Jugendsünde '68. Anderssprachig.

Denn wenn man auch auf den ersten Blick in die Versuchung geraten konnte, anzunehmen, daß die Vielfältigkeit der Sprachen dem Menschen zum Unglück gereicht und eine Trennwand zwischen den Völkern aufgerichtet habe, so bemerkt man doch bei näherer Betrachtung, daß dem nicht so ist. Ja, im Gegenteil, die Verschiedenheit der Sprachen gibt dem Menschen die Gelegenheit, die Vielfalt des menschlichen Geistes in sich aufzunehmen. So wird die Kenntnis der Sprachen zu einem unvergleichlichen Vorteil und einer fast unumgänglichen Notwendigkeit in der Ordnung der Dinge. Hier scheint es mir, daß gerade meine Landsleute, die Franzosen, sich etwas mehr anstrengen müßten, da sie lange Zeit glaubten, es nicht nötig zu haben, aus dieser Quelle der Menschenkenntnis zu schöpfen. Wie eingebildet sind doch diejenigen, die annehmen, daß wir keiner fremden Sprache bedürften, weil überall die unsrige geläufig ist. Abgesehen davon, daß in England zum Beispiel die Kenntnis des Französischen nur sehr ungenügend gepflegt wird, finden sich auch in Deutschland, wo nahezu alle gebildeten Leute französisch sprechen, aufs ganze gesehen nur wenige, die es wirklich beherrschen.» (Mirabeau)1
Ich hatte gestern auf eine interessante (Pflicht-)Lektüre beim hinkenden Boten verwiesen, in der es um Götz Aly und, mal wieder, um die schlimmen Achtundsechziger geht: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr. Dort hatte ich auch kommentiert. G. hat mir darauf geantwortet beziehungsweise neue, andere Aspekte eingebracht und über ein anderes Blog auf solche verwiesen. Ich war dabei, zu entgegnen, als mir einfiel, daß mich bei dieser Thematik vielleicht doch nicht so die historische Dimension als mehr eine persönliche Sichtweise bewegt, die somit also auch weniger eine Entgegnung darstellt als einen das Thema erweiternder Eintrag. Deshalb äußere ich mich, auch der Länge wegen, in meinem Poesiealbum. Zur allfälligen '68er-Aly-Diskussion gehe man bitte wieder hinüber zum hinkenden Boten.

Ich sehe das vielleicht aus einem anderen Blickwinkel. Als ich, Sohn zweier Freigeister, von denen einer einer wurde, da er sich aus dem gelöst hatte, was man heute landläufig als konservativ2 bezeichnet, auch wenn es gar nichts bewahrt, sondern vielfach zerstört, aus einem traditionellen, tiefreligiösen Umfeld seiner Familie, als ich also um 1964 nach Berlin kam und sofort unter anderem die BRD bereiste, begegnete ich überall alten Nazi. Daran hat sich lange nichts geändert, und bei diesen Strukturen ist es aus meiner Perspektive bis heute geblieben, oder anders: sie scheinen wieder aufzuleben. Nein, ich meine nicht das, was so urmordsplötzlich in den Medien aufgetaucht ist. Ich kann es auch das altverbreitet Urkonservative nennen. Es ist möglicherweise das, was in den meisten, in uns allen steckt, vor dem sich manch einer sich richtiggehend fürchtet. Zähle ich mal Aly dazu. Zum Urwüchsigen. Ich darf munter daherplappern. Ich bin kein Historiker. Ich blogge, ich ramme einen Pflock in dieses leichige Gespenst.

