Nachhaltig einen an der Glocke

oder einen Sprung in der Form (auch Schüssel genannt) haben.

Meine Vorleserin hat mir wieder einmal etwas vorgelesen, das mich in, wie üblich, unsinnige oder alles andere als sinnliche Grübeleien versetzt hat.

Ich frage mich manchmal, ob die hohe Zustimmung, die aller Deutschen Bundespräsident (die anderen Lichtgestalten nicht zu vergessen) seitens der breiteren Bevölkerung zukommt, damit zu tun hat, daß sie genauso denkt, etwa nach dem Prinzip: Das würde doch jeder so tun, wenn er nur könnte. Tatsächlich halte ich das, spreche ich jetzt mal von langer, von nachhaltiger Berufserfahrung, für gängige Praxis, und sei es die im, mangels größerer Möglichkeiten, Kleinen.

Eine weitergehende Überlegung ist die, nach der der Untertanengeist, für den mir Kadavergehorsam passender erscheint, bei vielen (um den Begriff Masse politisch korrekt und einigermaßen elegant zu umschiffen) möglicherweise in der pädagogischen Erbmasse steckt. Anerzogenheiten (Karl Valentin: Kinder müssen nicht erzogen werden, die machen sowieso alles nach) sind — hier paßt der Begriff nachhaltig vortrefflich, der ein Klassiker ist, von dem allerdings manche meinen, er sei von den früher gegen alles seienden und nun um der, selbstverständlich demokratischen, Macht willen alles mitmachenden Grünen erfunden worden. Karl Friedrich Wilhelm Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon, einem «Hausschatz für das deutsche Volk», hier die seinerzeitige Neuauflage von 1964, fällt mir dabei ein, das Niels Höpfner in den Neunzigern wieder ins Gespräch brachte, in dem es, wie auch hier bereits einmal als Motto gebannert, hieß:
Quemadmodum omnium rerum, sic literarum quoque intemparantia laboramus: non vitae, sed scholae discimus.
dessen Übersetzung lautet:
Wie in allem, so leiden wir auch in der Wissenschaft an Unmäßigkeit: nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.
Dem Aufklärungs- oder Korrekturversuch schenkte einmal mehr kaum jemand Geles'. Wieder mal der gute alte deutsche Dichter Schiller gerät mir dabei ins wirre Gedankenspiel, der geschrieben hat: Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten. Damit hat er wohl die Unterhaltung gemeint, wenn ihm auch die heutige televisionäre noch nicht so ganz vorgeschwebt haben dürfte. Ich komme deshalb darauf, weil Johannes Mario Simmel mir gegenüber das schillersche dramaturgische Prinzip als das seine bezeichnet hat. Des Nationalheroen ziemlich langes Gedicht wäre ebenfalls als Vergleich für Nachbetung, meinetwegen auch die unchristliche Gebetsmühle, heranzuzuziehen, die wegen des schönen deutschen Klangs ebenfalls auf Dauer in den Windungen festgemachte Glocke, die noch jeder Schüler wie einst 333 — Issos Keilerei auswendig gelernt hat und bei dem häufig bis heute höchstenfalls die Metapher für deutsche Tugenden hängengeblieben ist:
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden.
Frisch Gesellen, seid zur Hand.
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben!
Doch der Segen kommt von oben.
Der vaterländischen Weltbürgerin Edith Pabst könnte das von ihrem metropolischen Dorfschullehrer auch auslegungsfrei eingebleut worden sein. Sogar mir, der ich in Auslanden zur Schulen ging, rann dabei der Schweiß. Jedenfalls habe ich solch unerquickliche Gedanken, wenn ich der Patriotin Äußerungen lese, die den Brief an den Mitbürgerpräsidenten, der eben auch der ihre ist, begleiten:

«Ranklotzen sollen sie da, wo es zunutzen des Staates ist, das würde uns viel mehr interessieren
Wir sind kein einig Vaterland, solange dieser Zwist wie Pest umher geschleust wird, und man bedenke wie man das im Ausland auch bewertet»

So hebt man das deutsche Ansehen im Ausland. Wenn man schon keinen König mehr haben darf, vor dem die adligen Eliten der Restwelt strammstehend zu paradieren haben.

Wichtig ist, daß man dabei, auch wenn man vorm Fernseher sitzend nur eher passiv beteiligt sein darf, selber gut aussieht, also anständig angezogen und so. Man möchte als Mitbürger schließlich niemanden auf schlechte Gedanken bringen.
 
