Semispirituelle Suchmenschenanfrage

Qui partout sème en aucun lieu récolte. (Wer überall sät, wird nirgendwo ernten.)

Eine Anmerkung vorab: Um eine Fußnote lesbar zu machen, berühre man mit dem Cursor die jeweilige Ziffer.1

Nicht zuletzt, da eine Bekannte einer Bekannten der bekannten, ja berühmt-berüchtigten, der (jedenfalls von mir) gefürchteteten Alltagsforscherin Frau Braggelmann in meinem Fragmentchen Verliebtheit, Ekstase. Hypnose und Amnesie den Satz von Jean Baruzi gelesen hat und ihn am liebsten in ein esoterisches Brevier integrieren möchte (was, wie meistens in solchen Fällen, aus dem Zusammenhang gerissen ein recht schiefes Bild produzieren kann, wie eben das, was heute heute unter Esoterik verstanden wird, also nicht mehr das Geheimwissen früherer Tage, hier etwa am Beispiel Freimaurer) — ich finde das Buch nicht, das Original: Saint Jean de la Croix et le problème de l'expérience mystique, erschienen 1924, laut fnac neu erschienen 11/ 1999. Ich weiß nicht mehr, in welchem Karton auf welchem Dachboden oder tiefem Keller es sich vor eventuellem Mißbrauch versteckt — die vielen Versuche der letzten Jahre zur Heimatfindung haben mein einstmals gefestigtes System aufgelöst. Ich möchte, wie angekündigt, auch die französische Version dieses Alltagsfragmentariums einstellen: État amoureux, extase, hypnose et amnésie, doch dazu fehlt mir die originale Schreibweise des Zitats. Zwar kann ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis nachfragen, aber es finden sich in letzter Zeit (erfreulicherweise) auch hier zunehmend mehr Interessenten auch an solchen philosophischen Themen ein, die ohne Religionsgeschichte auch für die heftigsten Redner gegen den Glauben schlicht nicht denkbar sind. Gerne möchte ich auch die an Fragen, nichts als Fragen beteiligen, durchaus auch diejenigen, die der Meinung sind, ich hätte den falschen, weil gar keinen Glauben (was hier und ergänzend hier begründet ist.

Hat also jemand das Buch im Regal stehen, vielleicht sogar die Textstelle parat und möchte meine Suche beenden helfen? Es geht um den Satz:

«Es gibt keine mystische Entzückung der Seele ohne vorherige Entleerung.»2

Die Übersetzung könnte in etwa lauten:

Il n'y a aucun ravissement (enchantement) mystique de l'âme sans vidange préalable.

Ich hätte aber gerne den Originalwortlaut (der möglicherweise um einiges filigraner, durchgeistigter oder auch spiritueller [etwa im Sinne der Aussage eines wohlmeinenden Beur, der wie ein Jude niemals nicht Schweinefleisch äße, sondern immer denkt, es wär' ein Fisch, also ebenfalls nie und nimmer Alkohol tränke, der mir in l'Éstaque zwischen Marius und Jeannette sitzend nach dem fünfzehnten oder neunzehnten 51er ein ausgezeichnetes Patois attestierte] daherkommt als mein Hausmannsfranzösisch3).


 
Mi, 04.01.2012 |  link | (2689) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fragen, nichts als Fragen



 

Die Professorengelehrtenexpertenrepublik

Durchsetzt von einigen Insiderwitzeleien, die ich zu entschuldigen bitte, die ich mir aber nicht verkneifen kann.

Heute früh tat ich das, was ich mir eigentlich untersagt hatte, weil mir dieses volksnahe Gutgelauntsein seit je die Gutemorgenlaune verdirbt. Aber man will schließlich informiert sein, will wissen, was einem garantiert den Tag vermiesen wird. Ich schaltete also das Fernseherät ein. Da saßen zwei offensichtlich altbekannte jugendlich dynamisch wirkende Herren einander gegegnüber, und der eine sagte so etwas wie guten Morgen Magazin, Du, Herr Professor, wir haben zwar nur 1'30, aber soviel Zeit muß sein oder so ähnlich. Es ging vermutlich um Sport. Ich habe ausgeschaltet. Denn mir schwoll der Kamm der Erinnerung.