Ich muß dabei beispielhaft an meine Mutter denken. Sie hat sich, nachdem mein Vater gestorben und eine gewisse, Anstand und Sitte gebührende, also rituelle Trauerzeit vorüber war, rasch einem Mann zugewandt, der sein Leben lang ein von Anstand, Ordnung und Sitte, quasi von den Preußen, letzten Endes von den Nazi geprägter Modellpolizist war, sie hat sich dann auch noch auf eine für mich unerträgliche Weise in ein geradezu seltsames Gefüge eingebracht: Sie hat, nachdem ich zuvor jegliches Erbe abgelehnt hatte, ihr passables Hab und Gut der Kirche vermacht, und zwar, ich fasse es bis heute nicht, der evangelischen. Mir wurde der mögliche Hintergrund erst sehr viel später klar, als ich von einem elsässischen Généalogiste erfuhr, daß der deutschhassenden, wohl weil zur Zwangsdeutschen ernannten Juive Familie ursprünglich, im 18. Jahrhundert hugenottisch war (ich gehöre demnach sogar historisch betrachtet Andersdenkenden, besser vielleicht Andersgläubigen an). Wer da wen und aus welchem Grund wohin konvertiert hatte, das entzieht sich meiner Kenntnis, da ich die (Werde-)Gänge meiner mütterlicherseits französisch-deutschen Verwandtschaft des Blutes nicht weiter verfolgt habe, da es mich lange genug verfolgt und ich konsequent alle angiologischen (dieser Terminus technicus muß jetzt sein, da er mich in letzter Zeit akut allzu sehr beschäftigt) Verbindungen abgebrochen hatte. Aber mir wurden mögliche Mechanismen, Automatismen klar, die da eingesetzt haben könnten: zu einem ordentlichen Leben und damit zur «Geborgenheit» zurückkehren zu wollen, die es einst in ihr gegeben haben mag. Von ihr kamen, in unserer freigeistigen Familie, Begriffe wie Zucht und Ordnung, nicht nur in der heutzutage im Prinzip fälschlicherweise nach einem alten Adeligen benannten und dem Ritual verpflichten Tischbenimmlehre, aber um so häufiger vor.

Ich werde das Gefühl oder auch die anwachsende Sicherheit nicht los, daß viele Menschen '68 als begangene «Jugendsünde» verstanden und sich deshalb wohl später davon nicht nur abwandten, sondern eine Gegenposition bezogen, die sie in Altbewährtes zurückbrachten, auf den «besseren Weg». Ich tendiere dazu, es den bequemeren zu nennen. Gestern sah und hörte ich von mich seltsam anmutenden, weil nicht wissenschaftlich abgesicherten Umfragen, aus denen hervorging, ein Großteil der deutschen Bevölkerung sehne sich («wieder») nach mehr Moral und dergleichen. Irgendwie lande dabei assoziativ bei dem erwähnten Philosemitismus, den ich sehr wohl, nämlich als unendlich verlogen miterlebt habe, der für mich meinungstechnisch immer springergelenkt war und woran sich bis heute nichts geändert hat wie bei den paar wenigen ebenso, die nicht diesem Meinungskonzern angehören, der allerdings mittlerweile allein dem goldenen Götzen Mammon huldigt — ein Konvertit hatte die Geldverleiher aus dem Tempel gejagt — und nicht einem möglichweise schlechten Gewissen wie bei seinem Gründer-Cäsar.

Nehmen wir den bei G. erwähnten Broder. Erinnern wir uns: Er war kurz in Israel, tätig für den Spiegel, meine ich mich zu erinnern, kehrte dann aber rasch reu- oder wehmütig (?) zurück. Ich nehme an, nenne ich's mal so, er meinte, von der BRD aus mehr für Israel tun, zum Beispiel später den Islam von dort aus besser an die Kandare nehmen zu können. Er schwang sich vor allem auf zum Redenschwinger für die Freiheit. Und die war nunmal, da sind wir wieder beim Meinungs-Cäsar, uramerikanisch, ur-US-amerikanisch. (Kurz-Exkurs: Mich ärgert spätestens seit Kohls mit Einführung des endgültigen Kommerzes vehement betriebener Abschaffung auch von '68, daß das andere Amerika, das lateinische, südlich gelegene, aus sehr vielen Ländern beziehungsweise Völkern und unterschiedlichen (Ur-)Mentalitäten bestehende immer durch das Rost fällt.) «Die Deutschen», (ich zitiere, auch fast zehn Jahre danach, die immer noch lesenswerten und äußerst amüsanten Briefe von Daniel Rapoport) gab er qua Religions-, also Gesinnungsamtes zu Protokoll, «würden ‹mit dem Holocaust im Gepäck› eine überlegene Moral beanspruchen, die sie zur Kritik an Amerika geradezu verpflichte.»

