Der Name ist geändert,

«aber die Geschichte handelt von dir. Mutato nomine/de te fabula narratur.
Horaz, Sermones 1,1,69 f.

«Wir haben genug über die Wahrheit diskutiert. Wir wollen jetzt ehrlich werden.» So zitiert Terra Dieter Hildebrandt. Das läßt mich mal wieder ein wenig ab- und ausschweifen.

Die Fabuliererin Felicitas Hoppe, deren «fiktive», welchen Wert wir dem auch immer beimessen wollen, Autobiographie kürzlich erschienen ist und zu der sie sich in Cicero ausführlich geäußert hat, lieferte zur Wahrheit eine bemerkenswerte Definition. Sinngemäß hat sie in der Sendung Lesezeichen des Bayerischen Fernsehens gesagt, jedenfalls interpretiere ich das so: Man finde sie allein in sich selbst, oder auch: sie sei eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Des weiteren hat sie Armin Kratzert unter anderem ins Mikrophon gesprochen:
«Ich habe herausgefunden, dass diese Felicitas Hoppe, der ich eine neue Geschichte gegeben hatte, eine andere Kindheit, als sie realiter hatte, die ich auf Reisen geschickt habe, die sie tatsächlich nie gemacht hat, dass die Felicitas Hoppe de facto dieselbe geblieben ist. Ich habe sie nach Kanada, nach Australien geschickt und stelle fest: Egal in welche Kulisse ich diese Person stelle, sie bleibt Felicitas Hoppe! Und das ist eine interessante Erfahrung, denn das, was wir faktisch für so wichtig halten, ist nicht das, was die Essenz unserer Person ausmacht. Also nicht, wann wir geboren sind, wo wir geboren sind [...], sondern wer wir sind und wie wir uns in dieser Umgebung verhalten.»
Die Wahrheit wird von vielen, ich nehme an, sie dürften sich in der Überzahl befinden, mit der Wirklichkeit verwechselt. Jeder ist, da ziehe ich mal die Er- beziehungsweise das Bekenntis von Arthur Rimbaud als Ausgangsbasis heran: Je est un autre, mindestens sein Alter Ego, häufig sausen mehrere Iche nicht nur in picabiascher Manier durch die deshalb runden Köpfe. Manch ein forscher und/oder forschender, mehr oder minder gescheiter Kopf hat in letzter Zeit herausgefunden, ob persönlich oder angelesen, wer will das schon noch unterscheiden (mein unentschlossener Kommentar zu copy & paste), daß das Individuum (als Produkt der Moderne) oftmals lediglich vermutet, es sei ein solches. Viele Menschen lebten ein Leben, von dem sie sich wünschten, es sei das ihre. Dabei spiele die in letzter Zeit geradezu dramatisch überhöhte Werbewelt eine nicht unhebliche Rolle, und eine solche sei schließlich dazu da, um sie wechseln, zumindest die Richtung ändern zu können. Felicitas Hoppe macht sie sich ironisch zunutze. Im auf der Fischer-Verlagsseite abgedruckten Interview vom Januar 2012 stellt sie fest:
«Hoppe gehört im Grunde ihres Herzens und ihrem ganzen Wesen nach natürlich in die Werbung. Denken Sie nur an ihre Agentur für alles. Sie weiß einfach, worauf es im Leben ankommt, vor allem dann, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Ihre Lieblingsdevise lautet: ‹Wer zögert, verliert.› Und last but not least: ‹KRÖNE DICH SELBST – SONST KRÖNT DICH KEINER!›»
Aber das ist eben nur die halbe oder ein Teil der Wahrheit. Der französische Psycho-analytiker und Essayist Pierre Bayard, und auch er ist wahrlich nicht der erste, der das herausgefunden hat, ließ uns in Comment parler des lieux où l'on n'a pas été ? wissen, in der eigenen, also durchaus auch der gemieteten Hütte sei es doch noch am angenehmsten, er wies auf Immanuel Kant hin, der sein Quartier in Калининград nie verlassen und dennoch die Welt bereist hat und in etwa, dennoch geradezu manifesthielt: Willst du dich, also quasi den Kosmos kennenlernen, dann bleibe am besten zuhause. Marco Polo kommt dann noch vorbei, an Karl May führt ohnehin jeder Weg ins wilde Absurdistan, Bayard meint, der Sachse habe sich Amerika so hingeschrieben, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Hinter diese weitaus bequemere Art des Reisens zu kommen, dafür habe ich viele an- und nachhaltige Ausflüge benötigt, um eines Tages unschlüssig meinen zu können, es sei genug. Bosch meinte daraufhin, ich sei auf dem richtigen Weg: «Irgendwann wird auch der Letzte einsehen, dass diese ewige Reiserei zu nichts führt.»