Als junger, aufstrebender Journalist war auch ich bemüht, mich bei den Koryphäen beliebt zu machen, die ich für Reportagen und Hörbilder, wie in guten alten Sprachpflegerzeiten die Features genannten Dokumentation auch genannt wurden, aber auch zu aktuellen Themata befragen durfte. So erinnere ich mich gut daran, etwa Mitte der siebziger Jahre während einer täglichen Redaktionssitzung den Abteilungsleiter des kulturellen Buntfunks darauf hingewiesen zu haben, man dürfe doch wohl dem unterministeriellen Leiter einer bundesländlichen Städte- und Verkehrsplanung seinen Professor nicht verweigern, den er auf seine Visitenkarte dezent auch ohne das Honorar- hatte drucken lassen, wozu er eigentlich gesetzlich verpflichtet gewesen wäre. Es war (noch) die Zeit, als viele an Universitäten Geistesgeschulte wie in anderen Ländern auch auf das Führen ihres Grads eines Doktors, der mittlerweile ja in einen Titel, vermutlich weil es mehr nach Adel klingt, umbenannt wurde, verzichteten, andererseits nicht nur in Nordrhein-Westfalen die Inflation der Vergabe an Honorarprofessorentiteln eingesetzt hatte, die besonders gerne an Personen verliehen wurden, die nie von einem akademischen Studium auch nur gestreift worden waren. Kurzum, meinte der unter mir leidende Redakteur, selber ein sich nicht als solcher deklarierender promovierter Mediävist, der sich darob seiner leitenden Fähigkeiten besann und daraufhin verfügte: Meinetwegen, aber dann streichen wir ihm den Doktor, denn der Herr redet mir ohnehin zu sehr wie einer, der seine akademische Würde in der Schule eines politischen Parlaments erlangt und somit nicht nicht wirklich verdient hat.1

Photographie: Wikipedia. Nik1986. Bayerische Staatbibliothek. Albrecht Pfister

Es scheint ja nicht mehr so viele Italiener zu geben, möglicherweise sind sie allesamt endlich alle integriert, wie die deutsche Poilitik redet, wenn sie assimiliert meint, auf jeden Fall geschieht es mir immer seltener, daß mir ein Kellner Hut und Mantel abnimmt und währenddessen dienstbeflissen zuraunt Si Professore, beninteso Professore, naturalmente Professore, es mag aber auch daran liegen, daß ich seit der Zeit keinen dieser Immigranten mehr aufsuche, seit der Opernsänger in einem Münchner Nobelristorante dem Cameriere dreimal hintereinander bedeutete, diese bis obenhin gefüllte Tasse entspreche weder einem römischen noch einem genuesischen Espresso, das sei allenfalls deutscher gefilteter kalter Kaffee, den er ebenso verweigere wie den hiesigen, der deutschen Leggerezza angepaßte Servizio, der ihm ständig etwas vom Professore in die Ohren trällere, er gastiere schießlich an der Opera und sei kein Dorfschullehrer. In dem putzigen Eiskaffee der norddeutschen Kleinstadt, in das ich manchmal wegen des hervorragenden, aus lediglich einem wohlschmeckenden Schluck bestehenden Espressos voller Lust wandle, kommt keines der nicht eben wenigen Familienmitglieder der aus dem Piemont stammenden Gelateriabetreiber mehr auf die Idee, mich so anzureden, seit ich nach der ersten derartigen Begrüßung die linke Augenbraue bedrohlich hochgezogen habe.

