Verliebtheit, Ekstase, Hypnose und Amnesie «Es gibt keine mystische Entzückung der Seele ohne vorherige Entleerung.»1 Eine Liebesheirat? Nach einiger, nicht bestimmbarer Zeit entzieht er sich so langsam der magnetischen Energie des reinen Gefühls, in dem es ein leichtes ist, in vernunftwidrige Rauschzustände zu geraten. Eine Liebesheirat? Gibt es heutzutage denn einen anderen Grund, zu heiraten? Gibt es überhaupt einen Grund, in den Heiligen Stand der Ehe einzutreten? Mit Gütertrennung und sonstigen präjudikativen Absicherungen? Ehevertrag! Einbeziehung des möglichen, fast sicheren Zerreißens eines gesegneten Bandes. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne? «Die neueren Theorien», schreibt José Ortega y Gasset, «haben den kosmologischen Gesichtspunkt verloren und sind fast ausschließlich psychologisch geworden. Die verfeinerte Psychologie der Liebe hat, indem sie eine scharfsinnige Kasuistik ausbildete, unsere Aufmerksamkeit von der kosmischen, der elementaren Seite der Liebe abgelenkt.» Wie recht er hat! 1933 hat er das veröffentlicht. Meine Güte — wenn der geahnt hätte, was da noch alles den Lauf der Liebe bestimmen würde! Wenn er nur daran denkt, wie dieser Mann verunglimpft wurde während seiner späten Jugend, also während des Studiums. Es war unter den Sozialisten, denen er angehörte, sozusagen ein Verbrechen, den überhaupt zu lesen. Dabei hat dieser Klarseher davon geschrieben, daß er die Liebe meint und nicht die Verliebtheit, diese «psychische Angina». Es ist wie heute — man sagt Erotik und meint die Sexualität. Damals sprach man vom Bumsen und meinte — heimlich — die Verliebtheit. Rausch eben. Aber Liebe? Das war ein absolutes Tabu. Zumindest in unserem Elfenbeinturm der gebildeten Abgeklärtheit. Liebe hatte ein Anachronismus zu sein. Und Stendhal — den Theoretiker des Don-Juanismus, nicht etwa den geradezu glorifizierten Erzähler! — hat Ortega y Gasset ebenso der Unfähigkeit zur wirklichen Liebe geziehen wie auch Platon mit seinem platonisch-naiven, ja theoretischen Geplappere. Doch auch den durfte man ja nur aus der Perspektive der reinen Vernunft, für die Festigung der Gegentheorie lesen. Zu Diskussionszwecken eben. Also haben — mal wieder — ein paar Zusammenhänge gefehlt. Und dann wundert man sich, daß unsere Kinder die Blaue Blume mit der Roten Rose im Knopfloch verwechseln. Aus der Möglichkeit, das Leben als Roman, als Liebe zu leben, wird ein Leben, von dem man den brunftigen Klappentext hernimmt. Da werden dann Anzeigen geschaltet, in denen von einem säuselnd zärtlichen Abendessen vorm kerzenscheinbestandenen Kamin bei einem Glase roten Weines visioniert wird. Dabei war's arschkalt an den Kaminen der Romantik. Aber man fühlte sich eben hoffnungslos glücklich, weil man die Kälte der Beziehungslosigkeit nicht kannte und die innere Zimmertemperatur eher damit aufheizte: «Über den Turbinen und Maschinen mannigfaltiger Art, die wir in den Strom hineinsenken, dürfen wir nicht seine uranfängliche Kraft vergessen, die uns geheimnisvoll umgibt.» Das hat Ortega geschrieben, als das zweite Jahrtausend bereits gute dreißig Lenze zählte. Das also könnte ein Anlaß zur Heirat sein! Heutzutage. Wieder? Das ist durchaus eine Erkenntnis. Und vielleicht war es ja genau das, was geschah und sich lediglich aus einem bedauerlichen biologischen Ereignis heraus seiner Kenntnis entzieht. Aber damals? Hatte er nach der Scheidung, deren eigentlichen Gerichtstermin