Mi, 28.12.2011 |  link | (3710) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Besinnungsfindung

Ich stehe auf und gehe in meine kleinere Arbeitshöhle, in meine Besinnungsgalerie. Dort stehen alle Standards, deckungsgleich mit den beiden wandschmückenden Totenköpfen des multitalentierten Schauspieler-Künstlers, der sich mit ihnen auf Malewitschs Schwarzes Quadrat berief und dann doch eingestand, daß sie bei ihm tief in der Romantik wurzeln. Standards sind die Bücher, die ich immer irgendwie dauernd in die Hand nehme, um dies oder das nachzulesen — die erkleckliche Summe der Kunst mit ihren manischen Interpretatoren sowie die Restphilosphen dösen drüben im großen Zimmer in den Regalen von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke so vor sich hin —, durchaus die Klassiker, die ich eigentlich gerade erst zu lesen beginne. Ebenso wie die Philosophen, denn ich bin mir längst darüber im klaren, daß ich nichts, aber auch gar nichts verstanden habe von dem, was ich über zwanzig, dreißig und mehr Jahre in mich hineingestopft hatte. Deshalb gehe ich jetzt vermutlich auch erneut zu Herrn Kundera und suche nach ihm im Regal, um die Stelle zu finden, die mir seit langem eine eigenartige Verbindung herstellt zwischen Beethoven und dem fordernd fragenden Muß es sein? von Léo Ferré, die nach dessen Dirigat der Coriolan-Ouverture und in mehrfacher Orchesterbesetzung so durchdringend bei mir ankommt. Das Buch steht irgendwo zwischen Montaigne, Morgenstern, Kleist, Karl Kraus und den Œuvres Completes des Monsieur Isidore-Lucien Ducasse, Comte de Lautréamont — die einen vom andern Stern, der hier vom anderen Berge, dieser Seher vom Monte Video, L’autre à mont. Zwischen diesen Lichtgestalten, den Wortschleudern wider den Ungeist des Banalen muß er wohl auf jemanden wie meinen Besuch, diese gleichermaßen gebildete, intellektuell verzahnende und kluge Frau gewartet haben, die mit seiner Hilfe endlich den Staub aus meinem verdunkelten Hirn bläst. Das Buch ist überladen mit diesen kleinen, an sich sehr praktischen kleinen gelben Klebepapierchen. Doch wer so damit haushaltet wie ich, der tut sich schwer, besondere Stellen zu finden. Offenbar gibt es in diesem Roman nur entscheidende Stellen. Oder ich kann mir nichts merken. Ich suche und blättere. Es ist äußerst schwierig, da ich mir seit einiger Zeit die Unart abgewöhnt habe, in Bücher hineinzuschreiben, richtiger: sie vollzukritzeln — als ob ich Zettel in sie hineinklebte. Dabei bin ich mir nicht darüber im klaren, ob es aus Ehrfurcht vor der Arbeit anderer geschieht, wie die Mutter dem jugendlich grundsätzlich Andersdenkenden versucht hat klarzumachen, oder ich beginne, Sachwerte zu schätzen. Das wäre dann allerdings ein Schritt in die dauerhaft falsche Auslegung des Begriffs konservativ. Sich der Bewahrung zu besinnen wäre die richtige Suche. Denn Älterwerden hat nichts mit Stenose oder Sklerose zu tun. Oder vielleicht doch?


Eine sentimentale Reise • Nach hinten losgehende Erinnerungen
 
Mo, 26.12.2011 |  link | (2246) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Grenzüberschreitung

Ich halte zweihundert Meter nach dem Grenzübertritt an. Direkt an der ersten Rechtsbiegung liegt links eine kleine Bäckerei mit Café. Dort nehme ich immer meinen ersten französischen. Er schmeckt zwar nicht wie solcher, sondern eher wie gefilterte deutsche Kaufhausmusik. Aber man hat sich eben angepaßt. Und ich mich auch. Und ich — oui, cher Léo Ferré, ich paraphrasiere Beethoven und dich gewalttätig, ... es muß sein! — fühle mich verpflichtet, als den ersten Schritt ins Land immer den der Konsumtion zu beschreiten. Hier ging sie schließlich los, die Einführung ins Paradies Kaufrausch. In die andere Richtung fahre ich in der Regel, soweit die Liter reichen. Aber ich bin nunmal offenbar der größte Patriot, den dieses Land jemals hatte. Vermutlich will man mir deshalb die dreifarbige Rosette so schnell verpassen. Wenn’s denn überhaupt stimmt. Oder, denke ich — in Blickrichtung meiner bezaubernden Gattin — mal so: Wenn sie mir die Einbürgerung mittlerweile nicht bereits wieder entzogen haben wegen Mißachtung der staatsbürgerlichen Pflicht der Paßabholung. Es ist ja wohl auch noch nicht geklärt. Weiß man’s? Hütern öffentlicher Aufgaben ist solches grundsätzlich zuzutrauen. In jedem Land. Wir finden sofort einen Parkplatz. Eine halbe Stunde früher hätte es ungünstiger ausgesehen. Denn da wuselt in Frankreich nunmal alles herum, um das Baguette zum Mittagessen zu kaufen. Und auch, wenn nur ein paar Meter rückwärts im pfälzischen Wirtshaus die Leute vor ihren putzeimergroßen Biergläsern sitzen und zum Schwartemagen Roggenkörner vertilgen — hier ißt man bereits das wunderbare Stangenweißbrot, das es dreimal täglich frisch gibt. Es geht mir wie immer — ich atme durch. Was eine solche politische Grenze dann letztlich doch an physischer Befreiung zu verursachen vermag. Ich lehne meinen glücklichen Kopf an die zarte Schulter neben mir. Sie kommt mir augenblicklich entgegen und erweitert sich zu einer sanften Halsbeuge.