Aber der Lehrer der örtlichen Sonderschule, die ja auch ihre Bedrohung verloren hat, seit bekannt ist, daß auch in Pisa schlechte Noten geschrieben werden, der freut sich nach wie vor, mittels dieses Titels geadelt zu werden, der zwar nach Niederwild klingt, das so heißt, weil nur der niedere Adel die kleinen Tiere schießen durfte, was aber einen zeitgenössisch akademisierten Pädagogen nicht weiter berühren dürfte, der die Tricolore für das russische Nationalbanner hält, was in etwa den Kenntnissen von Lothar Matthäus gleichkommt, der gesagt haben soll, er habe bei seiner Blutgrätsche den Gegner doch gar nicht tangiert, was wiederum den interpreatorischen Fähigkeiten des großen österreichischen Sangesathleten Peter Alexander entspricht, dem zum besseren Verstehen samt Partnerin das Lied von den kleinen und den großen Tieren nachgedichtet wurde.2 Überhaupt lechzt die gesamte deutsche Bevölkerung, so mein Eindruck, bald mehr noch nach Erhöhung als die dieses Landes, das hinter den Alpen liegt, und dem sie sich geistig verwandt zu fühlen scheint, vermutlich weil dort der Adel abgeschafft wurde und es seit 1920 heißt:
«Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen.»3
Österreich hat 1919 die französische Revolution von 1789 nachgeholt, jene Égalité übersetzt, von der viele dem Irrtum unterliegen, sie gelte auch im Alltag. Und der ist in den blühenden deutschen Landschaften so gräßlich farblos geworden, daß man sich nahezu blaublütig wirkende Titel herbeisehnt. Was liegt dabei näher als ein Professor? Das Volk braucht das offensichtlich. Dabei ist dem offenbar nicht bekannt, daß es weitaus mehr von diesen Titelträgern gibt als die wahrlich vielen bunten, manchmal auch gelb genannten Blätter wie Leute heute oder Brisant oder wie sie sonst noch alle heißen, aus denen es seine Informationen für den alltäglichen Umgang mit der Welt bezieht. Neben den oben erwähnten Honorarprofessoren gibt es nämlich noch diejenigen, die auch ohne eine dieser zeit- und denkaufwendigen Habilitationsschriften (ausgewiesen als Dr. habil., mittlerweile erkennbar am PD, dem Kürzel für Privatdozent) zum Professor werden. Ich weiß nicht, wie das heute heißt, aber früher nannten wir das Wolken- oder auch Schäfchen- oder auch verschlafene Professur, abgeleitet oder auch gemeinhin bekannt von der Dame mit den auch am oberen Rand des schwarzen Rollkragenpullis nicht endenwollenden Beinen, von diesem erotisch aufquellenden Cumulus: «Haufenwolke oder Quellwolke. Die klassische, unverwechselbare ‹Bilderbuchwolke› (auch Schäfchenwolke) mit ihrer flachen Unterseite und strahlend weißen Blumenkohlköpfen auf der Oberseite», wie Wikipedia das so schmuckelig beschreibt. bestehend «aus Wassertröpfchen und [...] in den unteren Wolkenstockwerken anzutreffen». Für manch einen ward das zum Wolkenkuckucksheim, denn nicht jeder hat die Zeit dazu, man muß schließlich auch noch Geld verdienen und seiner anderen Ämter walten.4

Das sind die Experten. Früher, zu schleyerhaften Zeiten mußten sie heimlich, verborgen hinter wallenden seidenen Shawls, ihre Titel aus gesellschaftlichen Gleichheitswängen fast schamhaft versteckt, zu gut gespült hat nie Bayreuth schweben, durften ihre stille Liebe zu Gesamtkunstwerk und Lindenstraße und Lady Di nie öffentlich machen. Heute ist das anders. Heute will das Volk endlich wieder Pracht. Und die kann nur leuchten, indem man zeigt, was man aufzubieten hat. Und wenn man schon im Fernsehen seinen SUV von BieEmDabbelYou oder sein Haus oder seine Kreditkarte nicht (das hatte ich vergessen) vorzeigen kann, dann wenigstens seine Honorarprofessur. Denn wer weiß schon, wo Tripsdrill an der Altweibermühle, die dortige Fachhochschule liegt.