er damals wegen des eindeutigen Tatbestands des «Böswilligen Verlassens» gar nicht hatte wahrnehmen müssen, nicht die ersten eigenen Gedankens meines Lebens produziert: Nie mehr! Es war auch zu absurd gewesen. Auf ihn, den doch arg jungen Studenten, ach was, das Jüngelchen, hatte die noch Jüngere blondäugige Blitze geworfen, auf den überdurchschnittlichen Rock’n-Roller, als der er sich sah. Dieser Tanz war zu dieser Zeit sein einziges Aphrodisiakum. Es funktionierte passabel. Sie fielen übereinander her, wie wegen des Saftüberdrucks kurz vor dem Platzen stehende junge Menschen sich eben ineinander verschlingen. Sie blieben länger in dieser wirren Körperhaltung, als er es gewohnt war. Es war nicht unangenehm gewesen. Denn als sie ihre meerwasserblauen Augen in seine nicht ganz so reinrassigen ähnlicher Pigmentierung versenkt hatte, um ihm zu eröffnen, daß sie gedenke, bei ihm zu bleiben, kam durchaus Wohlgefühl auf. Dies würde ihn wohl aus dem Gefühl der heimlichen Einsamkeit befreien, das ihn seit seiner frühesten Kindheit peinigte. Er gab seine Bude in der entgegen seiner Behauptung den Mitbewohnern gegenüber tatsächlich rein wirtschaftlich oder auch um nicht zu vereinsamen mitbegründeten Wohngemeinschaft in Charlottenburg auf, da man dem jungen Paar eine kleine Wohnung vermietete, obwohl es nicht verheiratet war. Berlin war in den späten sechziger Jahren dabei, sich an seinen Ruf als ehemalige Metropole de tolérance zu erinnern. Ach, Studenten, die sind eben anders, und wenn dann auch noch eine dabei ist, die richtig arbeitet, also offiziell als Lohnsteuerzahlerin gemeldet ist, also Geld verdient! Vielleicht war es auch einfach nur die Not des Vermieters, die Wohnung nicht so ohne weiteres für teures Geld vermieten zu können. Der große Treck aus West-Deutschland war damals noch nicht so recht in Schwung gekommen. Man richtete sich ein. Das erste Asko-Regal wurde gekauft, das Mobiliar der damaligen Besserverdienenden. An Geld mangelte nicht — Mama konnte es nicht verhindern, daß Papa den Sohn wahrlich nicht darben ließ. Nach drei Monaten kam das jüngste Gericht in Form eines Paares über sie. Es kam aus einer nordhessischen Kleinstadt. Er stand in der Mitte des Zimmers und dirigierte Mutter und Tochter mit einer einzigen Armbewegung in Richtung Tür. Solange ihr nicht verheiratet seid, lebt ihr auch nicht zusammen! Die verweinten Augen der Jüngeren und die wohl im Weiblichen begründete Sanftmut der Älteren stimmten den Feldherrn der Moral unter der Bedingung um, daß innerhalb von zwei Monaten geheiratet würde. Es geschah der Wille des Herrn. Da der Aussteuerschrank, der im Zonenrandgebiet stand, von beachtlicher Größe war, mußte die Wohnung im Umfang angepaßt werden. Auch die Umgebung wurde einem jungen, solventen Ehepaar gerecht, dem die Zukunft gehörte. Der Mietpreis für die hundertzehn oder hundertzwanzig Quadratmeter des inzwischen zu Schrebergärten parzellierten Jugendstilhauses befand sich wie die Ortslage außerhalb der gesetzlichen Preisbindung. Sie paßte zur Entfernung zum Zentrum der Stadt, wie die Nachbarn im Kopf nicht weit entfernt vom evangelischen Johannis-Stift, dahinter war die Welt zu Ende, dann kam der falsch oder nicht verstandene Kommunismus. Spandau bei Berlin, sagte der Busfahrer beim Grenzübertritt. Und wenn er besonders berlinisch eingefärbt und auch noch Eingeborener war, rief er in der Gegenrichtung in der Ruhlebener Straße: Berlin bei