Doch diese Art zu reisen, früher nannte man das «mit dem Finger auf der Landkarte», ist es längst nicht alleine. Bayard hat sich 2007 auch zur Literatur geäußert: Comment parler des livres que l'on n'a pas lus ? (Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat.). Auch da war Bayard bei weitem nicht der Erste. Anleitungen für Bildungsschwindeleien haben lange vor ihm und auch vor dem netten Netz der schnellen Information andere verfaßt.

Auf diese Weise lernt man zwar nicht die fabelhafte Welt der Literatur kennen, erfährt jedoch ein wenig mehr über sich selbst, zum Beispiel, wie eingeschränkt man lebt, wenn man nicht einmal bereit ist, sich von anderen auf die Reise schicken zu lassen.
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001
Und immer mehr oder weniger Wahrheiten treten zutage. Die Gebrüder Grimm beispielsweise haben sich keineswegs, wie man seinen Kindern früher weismachen wollte oder mußte, weil das Wissen fehlte, auf Wanderschaft begeben, um die fabelhafte oder auch mythologische Welt des Erzählens, letzteres ohnehin eine Tautologie, zu ergehen, man hat ihnen die Märchen zugetragen, sie haben sie größtenteils zu sich nachhause bringen lassen. Viele dieser über lange Zeit hin überlieferten Geschichten kamen von weit her, nicht wenige aus Frankreich. Die Grimms haben sie ein wenig redigiert, also umgeschrieben, ihnen wie später einst May ein bißchen deutsche Moral hinzuparfumiert, wie heutzutage sozusagen die Liebe durch den Magen lebensmittelig synthetisiert, so daß sich daraus zwangsläufig andere Er- und Bekenntnisse ergaben.

Der Mensch an sich unterliegt ohnehin in weiten Teilen dem Glauben, also dem Geahnten, das haben ein paar Psychologen und einige weitere sie begleitende Randwissenschaftler herausgefunden, er habe das alles selbst erlebt, was er in die weite Welt hinausposaunt, aus welchem Grund auch immer. Und wenn dem nicht so sein sollte, dann will er's häufig unbedingt annähernd erleben. Immer häufiger müssen Schauspieler sich für ihre Rollen, Literaten sich für ihre Romanfiguren rechtfertigen oder öffentlich beteuern, sie hätten mit ihren Protagonisten nichts zu tun. Dem steht im Weg, was Jochen Gerz einmal auf die Frage nach der, der Zeitgeist gebietet es wohl, es so zu heißen, Authentizität entgegnete: Alles ist autobiographisch. Es ging dabei unter anderem um die Romantik, die akut auch aus anderem Licht betrachtet wird, also überwiegend alles andere als authentisch. Aus dieser Erkenntnis geht vermutlich auch eine in letzter Zeit häufiger aufkommende literarische Gattung hervor, die diese Vermischung von Selbsterlebtem und Fiktivem nicht nur ausdrücklich zuläßt, sondern auslebt, nenne ich's subjektive Authentizität. Ein Beispiel dafür liefert Marcy Goldberg.
«‹T.› könnte man als Thomas Imbachs Abrechnung mit sich selbst verstehen, als die Verkörperung einer Schattenseite aus Schwächen, Scheitern, Schuldgefühlen.»
Wahrheit ist demnach nicht, wie am Beispiel Fiktive Realität behauptet wird, gleich Authentizität. Mir scheint das überholt wie so vieles, mit dem zum Beispiel ich aufgewachsen bin. Sie kommt allenfalls der Wirklichkeit nahe. Um an die Wahrheit zu gelangen, muß man mittlerweile schon etwas tiefer in sich und sein Weltgefühl tauchen. Ich kann mich des Eindrucks nicht entziehen, Altmeister Nietzsche könnte in bisher ungeahntem Maße (post)modern, also neuzeitlich, gegenwärtig sein:
«Die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis, sie setzt mehr Kenntnisse und Fähigkeiten voraus als die Wahrheit.»