1Seinerzeit gab es noch kein Internet, geschweige denn Suchmaschinen, zu der Zeit mußte man noch tief in Bibliotheken steigen und selber im Staub der Archive suchen und mußte mühsam alles eigenhändig abschreiben wie die Kopisten des uns alle so leidenschaftlich bewegenden Mediävums, als das Guttenbergisieren noch nicht erfunden war, als das Volk zudem noch keine Sprachen schrieb, und wenn es an geschriebene Information gelangte, dann bestanden diese überwiegend aus vielen hübschen oder auch schönen, allerdings nicht ganz so bunten und bewegten oder bewegenden Bildern wie die der gegenwärtigen Medienerzeugnisse, auf deren überbordende Inhalte ich in verschiedenen Zusammenhängen hier bereits mehrfach hingewiesen habe, auf die schlichteren der biblia pauperum.

2Die Großen, sagte es,/fressen ganz keck/Die Kirschen und sonstiges weg./Sie alle beanspruchten darin das nämliche Recht./Was sind das, sprach die Maus,/für dumme Faxen?/Die Kleinen müßten dann doch erst mal wachsen! (Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere ...)

3Adelsaufhebungsgesetz

4Das ist allerdings bereits eine höhere Stufe des niederen Gelehrtenadels. Denn dort muß bereits viel eines Fachgebietes veröffentlicht und auch anerkannt worden sein. Das ist die kumulative, zu der allerdings noch gesondert eine Schrift vorgelegt werden muß, die etwas mehr hergibt als ein Dankes- und Grüßaugustwort an die Honoratioren einer Universität.

 
Di, 03.01.2012 |  link | (6072) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Verliebtheit, Ekstase, Hypnose und Amnesie

«Es gibt keine mystische Entzückung der Seele ohne vorherige Entleerung.»1

Eine Liebesheirat? Nach einiger, nicht bestimmbarer Zeit entzieht er sich so langsam der magnetischen Energie des reinen Gefühls, in dem es ein leichtes ist, in vernunftwidrige Rauschzustände zu geraten. Eine Liebesheirat? Gibt es heutzutage denn einen anderen Grund, zu heiraten? Gibt es überhaupt einen Grund, in den Heiligen Stand der Ehe einzutreten? Mit Gütertrennung und sonstigen präjudikativen Absicherungen? Ehevertrag! Einbeziehung des möglichen, fast sicheren Zerreißens eines gesegneten Bandes. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne? «Die neueren Theorien», schreibt José Ortega y Gasset, «haben den kosmologischen Gesichtspunkt verloren und sind fast ausschließlich psychologisch geworden. Die verfeinerte Psychologie der Liebe hat, indem sie eine scharfsinnige Kasuistik ausbildete, unsere Aufmerksamkeit von der kosmischen, der elementaren Seite der Liebe abgelenkt.» Wie recht er hat! 1933 hat er das veröffentlicht. Meine Güte — wenn der geahnt hätte, was da noch alles den Lauf der Liebe bestimmen würde! Wenn er nur daran denkt, wie dieser Mann verunglimpft wurde während seiner späten Jugend, also während des Studiums. Es war unter den Sozialisten, denen er angehörte, sozusagen ein Verbrechen, den überhaupt zu lesen. Dabei hat dieser Klarseher davon geschrieben, daß er die Liebe meint und nicht die Verliebtheit, diese «psychische Angina». Es ist wie heute — man sagt Erotik und meint die Sexualität. Damals sprach man vom Bumsen und meinte — heimlich — die Verliebtheit. Rausch eben. Aber Liebe? Das war ein absolutes Tabu. Zumindest in unserem Elfenbeinturm der gebildeten Abgeklärtheit. Liebe hatte ein Anachronismus zu sein. Und Stendhal — den Theoretiker des Don-Juanismus, nicht etwa den geradezu glorifizierten Erzähler! — hat Ortega y Gasset ebenso der Unfähigkeit zur wirklichen Liebe geziehen wie auch Platon mit seinem platonisch-naiven, ja theoretischen Geplappere. Doch auch den durfte man ja nur aus der Perspektive der reinen Vernunft, für die Festigung der Gegentheorie lesen. Zu Diskussionszwecken eben. Also haben — mal wieder — ein paar Zusammenhänge gefehlt. Und dann wundert man sich, daß unsere Kinder die Blaue Blume mit der Roten Rose im Knopfloch verwechseln. Aus der Möglichkeit, das Leben als Roman, als Liebe zu leben, wird ein Leben, von dem man den brunftigen Klappentext hernimmt. Da werden dann Anzeigen geschaltet, in denen von einem säuselnd zärtlichen Abendessen vorm kerzenscheinbestandenen Kamin bei einem Glase roten Weines visioniert wird. Dabei war's arschkalt an den Kaminen der Romantik. Aber man fühlte sich eben hoffnungslos glücklich, weil man die Kälte der Beziehungslosigkeit nicht kannte und die innere Zimmertemperatur eher damit aufheizte: «Über den Turbinen und Maschinen mannigfaltiger Art, die wir in den Strom hineinsenken, dürfen wir nicht seine uranfängliche Kraft vergessen, die uns geheimnisvoll umgibt.» Das hat Ortega geschrieben, als das zweite Jahrtausend bereits gute dreißig Lenze zählte. Das also könnte ein Anlaß zur Heirat sein! Heutzutage. Wieder? Das ist durchaus eine Erkenntnis. Und vielleicht war es ja genau das, was geschah und sich lediglich aus einem bedauerlichen biologischen Ereignis heraus seiner Kenntnis entzieht. Aber damals?