Spandau. Doch das junge Paar machte seine mitternächtlichen Zwanzig-Kilometer-Ausflüge zur Bowling-Bahn am Lehniner Platz — dort, wo das ehemalige Revolutionstheater ‹Schaubühne› von Peter Stein eine postmoderne neue Heimat gefunden hat — mit dem väterlichen Geschenk männlicherseits, mit dem Volvo. In diese mittelständische Karosse war er, weitere drei Monate später, dann auch eingestiegen, nachdem er sich von der jungen Ehefrau, bis übermorgen, verabschiedet hatte. Um in einer anderen großen Stadt als in einem Vaterschaftsprozeß auszusagen. Sein Wunschkind mit, das einer anderen Frau war zu diesem Zeitpunkt etwa ein Jahr alt. Zu den beiden fuhr er nach der Gerichtsverhandlung. Ehefrau und Schwiegermutter gaben eine Vermißtenanzeige auf. Wiederholt Geschichte sich auch im Mikrokosmos? Gibt es kein Entrinnen auch aus den unangenehmen Faktoren der Erbanlagen oder der Sozialisation? Er wußte es nicht. Denn im Gegensatz zu der gut fünfunddreißig Jahre zurückliegenden Station konnte der Seefahrer sich an die jüngste Reise nicht erinnern. Hatte er, nur um einen ihn nicht anerkennenden Heimathafen anzulaufen, so sehr allen Stürmen zu trotzen versucht, daß ihm deshalb und dabei der Himmel auf den Kopf gefallen war? Ohne jeden Zweifel lag ein Dysfunktion des Gehirns vor. Das hatte er schriftlich vom Chefarzt einer Universitätsklinik. Von einer Amnesie hatte der nichts gesagt. Aber der weiterbehandelnde Neurologe hatte immer dann herumgedruckst, wenn das Thema angesprochen worden war. Weitere Fragen hatte er sich dann erspart und war überhaupt nicht mehr zum Arzt gegangen. So folgte auf die Amnesie die Auto-Amnestie wenigstens aus dem Gefängnis der grüblerischen Selbstdiagnose. Denn daß ihm etwas fehlte, das wußte er. Er wußte nur nicht, was ihm fehlte. So spannend empfand er's dann auch nicht. Möglicherweise war es diese Frau, die sich aus seinen Ganglien davongemacht und lediglich Duftpartikel in ihnen zurückgelassen hatte. Doch allem Anschein nach war er es, der nach einem schlimmen Unfall mit erheblichem Personenschaden die Flucht ergriffen hatte. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Fragmente eines Romans. 2002
Alle Jahre wieder dieselbe Prozedur Die Wünsche für ein Gutes Neues Jahr werden erneut aufs berlinischste wendrinisch erwidert — und richten sich zugleich an alle anderen geschätzten und liebgewonnenen Leser und Schreiber und Denker, nicht nur der (anerzogenen) Höflichkeit wegen vor allem -innen meines Logbüchleins: «Prost Neujahr. Prosit Neujahr, Frollein Richter, Prost Neujahr! Freutel, machen Sie die Tür zu, zum Himmeldonnerwetter! Ach so, die ‹B. Z.›. Prost Neujahr, Schulz. Prost Neujahr!!! Freutel, ich geh mal raus — man ist doch auch nur 'n Mensch ... Das ist ein neues Jahr ... Hier könnt mal gestrichen werden, wie oft hab ich das schon gesagt ... So! Jetzt ist mir der Hosenknopp abgesprungen ... ! Besetzt! Besetzt! Gehn Sie von der Tür weg. Sie könn doch hören, daß besetzt ist! Hach — Locarno-Geist in allen Parlamenten. Paris, den 2. Januar. Wie Havas meldet ... Man ist ein geplagter Mensch. Die einzige ruhige Stunde, die man am Tage hat, is hier draußen —!» Kaspar Hauser Die Weltbühne (textlog), 05.01.1926, Nr. 1, S. 30 Bonne année ! • Buon Anno! • Feliz Año Nuevo • Glædig nytår • skål • alegría, boa sorte, felicidade, saúde, éxito • Onnellista uutta vuotta • Happy New Year • santé ! Der bairische Wunsch Alle Jahre wieder Même son de cloche 過年 / 过年 Do, 31.12.2009 | link | (865) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Aktuelles und Akutes
