sein Blick verliert sich in Einzelheiten. Jetzt findet der rastlos Suchende Vertrautes, glaubt den Faden im Labyrinth gefunden zu haben – doch im nächsten Augenblick gewinnt wieder das Fremde an Macht, der Kontrast stellt das Vertraute in Frage. Dem Wesen nach Verwandtes ist voneinander getrennt, der Herkunft nach Fremdes miteinander vereint. Erró erfindet Bilder, wie ein Pirat Schätze raubt. Beide greifen spontan zu, nehmen sich, was ihnen in die Hände fällt und gefällt. Zu diesem Zweck ist Erró unterwegs. Auf seinen Reisen in Europa, Asien und Amerika sucht er nach den Schätzen, die er für seine bildnerische Arbeit braucht. »Ohne Gepäck« l, wie er sagt, doch mit der Neugier auf Kultur und Politik eines fremden Landes. Schätze, die er findet, sind die Zeugnisse dieser Kultur und Politik. Er findet sie in Zeitungen und Magazinen, in Kunstbänden und Verkaufskatalogen, auf Plakatwänden und unter dem Ladentisch. Es sind Reproduktionen: réproductions trouvées. Ihre ikonographische Vielfalt ist der Grund für die Polyvalenz aller Gemälde von Erró, ebenso wie für die Verwirrtheit des Betrachters, zwingt jedoch zur Selektion, zur Ordnung im Chaos der Vielfalt. Akkumulation, Systematisierung, Selektion, Kombination und Transformation sind die Schritte in Errós künstlerischem Vorgehen. Zuhause im Atelier — Erró unterhält Ateliers in Paris, auf Formentera und in Bangkok — ordnet er das auf Reisen angehäufte Bildmaterial nach 80 verschiedenen Sujets, teilt ein in ‹Flüsse, Hände, Flugzeuge, Barockkirchen, Waffen, Porträts, Comics, Läger, Enten, Gebirge ... ›. So entsteht gleichsam die Enzyklopädie eines Reisenden, der Fundus einer Malerei, die den Betrachter verführte, dem Enzyklopädisten Piraterie zu unterstellen.

Erró ist Isländer. Er kennt die Saga, Halldor Laxness' Roman Atomstation, erlebte die Erzählungen der vom Fang heimgekehrten Fischer, ihre Übertreibungen bei Schnaps und Bier, spürt das Hineintauchen in die Sphären einer Welt, die Räume für Bilder erschließt, Räume für Vorstellungen einer scheinhaft unwirklichen, aber wahren Welt. Erró erzählt in Bildern, wird Maler.»
Und wir trauern, wie wir dieser Tage in einer ungemein wichtigen Skype-Konferenz laut lachend feststellten, unserem Beerdigungsinstitut noch immer nach, das wir kurz nach der Eröffnung wieder schließen mußten.

Einige Bilder des offensichtlich quicklebendigen Erró zeigen die Galleri GKM Siwert Bergström im schwedischen Malmö oder die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, nicht zu vergessen, wenn auch enttäuschend dürftig, Errós «Heimatmuseum» Listasafn Reykjavíkur.

Die Zitate stammen aus: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 6, München 1989.

 
Do, 08.12.2011 |  link | (2282) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Die Zigarrenkiste und die Nähmaschine

Leben ist Kunst, Kunst ist das Leben. Ich trage wenige Vorbilder in mir (um meine geistige Nähe zum Nihilismus zu verschleiern, vermeide ich die ziemlich schwächelnd sinnige Verneinung «gar keine»), aber ein Vor-Bild schwebt mir fast immer in Person eines Künstlers durchs innere Auge, der nicht nur großartige Bilder für die Augen zu produzieren in der Lage war, sondern mir darüber hinaus immer wieder sprachbildlich die Welt erklären konnte. Von Robert Filliou stammt die einzigartige Welterklärung — womit zumindest ein marginaler Beleg meines Nicht-Nihilismus erbracht wäre, die der wohl ausgesuchteste Filliou-Erklärer Michael Erhoff 1989 und bis heute gültig parat hatte:
«Welche Beziehung besteht zwischen einer Socke und einer Zigarrenkiste? Oder bekanntlich zwischen einem Regenschirm und einer Nähmaschine, wenn sich diese auf einem Operationstisch begegnen?»
Da haben wir das Sinnbild von «allen möglichen Maschinen», zwischen und unter oder in denen ich, liebe Vorleserin, hin- und hergeschoben werde. Ich lasse das mal den allerbesten Filliou-Kenner, ihn selbst übersetzen:
«So dachte ich daran, Dinge in Einklang mit bestimmten Kriterien des Augenblicks zu messen. Zum Beispiel, meine Länge beträgt 60 verschiedene Tomaten, und ich bin 111.225 Eisenbahnfahrten Kopenhagen-Paris alt.»
Alles fließt ..., wie wir wikipedianischen Lateiner besonders gerne an den Kontaktbörsen des Elitischen, nenne ich's mal Ökonomisierung der Liebe, zum besten zu geben bereit sind — dem Ende zu. (Bevor die Elite-Partnerschaft aufkam, textete die PH-Absolventin in Annoncen der FAZ oder der Zeit: «aus Paritätsgründen Akademiker bevorzugt», was in etwa hieß: nicht unter 100.000 p. a. Auch damals dort verkehrende Direktoren, heute hochgebildete Topmanager, schrieben es bereits bevorzugt pro anno aus.)