Hatte er nach der Scheidung, deren eigentlichen Gerichtstermin er damals wegen des eindeutigen Tatbestands des «Böswilligen Verlassens» gar nicht hatte wahrnehmen müssen, nicht die ersten eigenen Gedankens meines Lebens produziert: Nie mehr! Es war auch zu absurd gewesen. Auf ihn, den doch arg jungen Studenten, ach was, das Jüngelchen, hatte die noch Jüngere blondäugige Blitze geworfen, auf den überdurchschnittlichen Rock’n-Roller, als der er sich sah. Dieser Tanz war zu dieser Zeit sein einziges Aphrodisiakum. Es funktionierte passabel. Sie fielen übereinander her, wie wegen des Saftüberdrucks kurz vor dem Platzen stehende junge Menschen sich eben ineinander verschlingen. Sie blieben länger in dieser wirren Körperhaltung, als er es gewohnt war. Es war nicht unangenehm gewesen. Denn als sie ihre meerwasserblauen Augen in seine nicht ganz so reinrassigen ähnlicher Pigmentierung versenkt hatte, um ihm zu eröffnen, daß sie gedenke, bei ihm zu bleiben, kam durchaus Wohlgefühl auf. Dies würde ihn wohl aus dem Gefühl der heimlichen Einsamkeit befreien, das ihn seit seiner frühesten Kindheit peinigte. Er gab seine Bude in der entgegen seiner Behauptung den Mitbewohnern gegenüber tatsächlich rein wirtschaftlich oder auch um nicht zu vereinsamen mitbegründeten Wohngemeinschaft in Charlottenburg auf, da man dem jungen Paar eine kleine Wohnung vermietete, obwohl es nicht verheiratet war. Berlin war in den späten sechziger Jahren dabei, sich an seinen Ruf als ehemalige Metropole de tolérance zu erinnern. Ach, Studenten, die sind eben anders, und wenn dann auch noch eine dabei ist, die richtig arbeitet, also offiziell als Lohnsteuerzahlerin gemeldet ist, also Geld verdient! Vielleicht war es auch einfach nur die Not des Vermieters, die Wohnung nicht so ohne weiteres für teures Geld vermieten zu können. Der große Treck aus West-Deutschland war damals noch nicht so recht in Schwung gekommen. Man richtete sich ein. Das erste Asko-Regal wurde gekauft, das Mobiliar der damaligen Besserverdienenden. An Geld mangelte nicht — Mama konnte es nicht verhindern, daß Papa den Sohn wahrlich nicht darben ließ. Nach drei Monaten kam das jüngste Gericht in Form eines Paares über sie. Es kam aus einer nordhessischen Kleinstadt. Er stand in der Mitte des Zimmers und dirigierte Mutter und Tochter mit einer einzigen Armbewegung in Richtung Tür. Solange ihr nicht verheiratet seid, lebt ihr auch nicht zusammen! Die verweinten Augen der Jüngeren und die wohl im Weiblichen begründete Sanftmut der Älteren stimmten den Feldherrn der Moral unter der Bedingung um, daß innerhalb von zwei Monaten geheiratet würde. Es geschah der Wille des Herrn. Da der Aussteuerschrank, der im Zonenrandgebiet stand, von beachtlicher Größe war, mußte die Wohnung im Umfang angepaßt werden. Auch die Umgebung wurde einem jungen, solventen Ehepaar gerecht, dem die Zukunft gehörte. Der Mietpreis für die hundertzehn oder hundertzwanzig Quadratmeter des inzwischen zu Schrebergärten parzellierten Jugendstilhauses befand sich wie die Ortslage außerhalb der gesetzlichen Preisbindung. Sie paßte zur Entfernung zum Zentrum der Stadt, wie die Nachbarn im Kopf nicht weit entfernt vom evangelischen Johannis-Stift, dahinter war die Welt zu Ende, dann kam der falsch oder nicht verstandene Kommunismus. Spandau bei Berlin, sagte der Busfahrer beim Grenzübertritt. Und wenn er besonders berlinisch eingefärbt und auch noch Eingeborener war, rief er in der Gegenrichtung in der Ruhlebener Straße: Berlin bei Spandau. Doch das junge Paar machte seine mitternächtlichen Zwanzig-Kilometer-Ausflüge zur Bowling-Bahn am Lehniner Platz — dort, wo das ehemalige Revolutionstheater ‹Schaubühne› von Peter Stein eine postmoderne neue Heimat gefunden hat — mit dem väterlichen Geschenk männlicherseits, mit dem Volvo. In diese mittelständische Karosse war er, weitere drei Monate später, dann auch eingestiegen, nachdem er sich von der jungen Ehefrau, bis übermorgen, verabschiedet hatte. Um in einer anderen großen Stadt als in einem Vaterschaftsprozeß auszusagen. Sein Wunschkind mit, das einer anderen Frau war zu diesem Zeitpunkt etwa ein Jahr alt. Zu den beiden fuhr er nach der Gerichtsverhandlung. Ehefrau und Schwiegermutter gaben eine Vermißtenanzeige auf.

