Geschmacksbildung aus dem fernen Blick Einer der beliebtesten Sportarten der Völker, und mir scheint, auch hier wollten die Deutschen den vordersten Platz anstreben, ist das Erstrangigsein. Und wer nicht als erster mit stolzgeschwellter oder vom Erfolgsdruck geblähter Brust das Siegesband durchtrennen darf, der schafft wenigstens Rangfolgen. Das mag irgendein sogenannter Contest sein, in dem Sangeskünstler auf höchstem musikalischen Niveau den Begriff der Avantgarde in völlig neuem Bedeutungsglanz erstrahlen lassen, auch die Beliebt-heitslisten der immerselben Politiker oder Welt- oder Geldmarktführer samt ihren angeschlossenen auf- und abwogenden Börsenplätzen befinden sich in Hochkonjunktur. Mittlerweile hat auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seinem in der Breite ausgetragenen oder auch dem allgemeinen Bedürfnis nach vereinfachter Benotung angepaßten Bildungsauftrag das Angebot der Hitparaden erweitert. Die Ranglisten reichen von den schönsten Hochadeligen, deren durch Säkularisation steuerlich dem Volk zugewiesenen Burgen und Schlösser, Gärten und Vorgärten, Seen und Teichen, bis hin zu den größten Schenkelklopfern und sonstigen unter Humor firmierenden Darbietungen. Nicht vergessen werden darf die Abteilung der besten Bock- oder Currywürste sowie die hervorragendsten Köche, die allesamt von allen bewertete Gourmetküchen betreiben. Präsentiert werden diese in spannungserzeugender Reihenfolge in ehern-ungeschriebener Gesetzgebung von unten nach oben, wer auch immer sie angeordnet haben mag. Begleitet werden diese Rankings von ungemein prominenten Prominenten, deren jeweils fachliche Kompetenz schon alleine dadurch erwiesen sein dürfte, daß sie wie jeder Normalsterbliche am allgemeinen Leben teilnehmen und im Bioladen einkaufen. Von denen werden dann allgemeinbildende Weisheiten ausgesprochen, zum Beispiel die eines bekannten Fernsehkochs, der zuständig ist für die Anhebung des Niveaus oder auch der Verbesserung des allgemeinen Geschmacks auf einen der oberen Plätze des olympischen Treppchens, also dessen Verfeinerung wenigstens beim Zuschauen der Zubereitung. Er verstehe das Getöse um den Kaffee nicht, meinte er, als er mir während der nächtlichen Suche nach einem mich in den Schlaf plappernden Sender zugeschaltet wurde. Schließlich sei Kaffee in etwa gleich Kaffee. Bleibe ich bei diesem gemacksbildenden Beispiel, das mich sofort schlaflos machte, da es zu meinen Themen des Überlebens gehört. Kaffee, meinte der mir trotz aller bisweilen wirren oder auch dahergeplapperten Inkompetenz keineswegs unsympathische junge Mann aus der Hansestadt. Dessen zugestandenermaßen nicht übermäßig lauter Kommentar kam zur Rede von diesem kalten Kaffee, der in erhitzter Form der Norddeutschen, so die Zwischenmoderation dieser Ranglistensendung, «liebstes Getränk» sei. Das birgt insofern wenig Überraschung, als seine und mittlerweile auch meine Landsleute schließlich fast nie etwas anderes taten als, neben Pfeffer in Säcken, damit zu handeln. Doch mir wollte es in den Anfängen meiner Zeit im sogenannten Tor zur Welt nur äußerst schwer gelingen, einen meinem nicht zuletzt von jahrzehntelangen Reisen geprägten Gusto und damit meinen Bedürfnissen entsprechenden Kaffee zu erhalten. Jedenfalls nicht in öffentlichen Bedürfnisanstalten dieser Art. Anfang der neunziger Jahre irrte ich noch orientierungslos durch die Kaffee- und Hansemetropole, wo in den verbliebenen Resten der Speicherstadt immer noch einige Tonnen dieser Bohnen gelagert wurden. Bis ich auf der Suche nach meinem Suchtmittel eines Tages ins Schanzenviertel abgetrieben wurde, wo ein ehemaliger Lehrer aus Süditalien im Randbereich eines Küchengerätehändlers eine Espressobar eröffnet hatte, um den (Sehn-)Süchten Gleichgeschmacklicher abzuhelfen. Bis dahin gab es so gut wie keinen Ort an diesem Unort des Kaffeegenusses. Sogar für meinen Binnenhaushalt mußte ich mir meine beste Bohne von weither liefern lassen. Mittlerweile bekomme ich ihn nahezu allüberall, das Chancenviertel gehört gar zu den Hauptquartieren derer, denen es erfolgreich gelungen ist, den «guten alten