 
Mo, 09.04.2012 |  link | (2356) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Eine Laterne für Wikipedia

Als Autor war ich nicht von der ersten Stunde, aber Mitte des letzten Jahrzehnts ward ich von einem solchen gebeten worden, doch hin und wieder hineinzuschauen, was die Wikipedianer aus seinen Texten gemacht haben, und gegebenenfalls einzugreifen, er selbst sehe sich dazu nicht in der Lage, da sein Herzensarzt ihm als pensioniertem Fachmann des Versuchs nicht einmal mehr die Verliebtheit im literarischen Essay gestatte, also jede Aufregung strengstens untersagt habe. Das habe ich dann auch versucht, es jedoch bald wieder aufgegeben. Da fanden Debatten statt, die ich nicht nachvollziehen konnte und auch nicht wollte. Einmal noch tat ich's dann doch. Vor ein paar Monaten habe ich's doch nochmal gewagt, wie ich es Einemaria mitteilte. Lediglich den Präsidenten einer Kunstakademie wollte ich tilgen, da er ein solcher seit längerem nicht mehr war. Man hat's dreimal wieder rückgängig gemacht, aus mir nicht ersichtlichen Gründen, die ich erst gar nicht mehr erforschen mag. So habe ich mir vorgenommen, von der Encyclopedia Wikipediana zu lassen, auch wenn die akademische Welt sich ihr mittlerweile gar gerührt hingibt. Nun bin ich gestern auf einen Text gestoßen, der all das zusammenfaßt, das mir und anderen zugestoßen ist innerhalb dieses basisdemokratischen Nachschlagewerks des Wissens. Henner Reitmeier, kürzlich zugezogen ins hiesige Bloggerdorf und eine Bereicherung für die Freunde des nicht so knappen Wortes, hat es mit ordentlich Fleisch an den Knochen ausgeschrieben. Ich erlaube mir, einen Auszug zu veröffentlichen, diesen hier vor allem deshalb, da mich diese Scheinneutralität immer seltsam anleuchtete und nach meinem Kenntnisstand nie sonderliche Erwähnung fand:
Der Versuch, der menschlichen Subjektivität ein Schnippchen zu schlagen, gleicht Calinos Taktik, eine Laterne anzuzünden, damit er sehe, wie dunkel es in der Höhle sei. Man soll die eigenen Augen nicht benutzen, weil sie einen möglicherweise trügen könnten. Nur der objektive Autor hat das geeignete Instrument, die Wahrheit der dunklen Höhle zu ergründen. Er hat die wunderbare Laterne, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Aber die WP-Neutralitäts-Apostel lassen nicht darin locker, den Anschein von Objektivität zu erwecken, um ihn als die Objektivität selber ausgeben zu können. Denn darauf belaufen sich diese „sachlich-korrekten“ Artikel mit den 20 Schubladen und den 60 Fußnoten. In Wahrheit sind sie natürlich stets von Jemand geschrieben worden, und zwar von einem, der wie wir alle seine Befangenheit, seine Vorurteile, seine Launen und diese ganze Verworrenheit hat, in die ihn die 100 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Synapsen seines Gehirnes stürzen können, sofern es ihnen gerade gefällt. Und natürlich sind wir auch stets parteilich. Vor allem wünschen wir recht zu behalten, unser Gesicht zu wahren, in möglichst günstigem Licht dazustehen. Doch die wenigsten geben es zu. Und ähnlich wenige machen dann lieber aus der Not eine Tugend, indem sie gleich bewußt und erklärtermaßen parteilich sind. Für die erwähnten Kommunisten ist es selbstverständlich, einen Aufsichtsrat eine Ausbeuterbande zu nennen, es sei denn, sie haben in der Ex-PDS mit dem unaussprechlich anmaßenden Namen überlebt. Der WP-Kommissar dagegen möchte es sich weder mit dem Kommunisten noch mit dem Aufsichtsrat verderben. Er möchte es allen recht machen. In einer Welt, die vor Gegensätzen schreit und die bereits die halbe Milchstraße blutig gefärbt hat, möchte er die mindestens afrikagroße Insel der Wissensseligen schaffen — und natürlich auch verwalten.
Von den Umtrieben der POV-Jäger
Man lese den gesamten Artikel, er ist so lohnenswert wie manch anderes dieses Autors, der mit seinem «essayistischen Stil» teilweise direkt aus meinem Kopf zu schreiben scheint. Nachhaltig erheitert hat mich seine verbindende Argumentation zwischen Kommune und Hund:
Freilich kann ich es inzwischen, nach 15 Jahren der rotgrünen Restauration, irgendwo auch wieder verstehen. Die Kommunen kämpfen ums Überleben; sie haben wenig Zulauf; man sollte ihnen nicht auch noch die Hunde wegnehmen.