Wiederholt Geschichte sich auch im Mikrokosmos? Gibt es kein Entrinnen auch aus den unangenehmen Faktoren der Erbanlagen oder der Sozialisation? Er wußte es nicht. Denn im Gegensatz zu der gut fünfunddreißig Jahre zurückliegenden Station konnte der Seefahrer sich an die jüngste Reise nicht erinnern. Hatte er, nur um einen ihn nicht anerkennenden Heimathafen anzulaufen, so sehr allen Stürmen zu trotzen versucht, daß ihm deshalb und dabei der Himmel auf den Kopf gefallen war? Ohne jeden Zweifel lag ein Dysfunktion des Gehirns vor. Das hatte er schriftlich vom Chefarzt einer Universitätsklinik. Von einer Amnesie hatte der nichts gesagt. Aber der weiterbehandelnde Neurologe hatte immer dann herumgedruckst, wenn das Thema angesprochen worden war. Weitere Fragen hatte er sich dann erspart und war überhaupt nicht mehr zum Arzt gegangen. So folgte auf die Amnesie die Auto-Amnestie wenigstens aus dem Gefängnis der grüblerischen Selbstdiagnose. Denn daß ihm etwas fehlte, das wußte er. Er wußte nur nicht, was ihm fehlte. So spannend empfand er's dann auch nicht.

Möglicherweise war es diese Frau, die sich aus seinen Ganglien davongemacht und lediglich Duftpartikel in ihnen zurückgelassen hatte. Doch allem Anschein nach war er es, der nach einem schlimmen Unfall mit erheblichem Personenschaden die Flucht ergriffen hatte.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Fragmente eines Romans. 2002
 
So, 01.01.2012 |  link | (3915) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 







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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6175 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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