Sie hüpft lachend aus der Ente, die jetzt wieder Döschwoh heißen darf. Sie springt hinüber ins Café. Ich schließe ab. Aus Gewohnheit. Auch wenn es an diesem Fahrzeug eigentlich nichts abzuschließen gibt. Der Vermietleiher öffnet es mit dem Fingernagel. Zweihundert Meter weiter nach hinten wird man dennoch bestraft, wenn man nicht abschließt. Noch ein paar Stunden, und ich werde es mir ebenso wieder abgewöhnt haben wie die andauernde Blinkerei beim Spurwechsel. Obwohl sich auch hierbei bereits der preußische Einfluß in Europa bemerkbar macht. Wie beim TÜV. Auch wenn er hier nicht «Technischer Überwachungs Verein» heißt, sondern weitaus eleganter Contrôle technique, so ist es doch dieselbe Tortur für Fahrzeug wie Besitzer. Auf diese Weise hat Frankreich etwa seit 1995 in erheblichem Maße den Verkauf von Neuwagen vorangetrieben. Die offizielle Begründung war die Herstellung der Sicherheit im Straßenverkehr. Jeder konnte seine verrottete, einstig fahrfähige Laube in der Tasche zum Händler tragen und hat, je nach Qualität der den Rost zusammenhaltenden Schrauben, einige hundert bis zu einigen tausend Francs dafür bekommen. Mit dem allerdings unerfreulichen Ergebnis, daß sehr viele Franzosen auf Golf und Mercedes umgestiegen sind. Auf der Îl de Ré habe ich den ersten Mercedes 500 mit Dieselmotor gesehen. Hier wird, wenn es irgend geht, Gazole gefahren. Es ist immer noch weitaus günstiger. Wie lange noch? Und seit Jahren beginnt auch dieser Begriff sich auf die Preistafeln der Tankstellen zurückzuziehen. Auf den Plätzen der Gebrauchtwagenhändler steht alles voll mit den Schildern auf den Autos — Diesel. Was soll’s. Der 2 CV aus Regensburg und bald aus Marseille fährt ohnehin Super. Sans plomp. Das hat schon so manchen Zeitgenossen in den Unglauben gestoßen. Und keiner dieser vom Glauben Abfallenden denkt daran, daß Aral in den sechziger Jahren mit der Bezeichnung bleifrei geworben hat. Auch nicht die Älteren. Sie lassen sich gerne den aber auch wirklich allerältesten Hut als neueste Kreation verkaufen. Ich trotte in Richtung meiner bereits im Café sitzenden Geliebten. Vorsichtshalber nehme ich das feine rucksäckige Lederstück mit. Es könnte ja einer vorbeikommen, der weiß, daß man in Frankreich für einen 2 CV nicht einmal eine Nagelfeile benötigte. Außerdem ist das Portable darin. Und das wurde jetzt benötigt. Dem alten Leben mußte abtelephoniert werden.

Bonjour, grüße ich landsmännisch klar.

Bonjour Monsieur, lautet freundlich die Entgegnung.

Ich fühle mich geschmeichelt, in meiner Mutter Sprache angesprochen zu werden. Also unterlasse ich es tunlichst, irgendetwas zu antworten. Ich will mich nicht sofort als unkultivierter, unter Einfluß der Bocherie Aufgewachsener zu erkennen geben. Denn nun bin ich, darf ich sein. Ich bin endlich angekommen auf der anderen Seite der Grenze.


Hier fuhren Nebenstreckenliebhaber früher mit dem Automobil durch.
 
Sa, 24.12.2011 |  link | (2875) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 







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