Filterkaffee» zu vertreiben, dessen Verlust der junge Küchenmeister beklagt, der offenbar von eher muckefuckgeprägten Brustduftdrüsen gesäugt wurde. Beklagen darf man allenfalls die Hitlisten der besten Latte-Macchiato-Klientel-Plätze im Chancenviertel Kreuzberg, nicht aber die Tatsache, daß nach allzu langer Zeit endlich einem kläglichen Mißstand abgeholfen wurde. Also: Ich beklage weniger den Verlust dieser Plörre, die mir aufgrund seiner Herkunft, vor allem aber Röstweise nichts als Sodbrennen bescherte. Ich beklage, daß einer wie dieser in der Rangliste ganz oben geführte Geschmackskreateure, einer, der die Vielfalt preist, eine solch arge Schlichtheit rekurriert. Da brechen sich Lebensgewohnheiten Bahn, die sich altenheimwohlig erinnernden Zuschauern von Burgen und Schlössern, Gärten und Vorgärten, Seen und Teichen zuzuordnen sind. Aber Omas Kaffee hat wie alles Alte Hochkonjunktur des Populären. War früher Lachs und Hering Armeleuteessen, gehört es heute zur gehobenen Küche. Das mag seine Berechtigung haben, aber darf der durch Reisen mit dem Finger auf der Landkarte via Internet und Fernsehen geleitetete Mensch derart in die Irre geführt werden? Das war kaum die Idee gewesen, als beispielsweise Slow Food das Tor der Verkündung zur Besinnung auf das Althergebrachte öffnete. Es ging Anfang der Achtziger um nichts anderes als um die Sicherung von Lebensqualität durch Essen und Trinken. Anstatt wie bei allem anderen froh zu sein über die Öffnung von Angeboten, werden mit den Mitteln der digitalen Neuzeit Sehnsüchte nach den sechziger und fünfziger Jahren hochgeheizt wie mit den Restholzfunden in den verbliebenen Beständen des Waldes dieser Zeit. Das können oder dürfen offensichtlich nur diejenigen, die diese Zeit des Darbens oder der Vielfaltarmut nicht erlebt haben. Es mag auch daran liegen, daß diesem ganzen offiziösen filigranen Küchenoptimismus nur deshalb so gehuldigt wird, weil die Allgemeinplätze sich zusehends deutlich nach unten nivellieren. Nicht einmal Spiegeleier mit Bratkartoffeln kriegen sie hin, sie kaufen auch das Banalste, am einfachsten Herzustellende nach dem Prinzip des Längerfrischen und angereichert mit synthetischen Aromen aus den Laboratorien des Lebensmittelmolochs Industrie. Jetzt fehlt mir zum nächtlichen Wachwerden eigentlich nur noch die Fernsehhitparade «mein liebster Billigheimer». Aber wahrscheinlich gibt's diesen Aufreger längst, moderiert von einem, der sich einst als Mâitre der Nouvelle Cuisine einen großen Namen machte und nun auf Almosen aus der Werbung angewiesen ist. Ich sollte nicht nur so tun, als ob ich gemütlich im Schaukelstuhl tanzte, sondern endlich tatsächlich gelassener werden. Diesem Schaum vorm Maul folgt vermutlich dennoch etwas nach. Macchiato heißt schließlich Kaffee mit einem Schuß Milch und nicht umgekehrt. Aber selbst der Gedanke an ein Tröpfchen erzeugt bei mir Geschmacksverwirrung.
Nachhut der Vorhut Mit Henner Reitmeier korrespondiere ich mittlerweile ein wenig. Er hat auch einiges zu bieten. Zuletzt kam die Musik zur Schreibe. Er schrieb mir, bei den Vorlieben täte sich zwischen ihm und mir offensichtlich ein Graben auf. Ich schütte ihn ein bißchen zu, indem ich kundtue: Ich habe in jungen Jahren beinahe alles gehört. Teilweise tue ich das auch heute noch, solange es kein Pop oder sogenannter Rock oder ebensogenannte Volksmusik ist. Ich habe eher hier oder dort zugehört beziehungsweise lausche dem auch weiterhin und schalte mich auch gerne dort zu, wobei mir im Radio France musique die breiteste Palette bietet. Auch Reitmeiers musikalische Äußerungen haben etwas, bei dem ich keinen Gehörschaden erleide, wenn es meine Welt auch nicht unbedingt ist, erfuhr doch das, nenne ich Unwissender es mal so, Bardische bei mir selbst zu seinen Hoch-Zeiten nur marginale Zuhörbestimmung. Ich war dem breiteren Verständnis von Musik bereits relativ früh davongelaufen. Auslöser zur Grabenbildung dürfte allerdings mein ausgewiesenes Bekenntis zum Free Jazz gewesen sein, wobei ich die alles auslösende Encyclopedia Wikipediana allem voran in diesem Abschnitt lobend erwähnen möchte: «Der Begriff selbst kann zu Missverständnissen führen, da eine Freiheit in Bezug auf die herkömmlichen Spielhaltungen des Jazz nur bedingt genutzt wird und es neben einer völligen Freiheit in der Form (Free Form Jazz) durchaus Improvisationen gibt, die auf Kompositionen und kompositions-ähnlichen Absprachen über Strukturen beruhen.»Es mag ohnehin die Nennung des Jazz Composer's Orchestra gewesen sein, bei der Reitmeier sich möglicherweise an einem Reizwort im Wikipedia-Eintrag festgebissen hat, das ihn offensichtlich zu dieser Retoure veranlaßte: «Für mich macht der Avantgardist zumindest das Folgende. 