Aufrichtig sein will ich, und hänge es Sie deshalb an die große Glocke, die Alle Jahre wieder das Jahr ausläutet, mangels bereits erwähnten Materials auch als Transparent (und damit Sie) aus dem Fenster, diese Kehrseite: Gäbe es nicht familare Beziehungen engerer Art als die von Jutta Dittfurth erwähnte Familie des deutschen Adels (die ja weit in andere europäische Hochwohlmögendentümer hinein Blut gespendet hat), ich hätte keinen Sitz mehr in diesem blühenden Land, das derart verkohlt ist, daß viele gar nicht (mehr) sehen, was der Pfälzer alles an faulen oder künstlichen Blüten hinterlassen hat, beziehungsweise die meisten sich wohlfühlen in diesem mit Eigenschaften genannten Phrasen wie Leistung und Fleiß künstlich gegüllten Weltenfitzel. * Ich hatte das Glück — als Sohn einer vom Wahn eines irren, von misanthropischen Träumen des biedermännischen Kunstwerks im Gesamten geplagten Kleingeistes eingedeutschten, aber zu fragwürdigen Zeiten nie das großdeutsche Reich betretenden Mutter und einem von Briten quasi unter der Dusche weg befreiten gelbsternmarkierten Vater, den es, weil er ein fröhlicher Herumtreiber war, mehr oder minder «zufällig» erwischt hatte — zu einem Zeitpunkt des Aufbruchs ins Land gekommen zu sein, als die Vernunft endlich begann, die Würde neu zu definieren, als deren etymologische Wurzel Wert weltlich zu werten: weg vom götterhaft bestimmten Herren- und Untermenschen, von der edlen Rasse des Deutschen und den Shmoks oder Nebbichs, als die alles andere galten. Dieser pfälzische Preßsack hat alles wieder planiert, was da an zarten Pflänzchen aus dem aufbrechenden Asphalt und Beton dieses versiegelten Landes hervorzusprießen begann; der Serientrailer zu Peter Lustigs Löwenzahn ist (hier in etwa) ein Symbol dafür, daß Pracht sich auch anders ausleuchten ließ denn als höfisches (Nach-)Geplappere oder militärisches Gerassle unter demokratischem Deckmantel. Als ich in den Siebzigern von Berlin aus, wohin es mich nach deutschem Abitur in Skandinavien in den früheren Sechzigern, vermutlich der gemeinsamen elterlichen Zwanziger-und-dreißiger-Jahre-Schwärmereien wegen, gelockt hatte, über einige Stationen irgendwie nach München geriet, wollte ich sofort und rasch wieder weg. Die Stadt war bereits völlig verstrahlt von olympischem Glanz, der ganze Heerscharen von Provinzlern nach Isar-Athen und in trachtige oberbayerische Faschingskostüme gelockt hatte, daß vom tatsächlichen vereinzelten Charme dieser Provinzhauptstadt kaum noch etwas zu sehen war (heute glamourt auf diese Weise Berlin). Es gelang mir nicht auf Anhieb, wieder zu fliehen, die sich ausweitende Berufung ließ es nicht zu. Letztendlich trug sie jedoch dazu bei, daß ich doch fast dreißig Jahre blieb, das Ende kam erst um die Jahrtausendwende (wütender Abgesang), es wurde tatsächlich mitermöglicht durch die neuen Kommunikationstechnik eMail. Aber aus allem ergab sich eine Erkenntnis, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Wenn man ohnehin ständig unterwegs ist, dann spielt es keine Rolle, wo die eigene Hütte oder Höhle steht, in die man sich zurückziehen kann. Tatsächlich bezog ich ein halbes Jahr, bevor Tschernobyl in die Luft flog, die Wohnung in einem Hochhaus, an dem ich jahrelang mit dem Gedanken vorbeigefahren war, darin nie wohnen zu wollen. Damit festigte sich die