Ich sehe mich nachgerade verpflichtet, die nachfolgende Rapoport-Passage zu zitieren, um aufzuzeigen, daß es auch ein anderes (allerdings säkulares) jüdisches Verständnis gibt, das, ich getraue mich es zu sagen, von jemandem kommt, der '68 vielleicht gerade mal geboren wurde, aber dennoch aus einer Perspektive argumentiert, die '68 geboren worden sein könnte.
«Mit knirschender Feder setzt H.M Broder nun gegen jene an, die ‹alles relativieren› und den 11. September womöglich mit anderen Verbrechen vergleichen. Jedes Opfer hat zugleich mit seiner Opferrolle auch die Unvergleichlichkeit seines Leidens gepachtet. Vergleiche nivellieren das Leid, ja leugnen es geradezu. Also sind Historiker, die nur durch vergleichende Untersuchungen zu allgemeinen Aussagen gelangen können, unhistorisch. Aber weiter: Nun spritzt seine Feder Hohn, weil die Anti-Amerikaner plötzlich etdeckten, daß die USA kein Wohlfahrtsverein seien, sondern Weltmacht-orientierte Interessenpolitik betrieben. Setzt dagegen, daß auch deutsche Konzerne im eigenen Interesse handelten. (Radiumhaltig.) H.M. Broder kontert Little Bighorn, Dresden und Hiroshima mit einem schulterzuckenden ‹Na und?› Nun ist nicht jeder mit der Gefühlstaubheit des H.M. Broder geschlagen, allein das gehört beiläufig nicht hierher. Hierher jedoch gehört die Frage, wer denn nun ‹alles relativiert›? H.M. Broder relativiert ganz offenbar das Unrecht aneinander, seine Botschaft lautet: ‹Der Mensch ist schlecht, so what?› Wenn also dereinst (zB. Merz 2003) wieder einmal amerikanische Bomben auf den Irak fallen, dann sollen wir ‹Westeuropäer› aufgeklärt schweigen. Schliesslich hatten wir unsere zwei Weltkriege, unser Bosnien und unseren Kosovo, sollen die USA also ihr Hiroshima, ihr Vietnam und ihren Irak haben. — Dass es jemandem einfallen könnte, all diese Entgleisungen der Menschen, Amerikaner oder Deutsche, in Krieg und Jahrzehnte währendes Leid zu verdammen und vehement dagegen einzutreten, fällt H.M. Broder nicht ein. Dass ein Deutscher aus rationalen Gründen zur Kriegsgegnerschaft gelangen könnte scheint ihm absurd. Wahrscheinlich sogar, dass man überhaupt zur Kriegsgegnerschaft gelangt. (Dabei kann man durchaus beweisen, daß die Kulturlosigkeit auch ohne Krieg Bestand hat).»
Das ist, so meine ich zu wissen, eine Minderheitenmeinung. Wenn man die ungefähr 40,1 Prozent, die dem weiterhin seines Amtes waltenden bundesdeutschen Präsidenten keine zweite Chance geben würden, als Minderheit bezeichnen kann. Es bleiben gestern und vorgestern besagte 59,9 Prozent. Darunter dürften sich viele befinden, die '68 lediglich insofern noch in Erinnerung haben oder aus mehr oder minder dubiosen Büchern kennen, daß damit Anstand und Sitte, vor allem aber Zucht und Ordnung zusammengebrochen sein sollen. Zucht und Ordnung mag man das heutzutage zwar nicht mehr nennen, das wäre dann doch zu wenig zeitgenössisch oder zeitgeistig zu inkorrekt, aber Anstand und Sitte darf schon noch oder wieder sein. Mir klingt dabei jedoch die vielbeschworene Moral in den Ohren. Das wiederum ist eine, bei der etwas mitschwingt, das gut in die heutige Zeit paßt: moralinsauer. Ein ehemaliger Bundeswehrsoldat hat mir mal erzählt, man hätte ihnen früher etwas ins Essen getan, das die unmoralischen Triebe in Sitte und Anstand umwandeln solle: Hängolin habe man's genannt. Mir hat '68 Antrieb zu einer Freiheit des Denkens und durchaus auch des Handelns gegeben, die offenbar und mit der Verkrampfung der Zeit davor in die Schranken zurückverwiesen werden soll. Da dürften ziemlich viele Fehler auch oder gerade des Denkens unterlaufen sein, wie das nunmal ist innerhalb einer Ausbruchs-, Aufbruchs und Probephase. Aber einer der größten Denkfehler scheint mir in den, wie der hinkende Bote schreibt, «leichtfertigen Parallelen zwischen 33 und 68» von Götz Aly zu liegen. Das läge mir schon näher: «Gerade schießt mir Herzogs ‚Ruck’-Rede in den Kopf und ob sie auch — auf der persönlichen Ebene — unter dem Aspekt späte Rache interpretierbar wäre?» Mir schwebt trotz allem Perönlichen wie da oben bei der Rede Herzogs doch eher «die geistig-moralische Wende, [...] die Propagierung liberaler Wirtschaftspolitik» vor. Mich «freigeistig» Erzogenen, mich bald auf die Siebzig Zugehenden hat Achtundsechzig befreit, hat mich in fortgeschrittenem Alter mehr denn je zu klaren Gedanken gebracht. Wenn andere sie auch für wirr, für die Verwirrtheit eines sich nicht aus seinen Jugendsünden lösen Könnenden halten mögen.