1. sitzt er der Ideologie des Fortschritts auf. 2. unterliegt er dem Neuigkeitswahn. 3. macht er es sich bequem, ist es doch leichter, eine Form zu zerstören als eine zu schaffen. Damit ist er, nebenbei gesagt, der ideale Mann für den ‹innovations›geilen Kapitalismus. Sie werden vielleicht einwenden, das sei sehr pauschal gesagt. Recht haben Sie.»Mein möglicherweise nach hinten gerichteter tunneliger Blick: Mit der Avantgarde habe ich's eher weniger; der Wikipedia-Text über das Jazz Composer's Orchestra hebt sie in quasi historischer Sichtweise notwendigerweise ein wenig hervor, da die Vorhut in den US-amerikanisch bedudelten frühen Sechzigern der Bundesrepublik kampfgesinnter war oder schlicht zeitgenössisch voranschritt. Auch diese swinging Sixties waren noch eine ganze Weile eine neuerliche Zeit des Aufbruchs in den Fortschritt nach dem zweiten Weltkrieg, alles schrie nach Erneuerung. Zwar war es keine kunst-, aber durchaus eine kulturhistorische Zäsur, mit der nach dem großen Aufräumen das Umdenken eingestimmt werden sollte. Nicht nur in Deutschland war vieles, in den meisten Städten nahezu alles zerstört. Es mußte nach wie vor neu gebildet, neu (auf)gebaut werden. Da Henner Reitmeier in anderem Zusammenhang auf die Bemerkung von Mies van der Rohe hingewiesen hat, weniger sei mehr, komme ich auf die Architektur zurück. Darin machten sich nämlich manche das in den Hintergrund gebombte Neue zunutze, denen es nicht wirklich um Erneuerung ging, sondern die lediglich das wenig bekannte Neualte aus den Trümmern gruben und es dabei je nach Gewinnorientierung oder auch Gusto lediglich umbauten oder besser: die Idee der Teilevorfertigung ausschlachteten. Für die daran ohnehin weniger Interessierten mit ihren obendrein alltäglicheren Sorgen war das, wie auch immer es angewandt wurde, in der Regel neu, zu neu, auch wenn die Wurzeln des Neuen Bauens bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Im Zusammenhang mit der Architektur habe ich das hier skizziert und auch dort geschildert; es mag für andere Disziplinen gleichermaßen gelten. Ich sehe diese neue Vorhut allerdings ohnehin allenfalls stürmisch die rund hundert Jahre zurückliegende Vergangenheit berühren, etwa im in den Anfängen des 20. Jahrhunderts begründeten Futurismus, der eine neue Kultur schaffen wollte. In ihm wurde die Geschwindigkeit, «die Liebe zur Gefahr» besungen, die Vertrautheit mit «Energie und Verwegenheit», der Krieg ward, hier etwas flapsig neben der Spur, da einst mit dem Herrn ein anderer gemeint war, aber eben im zunehmend abgleitenden Wortsinn verherrlicht als «Mittel der Hygiene». Ein «Kunstwerk ohne aggressiven Charakter» durfte schließlich «kein Meisterwerk sein». Der italienische Futurismus rief das anarchistische Element aus, doch das hierarchische behielt letztendlich die Oberhand, das männliche obendrein, die «Verachtung des Weibes» mag dafür als Beispiel gelten. Es mündete recht bald in Kriegstreiberei, nicht wenige, auch deutsche Avantgardisten, zogen mit Hurra-Gebrüll in den ersten Weltkrieg, allen voran gegen die Franzosen, dafür wurde lange eine Stimmung gemacht, die in ihrer Propaganda größtenteils in den allmachtsbesoffenen napoleonischen Eroberungsfeldzügen wurzelte. Manches hinterließ deutliche Spuren im Faschismus, beispielsweise durch die Tatsache, daß Marinetti die Nähe zu Mussolini gesucht und gefunden hatte. Und es dürfte ja hinlänglich bekannt sein, wer hier letzten Endes mit wem paktiert hat. Das wiederauflebende allgemeine