moralische, aber von den meisten nicht umgesetzte, also auch in mir bis dahin nicht wirklich oder ernsthaft verankerte Theorie, das rein Äußere habe keinen inneren Wert. Und richtig, ich durfte ins Innenleben dieses Hauses gehen, in eine der schönsten Wohnungen einziehen, die ich bis dahin gesehen hatte. Der Architekt des in den Anfängen der Sechziger errichteten Hauses hatte es nämlich geschafft, die positiven Eigenschaften der Bauhaus-Idee, die Idee des Neuen Bauens vom neuen, auch von mehr Kapazität geprägten Denken neu überdacht fortzusetzen. Es war also eine Wonne geworden, von meinen Reisen zu Renaissance-Pracht und (vor allem in den Palästen so manches Mal vermeintlicher) Kunst-Transparenz heimzukommen in meine von Helligkeit durchflutete, in schlichter Schönheit strahlende Höhle ziemlich weit oben. Die habe ich jetzt auch in meinem Zuhause südlich und nördlich. Nördlich jedoch wirklich nur noch wegen der bereits erwähnten familiaren Bindungen, die mir, trotz oder möglicherweise gerade wegen meiner inneren Heimatlosigkeit viel bedeuten. Im deutschen Land komme ich kaum mehr herum. Meine paar Ausflüge nach Hamburg, Lübeck et cetera reichen mir völlig aus. Nicht nur die zusätzlichen Ausreiser aufs Land tragen zum Rest bei. Herbert Achternbusch hat es zwar vorgemacht: Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich solange hier, bis man es ihm ansieht. Aber weder ihm noch mir ist es gelungen. Man sieht es ihm nicht an, daß es sogenannte Andersdenkende gibt. Ich weiß, daß es sie gibt. Aber ich sehe sie, seit ich aus meinem Elfenbeinturm Berufsleben heraus bin (was ich wahrlich nicht beklage, sondern mich erfreut, weil ich nicht mehr in diese Artistenzirkuskuppeleien reisen muß, in denen nur noch monetär geturnt wird), nicht (mehr). Bisweilen komme ich in Kleinstädte. Da fühle ich mich nahezu ausnahmslos wie in Lethes Freibrief von Herbert Köhler aus dem Jahr der anderen Wende, der des Jahrtausends, in dem er von Diogenes erzählt, «der am helligten Tag mit einer Laterne über die Athener Agora spazierte und gefragt wurde: ‹Was tust du mit dem Licht?› und dann erwidert haben soll: ‹Ich suche Menschen!› » Manchmal komme ich auch ins Krankenhaus, so kürzlich. Da hatte man mir, als ich, bereits kontrastmitteldepressiv leicht geschädigt, dem angiologischen Computertomographen entronnen war, einen um einiges älteren Herrn ins Zimmer geschoben, der zunächst keinerlei Anzeichen eines größeren Schadens erkennen ließ. Sonnengebräunt war er, ebenso seine später zu Besuch kommende Gattin, noch vom letzten Türkei-Urlaub, dreimal jährlich mindestens mit dem Superbilligflieger von Blankensee aus, zu irgendwas müssen diese von Steuergeldern getragenen Flughäfen schließlich gut sein, und, von seinem altersbedingten Schmerz abgesehen, also guter Dinge. Und da man sich des gemeinsamen Schnarchens schon sicher ist, muß man sich auch besprechen. Daraus wird dann, wenn man einen Zuhörer hat, eine Rede. Zum Beispiel eine über die faulen Griechen, denen man's vorn und hinten reinschiebt, überhaupt diesem ganzen faulen Restpack im Süden Europas. Als dann meinerseits eine leise Gegenrede kam, nämlich die, er habe noch gar nicht irgendwem etwas irgendwo hineingeschoben, sondern das seien zunächst einmal nichts als Bürgschaften, da kam fast wutschnaubender Protest. Aber so höre und lese er es doch tagtäglich im Fernsehen und in der Zeitung. Ach ja. Ich habe mich dann aufs Private beschränkt. Nicht