Zur '68er-Aly-Diskussen übergebe ich gerne wieder zurück an den hinkenden Boten.


Um eine Fußnote lesbar zu machen, fahre man mit dem Cursor mitten hinein in die jeweilige Ziffer.1
 
Di, 17.01.2012 |  link | (3286) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Auf gloriolende Gloriosa,

nein, nicht auf die medientechnisch tote Taxis-Unternehmerswitwe Mariae Gloria Gräfin von Schönburg-Glauchau aus Regensburg, sondern auf die Gloriole des ollen Fritzchens, auf die weist meine, ach was, unser aller Vorleserin hin, auf Lese- und Radiostoffe. Ich Fernsehverseuchter habe den «Dokumentar»-Film, das «Dokudrama» auf arte gesehen. Das Filmchen, muß ich wohl sagen, denn auch arte bemüht sich seit Jahren, das sinkende Niveau seiner öffentlich-rechtlichen Geldgeber zu halten.

Nichts gegen Katharina Thalbach, die samt Töchterlein als der junge («Auch mir war Friedrich vom ersten Moment an wahnsinnig vertraut») den verknarzten und verharzten Sarkast gibt, früher habe ich sie sehr geschätzt, nun aber sie unterhält mir zu sehr in letzter Zeit, als ob sie Angst vorm künstlerischen Ableben hätte, nimmt mit, so erscheint sie mir, was sie eben mitnehmen kann, und sei es, weil gerade mal wieder jemand vom plötzlichen Alterstod dahingerafft wurde.♥ Gut, sie darf das, sie ist als Schauspielerin Unterhalterin und eben sterblich, aber sie verramscht mir zu sehr, hier die Geschichte, als ob Schiller aus dem jenseitigen Off medienwirksam das gemurmelt hätte, mit dem Hans-Reinhard Müller, der ehemalige Intendant der Münchner Kammerspiele, und auch der kurzweilige, zum Melodram tendierende Romanedichter Johannes Mario Simmel mir gegenüber das Schillernde als programmatisches Stilmittel unterfüttert hatten. Es mag seine Berechtigung haben, aber mir ist das dennoch alles zu sehr, als ob History-Guido, der mit dem auf der rechten Seite blinden Auge, Regie führen würde, mir geht dabei wesentliches verloren, was zur Verfälschung führen kann, zum Beispiel, daß fast ausschließlich von der Liebe die Rede ist, die bei dieser preißischen Zuwiderwurzn Fritz auch zu seinem Ende hin überwiegt. Mir menschelt's darin einfach zu arg, als daß es mir Bemerkenswertes zutage brächte