Vor der geschilderten Begegnung des Regenschirms und der Nähmaschine sind in Michael Erlhoffs Filliou-Exegese diese Sätze zu lesen:
«Ökonomie könnte als die Realität der Abhängigkeiten beschrieben werden oder als die Darstellung von Differenz, also als die Gegenwart eines real existierenden Netzwerks, das als Knotenpunkte oder als Bewegungsmotor auf die Existenz von Werten und deren Austauschbarkeit spekuliert. Deshalb basiert Ökonomie erst einmal auf dem Besitz oder Nicht-Besitz von Gütern, Kompetenzen, psychischem Vermögen, Freundschaften ... und auf deren Täuschung.

Was nun Robert Filliou — und wahrlich nicht nur ihn — an der Ökonomie so aufregte, war der Vorgang, daß die Ökonomie ständig Unvergleichbares in Vergleich setzt, Inkompatibles kompatibel macht. Alle Gegensätze werden scheinbar aufgelöst oder sind zumindest in ein- und demselben System integriert, alles ist tauschbar. Obwohl Äpfel nichts mit Birnen, Krieg nichts mit Frieden, Arbeit nichts mit Autos und Liebe nichts mit Geld oder Vögel nichts mit Kugelschreibern zu tun haben. Filliou zitierte hier gern in Anlehnung an den französischen Frühsozialisten Charles Fourier das Wort ‹Non-Comparaison›, eben die Unvergleichbarkeit; in der französischen Sprache jedoch wird bei diesem Wort zugleich die kategoriale Dimension deutlich, über die sich Ökonomie hinwegsetzt: ‹Comparaison› verweist durch das ‹raison› auf die verstandesgemäße Beziehung alles Vergleichbaren, also auf die Kategorienlehre, die nach einsichtigen Schlüssen zwischen Objekten fahndet (weshalb Philologen und Polizisten sich strukturell sehr ähnlich sind). Im Markt, in der Ökonomie, werden diese Beziehungen vollständig aufgelöst und dynamisiert, da eben alles gegen alles getauscht werden kann.»
Täuschung. Es fließt eben nicht alles. Manchmal stockt alles, obwohl so getan wird, als ob alles flösse. Mir stockt dabei das Blut, es brodelt, es kocht. Nicht nur, weil die Ökonomisten der Gesundheit alles relativieren. Wer erkrankt ist, der ist nur dann bedrohlich, wenn er privat versichert ist. Nur wenn der kalkulierende Arzt einen Platz in seinem Belegbett errechnet hat, müssen Regenschirm und Nähmaschine runter vom Operationstisch. Alles andere darf noch ein Weilchen dahinfließen, auch wenn's eher nicht mehr so flüssig ist. Ich kann, auch oder gerade als Privatversicherter, solche Mediziner (und deren politischen Beschützer) nicht ausstehen. Zwar ist mir das längst bekannt, aber diese Kunstform erlebe ich ersten Mal. Ja, ich bin sehr aufgebracht.