 
Sa, 07.04.2012 |  link | (2775) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 

Nach-Denkliches über Nachhaltigkeit

Darüber spricht zwar niemand mehr. Aber nachdem ich auf der Suche nach der besten Ruhestätte bei die Fische, quasi beim Probeabtauchen oder Unterwassersurfen, nunmal darauf gestoßen bin, nehme ich mir das Recht heraus, diesen Teil der nachdenklichen gleich nachhaltigen Antwort auf meine Entgegnung kundzutun, die angesichts heutiger Lebensgeschwindigkeit einer komisch wirkenden Geschichtsschreibung vielleicht im Sinne einer Halbwertzeit des Wissens zuzuordnen ist, jedoch zugleich die Frage zu stellen: Wer, verdammt nochmal, ist Gauck?

«Immerhin, Sie bringen eine Frage: Wie müsste denn ein akzeptabler Bundespräsident beschaffen sein? Nehmen wir sein absurdes Amt einmal als gegeben. Also, ich würde Loriot vorschlagen. Wäre er nicht so alt, würde ich diesen Vorschlag in aller Ernst-haftigkeit hier affichieren. Aber daran sieht man, wie ich mir so einen Bundespräsidenten vorstelle: Witzig, weise, unterhaltsam, integrativ. Oder nehmen Sie Dieter Hildebrandt. Es ist ja ein Show-Amt. Dafür benötigt man keinen Politiker. Es muss ein kluger, mittel-scharfer Kommentator seiner Zeit sein. Einer, der die Dinge auf den Begriff bringen kann und ihnen eine Pointe abnötigt. Kommen Sie mir jetzt nicht mit Harald Schmidt! — Ach, kommen Sie mir doch, mit wem Sie wollen! Nur Gauck sollte er um Himmels Willen nicht heissen.»
Die Nachdenkliche Krankenschwester am 28. Juni 2010. Dazu Felix Bartels sozusagen letzte Worte.
•••
Auslöser des gedanklich sprunghaften Abtauchens in die weite Welt des Untiefensurfens war das Ereignis mit dem gerademal Dreijährigen, der ohne jede Ängstlichkeit vom Einmeterbrett ins Wasser sprang.

Als stiller Teil eines großen Films geEiPhont und auch deshalb copyrightet by Maman du édition csc 2012

Ich, der ich mich im Wasser zuhause fühle wie das EiGelb im EiWeiß (all copyrightet by Apfelfeuilletons), habe mit vielleicht zwölf, eher etwas später erst schwimmen gelernt, und von einem solch wackeligen Brett zu hüpfen habe ich mich allenfalls zwei-, höchstens viermal getraut, aber auch nur, weil ich im Grunde ahnungsloser Frühreifling den Mädchen zeigen wollte, was ich für ein toller Hecht sei. Andererseits: Würde ein Hecht je von einem Brett in einen Dorfteich springen wie der Dotter in das Ei? Aber heutzutage ist ja so wunderlich viel anders als dieses damals, von dem zu schreiben quasi verboten ist, auch wenn man es selbst erlebt hat. Das bringt mich ständig irgendwie leicht ins verwirrte Grübeln darüber, ob man überhaupt noch eine Daseinsberechtigung hat als Übersechzigjähriger, Überfünfzigjähriger, Übervierzigjähriger, Überdreißigjähriger, Überzwanzigjähriger, Überzehnjähriger, bis zurück in die Gebärmutter der eigenen Mutter, vor allem, wenn der letzte Oralorgasmus weit hinter dem Horizont des damals liegt. Sinn-, verspätete Mittlebenskrise? Ist Essen doch der Sex des Alters? Aber vielleicht will ich mich lediglich davor drücken, weiter von der Liebe, von der auf dem flachen Land zu erzählen.
 
Do, 05.04.2012 |  link | (2822) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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