Da ist mir das Buch dann doch eher Kopfkino, mit dem man «sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen» braucht. Oder eben die Zeitung, wenn die auch oft daneben, also nahe an der Unterhaltungslektüre liegt, indem sie das Vage sich äußern läßt: «Nichts davon ist falsch. Aber mit all dem ist keine der Einsichten Mirabeaus widerlegt.» — Mut zur Lücke oder die Angst des Verlegers vor zu langen Textstrecken, die die Bildchenkucker verjagen oder die Schere im Kopf? Ein Satz nur, denke ich mir oft. Und das Bild ist dafür im Nu reduziert, online ohnehin und allemale. Was man, also der sogenannte Leser, der ja immer mehr zum Kucker wird, aber vermutlich nicht will. Nun gut, auch der olle Arno kann nicht alles gelesen haben; er ist ein bißchen entschuldigt, zumal er viel Historisches liefert. Aber der Autor der letzten (mit Fragezeichen, denn bei arte steht irgendwo etwas von einem Buch zum Film) Fritz-Biographie erzählte mir beispielsweise, Mirabeau habe trotz der geradezu abwertenden und geringschätzigen Äußerungen dieses Misanthrops von Preußien bis zum Ende hin diesen kleinen großen Vor-Napoleon (das war jetzt geklittert, ist aber wahr, auf meiner Realitätenbühne) überaus geschätzt und ihn überwiegend freundlich bis gar liebevoll beschrieben.

À pro pos Mirabeau: Wer weiß schon noch, das der auch ein herausragender, heute müßte man sagen: Soft-Pornograph war? Womit ich wieder bei der unterhaltenden Geschichte wäre, bei meiner frühmorgendlichen Lektüre über die Freiheit, also die 68er: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr.

Irgendwo hatte ich gelesen oder gehört, der als Friedrich vorgesehene Darsteller sei plötzlich verschieden, worauf sie die Titelrolle übernommen habe. Aber davon ist nichts mehr zu finden. Vermutlich hat's mir mal wieder traumatisch die Wirklichkeit verdreht.
 
Mo, 16.01.2012 |  link | (1935) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Mediales



 

Blaßbläulicher Frieden.

Im Bahnhof Zoo befand sich ein Tabakwarenladen. Dort wollte er sich eindecken für seine im vergangenen Urlaub am Atlantik gemachte Entdeckung. Zu einem ordentlichen Schluck Sandwein, den er zu Zeiten sportlicher Abwehrtätigkeit bei den Preußen auch nicht kannte, gehörte die entsprechende Würze. Den gab es zwar nicht unter dem Himmel von Molle und Korn, aber immerhin diesen Aspekt der Erinnerung. Sie befand sich in blauer Packung, und die, das wußte er, lag dort parat. In den Automaten gab es das Äquivalent lediglich in der roten eines deutschen Herstellers. Als er seine Bestellung an den Verkäufer weitergeben wollte, sah er in in einer Vitrine eine blaßbläuliche Schachtel mit den enorm starken Zigaretten, von denen er zwei oder drei auf Saint-Martin-de-Ré geraucht hatte, wohin sie gereist waren, weil er der ständigen Aufenthalte an dänischen Stränden überdrüssig geworden war wie überhaupt Skandinavien, das er für Heimat hielt, weil es ein Großteil seines Lebens Anlaufstation war. Ein Einheimischer hatte sie ihm angeboten, der bewunderende Blicke auf seinen alten Volvo warf und mit dem er deshalb ins Gespräch kam. Papier maïs, daran wollte er sich geschmacklich und in seiner Lunge erinnern. Auch an diese Art Heimat könnte er sich gewöhnen. Rotwein und Zigaretten schwer wie Asphalt. Nur nichts Gesundes mehr und Ordentliches wie alles hinter ihm. Er würde sich allerdings zunächst mit Aschinger begnügen müssen. Dort saß so ziemlich alles herum, was in der Haupstadt, die keine mehr war, sondern eine von den Bonner US-Mächten notversorgte Insel Wehrflüchtiger und Restschlesier, als Gammler, Penner und sonstige Verwahrloste bezeichnet wurde, und verschlang korbweise winzige Brötchen, die es kostenlos zur Erbsensuppe gab. Dort paßte er als ebenso haltlos Gewordener gut hin.