Doch ich paraphrasiere nicht nur deshalb mal wieder gewaltig; manch einer würde das sogar als Gewalttätigkeit auslegen. Aber wegen dieser sehr freizügigen oder auch, mit einer gewissen Bedeutungsnähe, flottierenden Interpretation des Allesfließenden bin ich ohnehin bei einigen bekannt, nicht nur bei denen, die grundsätzlich alles der Ökonomie unterworfen haben wollen. Wer die Kanäle voll hat wie ich als Ruheständler quasi draußen vor der Tür, der dreht sich zurecht, wie er's mag, der pfeift auf die Stenose des Seriösen, der läßt den Umwegen freien Lauf. Die meinen mäandern eben mit Robert Filliou durch meine Mischlandschaft von Ratio und Gefühl:

«Einige Gefahr: sehr bald, und dann für abertausende von Jahren, könnte das einzige Recht, das man den Individuen zugesteht, darin bestehen, zu sagen: ‹Ja, Chef.› Damit die Erinnerung an die Kunst (als Freiheit) nicht verlorengeht, werden ihre uralten Intuitionen in einfache, leicht zu lernende esoterische mathematische Formeln gebracht, wie zum Beispiel a/b = c/d (wenn zum Beispiel a als Hand, b als Kopf, c als Fuß und d als Tisch genommen wird, so kann Hand auf dem Kopf mit Fuß auf dem Tisch gleich sein, um die Erkenntnis und den passiven Widerstand zu fördern). Studiere dieses Problem. Nenne die Studie: Theorie und Praxis von A/B. Eine Anregung: Werke können so schnell geschaffen werden, wie der Verstand denkt. Du sagst ‹blau›, und blaue Farbe oder blaues Licht erscheinen auf der Leinwand und so weiter ... Das wurde bereits eingesetzt, um in Räumen Licht einzuschalten und um Türen zu öffnen. Vielleicht braucht man keine Handarbeit mehr: Beflügelte Kunst, wie beflügelte Phantasie. Arbeite das mit anderen zusammen oder allein aus. Vergleiche dazu auch das Aktions-Manifest von 1962 L'Autrisme; während dieser Performance fragten sich die Darsteller zuerst untereinander und dann jede Person im Publikum:

Was tust du?
Was denkst du?

Worauf die Antwort immer lautet:
Tu etwas anderes.
Denk etwas anderes.»


Auszüge aus: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 6, München 1989
 
So, 04.12.2011 |  link | (5272) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Brückenlektüre

Ich inmitten von lauter Kranken brauche das hin und wieder, um die Zeit zwischen allen möglichen Maschinen zu überbrücken, die in meinem Körper herumsuchen, um das Teufelchen in mir zu finden. Und da ich's nicht so mit der Wartezimmerliteratur habe, greife ich vorher in mein regales Leben.

Die Suche nach der Geschichte ihrer bürgerlichen Vorfahren und somit ihrer eigenen führt die Autorin nach Brüssel und ins Flandrische des 19. Jahrhunderts, ein wenig streift sie noch das zwanzigste Jahrhundert, bis hinein in den ersten Weltkrieg. Mit kritischer Distanz, da «nicht das Blut und das Sperma uns zu dem machen, was wir sind», gibt sie diesen Menschen ihre Geschichte zurück: deren Unzulänglichkeiten, Sorgen, Nöte, Freuden und Hoffnungen.

Es liest sich wie beziehungsweise assoziert ein wenig eine literarisch-historische Mileustudie des belgisch-französischen Landadels. Doch es ist als Konstrukt ein autobiographisch verquirlter Roman. Die Yourcenar läßt jedoch nie den Verdacht aufkommen, sie betreibe die Rechtfertigung ihrer eigenen Person oder die nostalgische Suche nach Geborgenheit in ihrer (bürgerlichen) «Heimat».

Die 1903 in Belgien geborene (und 1987 gestorbene) erste Frau der Académie Française ist zwar stilistisch in dem zuhause, das heute vielleicht als «klassisch» bezeichnet würde, schreibt dabei jedoch so präzise und zudem spannend, daß selbst eingefleischte TV-Konsumenten von Familien-«Chroniken» mal wieder abschalten und zum Buch greifen könnten. Ja, ich denke dabei wieder einmal an Gianni Celati:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Ich brauche das hin und wieder, um nicht von der Walze Geschwindigkeit überrollt zu werden, von all denen, die meinen, sie hätten keine Zeit (mehr), bei denen ich mich bedanken darf, weil sie keine Zeit haben, sich dafür zu bedanken, daß ich ihnen die Tür zur Arztpraxis geöffnet und offengehalten habe.


Marguerite Yourcenar: Gedenkbilder
Zu den Essays von Marguerite Yourcenar

 
Fr, 02.12.2011 |  link | (2186) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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