nur der junge Mensch des Medienzeitalters erzählt ja gerne von sich. So hörte ich zwischen den Zeilen heraus, welcher Abkunft er ist: gut versorgter, mit einer Witwenrente zusätzlich aufgebesserter vermutlich traditioneller sozialdemokratischer Hausmeister, dem die Juristerei seiner Gewerkschaft wegen eines Sportunfalls in jungen Jahren durch einige Instanzen zu einem weiteren Zubrot verhalf. Ein bißchen ließ ich ihn dann noch, bevor ich erschöpft die Ohren zuklappte, über das Gesundheitswesen schimpfen, an dem alleine die da in Brüssel schuld seien. Über die Ärzte der Universtätsklinik zu Lübeck schwieg er. Von denen hatte eine gute Woche zuvor der Angiologe gesprochen, zu dem mich mein Hausarzt geschickt hatte. Der machte mir von vornherein unmißverständlich klar, daß er mich in keine dieser quasi staatlichen Krankenhäuser überweisen würde, sondern nur, der Versorgungsqualität wegen, in ein privates. Solllte ich eine Staatsklinik bevorzugen, dann müsse ich das selber in die Wege leiten. Das habe ich dann getan, wo ich sowohl die fachliche als auch die soziale Kompetenz von mindestens vier jüngeren Ärztinnen und Ärzten samt freundlichem, geradezu liebevollem Pflegepersonal feststellte. Mit allen hatte ich Gespräche, aus denen ich einmal mehr heraushörte, wie, nach meiner Sprach- und Denkgestaltung, unwürdig sie doch behandelt werden. Diese ungemein kommunikativen, im persönlichen Gespräch mit mir aufgeräumten, nachgerade fröhlichen Mediziner erkannte ich nicht wieder, als sie zur Visitenkarawane aufmarschierten. Die Köpfe zwischen die Schultern eingezogen, fast duckmäuserisch standen sie da und sprachen kein einzig Wort. Das hatte allein der Ober- oder auch Chefarzt, der mich nicht einmal anzuschauen in der Lage war, während er über mich, über meinen Körper redete. Sechs Jahre, so erzählte mir der noch in der angiologischen Lehre befindliche angehende Internist, während er mir in geradezu liebevoller Handarbeit die nach der Operation sich nicht verschließen wollende Arterie mittels Kompression wieder dichtmachte, müsse er über seine «normale» Ausbildung hinaus ran. Auf rund zehn Jahre hochgerechnet habe ich's. Um dann als Facharzt während der Visite vor dem Chef zu ducken, der sich aufführt, als ob er von altem Adel wäre (wie diese Species sich im privaten Bereich verhält, habe ich in meinen jahrzehntelangen Erfahrungen mit ihnen häufig genug erlebt: wie jedes andere Lieschen und Fritzchen Müller auch). Da wundert sich mein in der Türkei sportiv gestählter Rentner, aber auch die täglich wegen eines Hüsterchens auf der Matte stehende Patientin von Frau Braggelmanns Chefin, daß die alle ins Ausland abhauen, weil sie dort wenigstens angemessen bezahlt werden. Aber davon, daß jetzt auch noch der letzte Rest des ursprünglichen Tafelsilbers an Investoren verhökert werden soll wie griechische Bunga-Bunga-Inseln an Berlusconis oder so, davon haben sie noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen, weil Information ihnen zu anstrengend ist. Die Universitätsklinik Lübeck, so las ich, soll nun, wie andere öffentlich-rechtliche Krankenhäuser auch, komplett privatisiert werden. Weg mit dem Rest des vom Steuerzahler finanzierten Eigentums in den Hals derer, die mit ihren grundseriösen Gewinnerzielungsbsichten ihn nicht voll genug kriegen können. Das ist ja nun alles nichts neues. Aber dieses ewige Geschimpfe und Gegreine hierzulande, dieses ständige Schuldabschieben