Einer dieser Verwahrlosten überwiegend seines Alters sah die Packung mit den gelblichen, leicht ins rötliche gehenden Papier maïs. Mit aufgerissenen Augen erstarrte er sie und schnorrte ihn sogleich an und erzählte dabei, man habe ihm im Knast nichts zu rauchen gegeben und davon, daß er diese wunderbaren Röllchen erst kürzlich in Frankreich kennen- und schätzengelernt habe. Das sei dann doch ein anderer Stoff als der von diesen ganzen HaBe-Männchen hier in diesem armseligen Laubenpieperkaff, an dessen Rändern die Welt am Kommunismus zerbreche. Er wollte ihn fragen, ob er sich so gut auskenne in diesem politischen System und sinnierte darüber, daß es zumindest ansatzweise woanders doch auch funktioniere, beispielsweise bei den Kibbuzim, denen er, so lange war das noch gar nicht her, beinahe einmal angehört hätte, wäre nicht ein Krieg dazwischengekommen, dem er vorab von der Fahne gegangen war, worüber seine Frau dann doch recht froh war, ihn nicht auf seiner Suche nach Heimat begleiten zu müssen. Doch dann unterließ er es, weil es vermutlich zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre, die hatte er gerade hinter und auch vor sich hatte, denn er wollte zurückfahren zu seiner Frau, nicht, um mit ihr weiterhin über den Sinn des Lebens in geordneter Ehe und mit ordentlichen Kindern und einer sich auf diese Weise abzeichnenden Zukunft zu diskutieren, sondern eher, um ihr zu verdeutlichen, weshalb er sie verlassen und an den Atlantik ziehen und nichts anderes mehr tun würde als Wein zu trinken aus dem Sand dieser anderen Insel als der hiesigen mit dem Strand unter Pflaster und sich mit vier Packungen Papier maïs täglich eine Startbahn in die Freiheit zu asphaltieren.

Zwar gesättigt, aber auch ein wenig gereizt von den ständigen Versuchen weiterer, möglicherweise kommunistisch motivierter Maßnahmen, ihn ans Gemeinwohl zu erinnern, fast eine Packung hatten sie ihm in der kurzen Zeit weggeschnorrt, nahm er sich noch eines dieser kostenlosen, etwa fünfmarkstückgroßen Brötchen als Wegzehrung und machte sich auf zu seinem Auto, das er in der Sackstraße am Hinterausgang des Bahnhofs abgestellt hatte. Bereits auf der Hardenbergstraße kehrte er sie noch einmal und fuhr wieder in die andere Richtung, zur Gedächtniskirche hin. Ihm war eingefallen, daß der Schalter der Fluggesellschaften der Alliierten auch sonntags geöffnet hatte. Dort wollte er sich erkundigen, ob es eine Möglichkeit des Direktflugs an den Atlantik gebe, vielleicht nach Bordeaux oder gar nach La Rochelle, von wo aus man mit der Fähre zur Île de Ré übersetzen konnte. Das Auto würde er seiner dann gewesenen Gattin überlassen, wie überhaupt all das Mobiliar und die vielen Handtücher und Besteckkästen, die man ihnen beiden zur Hochzeit geschenkt hatte. Er würde es nicht mehr benötigen in der Freiheit. Der Zufall wollte es, nun, es war Sonntag, daß er gegenüber dem Euro-Center einen Parkplatz fand. Es gab keine Direktverbindung, Air France brächte ihn in jedem Fall direkt nach Paris, und von dort aus habe er die Möglichkeit, mit einer der vielen regionalen französischen Fluglinien nach Bordeaux, aber auch zu dem kleinen Flughafen von La Rochelle zu gelangen. Er begann, darüber nachzudenken, seiner Noch-Ehefrau das Auto doch nicht zu überlassen, fuhr sie doch ohnehin nicht sonderlich gerne, gleichwohl meist dann, wenn er mit darin saß. Zunächst über kleinere Straßen und dann über die Joachimsthaler Straße fuhr er wieder zurück, hinein in die Hardenbergstraße, nahm im Café am Steinplatz, wo er werktags, während seine Frau ihrer Tätigkeit bei einem US-amerikanischen Filmverleih in Dahlem nachging, was er ihr regelmäßig vorhielt, des öfteren mit Kommilitonen und anderen streitbaren Geistern zusammentraf, wenn er selbst auch nicht an der technischen und auch nicht an der ebenfalls in der Nähe befindlichen Hochschule der Künste, sondern an der anderen, sich frei nennenden Universität eingeschrieben war, noch einen Pernod, um den Gedanken an seine Flucht in den Westen in sich wachzuhalten.

Am Ernst-Reuter-Platz überkam ihn erneut der Gedanke an die Freiheit. Wie fremdgesteuert schlug er das Lenkrad ein, wie vor etwa zwei Stunden am Spandauer Bahnhof nach links, hier nun nach rechts, in Richtung Osten, er fuhr hinein in die Straße des 17. Juni. Dieser Pariser Straßen ähnelnde Boulevard ließ ihn dann doch wieder an die Möglichkeit eines Fluges denken, bei dem er in jedem Fall in Paris Station machen müßte, dort, von wo aus aus die Revolution die Menschenrechte in die Welt hinaustrug. Er kam ins Grübeln über die Idee der Gleichheit, der Brüderlichkeit, ja, der Freiheit. So rollte er dahin, querte Einsteins Ufer, den Friedensengel oder auch die Siegessäule oder auch den großen Stern preußischer oder deutscher Kriege, allen voran die Schlacht von Sedan, mit der er sich quasi mitten in Frankreich befand. Kurz nach dem Kreisel mußte er anhalten. Ein Stau, am Sonntag nachmittag? Das kam ihm ungewöhnlich, gar seltsam vor. Es dauerte lange. Nach einer Weile wollte er, wie andere Autofahrer auch, den Mittelstreifen überqueren und in westlicher Richtung zurückfahren. Doch auch das war mit einem Mal nicht mehr möglich, da sich innerhalb kürzester Zeit auch dort die Autos stauten. Lange stand er, irgendwann stellte er den Motor ab, glücklicherweise war es trotz fortschreitender Stunde nicht kühl oder gar kalt, denn er hatte schließlich nicht einmal eine Jacke übergezogen und an den Füßen lediglich seine Espandrilles von der sonnigen Weininsel. Nach bestimmt noch einmal zwei Stunden sah er die Ursache des unfreiwilligen Halts. Gemächlichen Schrittes näherten sich Uniformierte, die bei näherem Hinsehen als Polizisten zu erkennen waren. Seine schlichten Gedanken an Freiheit wurden von der der Rote-Armee-Fraktion unterbrochen, nach der die Hüter von Freiheit und Ordnung fahndeten. Als sie bei ihm angekommen waren, verlangten sie höflich, aber bestimmt nach seinen Ausweispapieren, die des Fahrzeugs schien sie nicht zu interessieren. Es wäre aber auch egal gewesen, denn er hatte weder das eine noch das andere dabei. Er wollte schließlich lediglich Zigaretten holen. Dann müsse man ihn doch dringlichst bitten, zur gesicherten Feststellung seiner Personalien mitzukommen zum Mannschaftsbus, der fünfhundert Meter weiter in Richtung Brandenburger Tor stehe. Dort sehe man weiter. Das Auto sei kein Hinderungsgrund, hier komme ohnehin niemand weg, bis die Aufklärung absolviert sei.


Jetzt habe ich es doch nicht geschafft, in zwei Fortsetzungen an den irrlichternden Grün heranzuführen. Ständig führt mich etwas vom Weg ab. Wahrscheinlich ist Frau Braggelmann schuld, weil sie permanent etwas über Berlin von mir wissen wollte, da sie nämlich morgen nach Potsdam fährt. Ich muß das Wochenend-Supplement eingestehen. Ist aber auch so lang genug.

Inselleben • ErzählungDer erste Teil

 
Do, 12.01.2012 |  link | (6956) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inselleben



 







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