auf andere, diese, das ist das Allerärgste, diese gehorsam in diesen Kadavern steckende Schicksalsergebenheit, die macht mich fertig. Wird in Frankreich, in Italien, Spanien oder sonstwo zu recht gestreikt, weil ihnen diese ganzen weltweiten Wirtschaftswachstumskapitäne mit ihren politischen provinziellen Lotsen, die gerne auch ein wenig von diesem Glanz abhaben wollen, die Kähne auf Grund gesetzt haben, dann wird gemault, dieses faule Gesocks vernichte deutsche Kaufkraft. Um dann wieder mit dem koreanischen Dieselrennpanzer von Billigheimer zu Billigheimer brettern, um noch billiger Bio aus China einzukaufen. Und im Sommer düsen sie dann wieder nach Türkesien, um sich zu beschweren. Denn das können sie, das hat ihnen das Fernsehen, nicht nur das öffentlich-rechtliche, eingetrichtert, wie der Gans und der Ente den Maisbrei zu Weihnachten: Sie haben Rechte! Aber solche Sauereien essen sie ohnehin nicht. Denn das ist Tierquälerei. Im Gegensatz zum preisgünstigen, kiloweise nachhause geschleppten antibiotischen Geflügel, Rind und Schwein. Vorhin rief mich Frau Braggelmann an und erzählte einmal mehr begeistert vom schönen Leben im Hotel. Seit einiger Zeit greift sie mein Genuß-Prinzip auf, nach dem es einem selbst und auch anderen wohler tut, sich selbst Gutes zu tun, zum Beispiel lieber etwas weniger zu nehmen und dafür Besseres. Und da sie ein freundlicher und überaus kommunikativer Mensch ist, kommt sie immer auch mit Menschen ins gute Gespräch, die Dienste leisten, weil es ihnen Freude bereitet, dienstzuleisten. Und wie das eben so ist, wenn man gerne von innen heraus ein höflicher Mensch ist und zuvorkommend und mit den Menschen auch ohne Gewinnerzielungs- oder sonstige Absichten dieser Art spricht und so gute Kontakte sich ergeben, dann kann's ohne weiteres geschehen, daß man zu Silvester zum Normalpreis in eine Suite eingewiesen wird. Wer andere als Personal behandelt, das gefälligst zu tun hat, was man fordert, wer als Möchtegern-Adliger den Diener braucht, den man anzublaffen gedenkt, dem wird's das Pauschaltouristenhirn vertrocknen. Ich aber, ich habe den Kanal voll. Ich mache Schluß mit Achternbuschs Ansichten. Ich mache es auch nicht wie seinerzeit Franz Josef, der das Land verlassen wollte, um Ananas zu züchten in Alaska. Das klingt mir zu sehr nach Arbeit. Ich bin nämlich ein adoptierter Südländer, eine faule Sau, auch noch eine jüdische, und dann noch so eine durch und durch säkularisierte. Ich lege mich in die Hängematte. Aber nicht in diesem Land, in dem spätestens seit der vereinigten Kohl-Düngung definitiv keine Bäume mehr wachsen wollen, wo man sie festbinden könnte. In dem man überhaupt Hängematten nicht mag, weil sie eine Gefahr wider Fleiß und Ordnung symbolisieren. In dem man fränkisch arbeitssame Freiherren über alle Maßen schätzt, die zwar nicht einmal abschreiben können, dafür von edlem Blut sind. Wie hat mir gestern unser Jüngster erzählt, wie die Jugend mittlerweile spricht? Spieken heißt jetzt Gutenbergen. * Gelbstern auf halbierter Verlegenheits- oder auch Notbehelfs-Kippah, hergestellt von einem handwerklich begabten, mehr oberbayerisch als katholisch, sich trotzdem keineswegs als Künstler verstehenden Steinmetz-Freund zur Veröffentlichung bzw. von Redaktionsmitgliedern handgefertigt als Beilage zu Referenz und Gedenken zweier Freunde und überhaupt in Laubacher Feuilleton 5.1993
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