Hervorheben des Begriffs mag mit der neuerlichen Manie um die Geschwindigkeit zu tun haben, die uns als Fortschritt suggeriert wird. Es dürfte jedoch auch mit der allgemeinen Tendenz zu tun haben, daß eine arrière-garde, also die Nachhut, mit ihrem Halb- oder Viertel- oder vor lauter rasch reingezogener Information bald gar nichts mehr Wissen den Begriff in den Vordergrund rückt. Dazu geört gleichermaßen die Kreativität, gegen die an sich nichts einzuwenden wäre, würde sie nicht ständig gerade von denen mißbraucht, denen sie abzusprechen ich geneigt bin. Sie verwenden sie in einem Atemzug mit Inhalten, denglish oder im Germslang verbogen, indem sie von content schreiben oder reden. Diese Sinnentleerung von Begriffen nennen sie erkundend Vorausgehen. Und die Armee der nach Neuem als Beute Gierigen trottet hinterher. Dabei ist Avantgarde nun wirklich ein alter, militärischer Hut, der ausgedient und schlapp an einer alten sprachlichen Fahne hängt, von der viele, vor allem jüngere oder jungseinwollende Menschen offenbar meinen, sie müßten sie aus dem Fundus holen und aufbügeln, obwohl sie ansonsten die allerneuesten Fähnlein in den Wind hängen. Bereits vor dreißig Jahren habe ich Avantgarde mit größter Zurückhaltung eingesetzt. Mir geht es nicht einmal um einen Anflug dessen, was bei dieser anderen Musik das Vorausschreiten oder den Fortschritt assoziieren könnte. Es ist mir nichts weiter als, eben, eine andere Musik. Und so, wie ich sie kennengelernt habe, zerstört sie auch nicht unbedingt alte Formen, sondern läßt häufig in ihnen Erweiterungen, neue Hörperspektiven entstehen. Viele der scheinbar chaotischen Freejazzer, die ich kennengelernt habe, das nebenbei, haben ohnehin klassische Ausbildungswege beschritten, sowohl an ihren Instrumenten als auch in Kompositionslehre et cetera. Das trifft auch auf die meisten Kreateure der Neuen Musik zu. Deren schlicht zu wenig eingängige Töne wollte ich zunächst auch überhaupt nicht lauschen, lange Zeit habe ich mich gar gewehrt, mir das intensiv anzuhören, gechweige denn in Konzerte dieser Art zu gehen. Dann hat es nach langen Gesprächen der Münchner Komponist Cornelius Hirsch tatsächlich geschafft, mich Anfang der neunziger Jahre doch dazu zu bewegen. Mir war während der darauf folgenden Musikdarbietung dann zwar klar, daß es auch weiterhin nicht die Richtung sein wird, die ich zu gehen gedenke, aber sie hat mich immerhin dazu inspiriert, wenigstens genauer hinzuhören und sie nicht mehr grundsätzlich abzulehnen. Hin und wieder habe ich dann auch neuerlich ein Konzert besucht, auch Opern zeitgenössischer Komponisten. Auch fällt es mir mittlerweile wesentlich leichter, Arnold Schönberg zuzuhören. Aber der ist der ohnehin längst ein Klassiker. Der Free Jazz, zu dem ich mich bereits in jüngeren Jahren, etwa im Alter Anfang bis Mitte zwanzig, hingezogen fühlte, möglicherweise deshalb, da ich mich von den musikalischen Zwängen des Elternhauses, genauer den dominanten mütterlichen mit der griechischen Sirene Callas und ihren Kreischsägengesängen bis Signore Carusos Geschmelze oder Monsieur Tchaïkovskis dauer-dudelndem Concerto pour piano bémol mineur numéro un, zu befreien versuchte, hat mir tatsächlich einiges an Freiheit gegeben. Bis heute höre ich Alexander von Schlippenbach sehr gerne zu, wennauch am liebsten die früheren Stücke, wohl in Erinnerung an die (mich) befreiende Maltraitierung (s)eines Konzertfügels, ebenso das Jazz Composer's Orchestra, bei dem es mir bisweilen so geht wie Herbert Köhler in dessen Platonischer Musik. Aber daß mir dabei Avantgarde destruktiv im Hirn herumsaust, das läßt sich nun wirklich nicht behaupten. Für jemanden, der das seit Jahrzehnten hört, klingt das ohnehin wie Klassik, wie erfrischende Musik, die irgendwann von alter oder überhaupt Altem ausgelöst wurde. Allenfalls drängt sie mich, genauer zuzuhören, was ich bei anderen Tönen zu vernachlässigen neige. Ideologie des Fortschritts oder Neuigkeitswahn ist dabei alles andere als treibende Kraft. Das mag mir anhand anderer, auch hier beschriebener Vorstellungen von Leben durchaus abgenommen werden.
Der Name ist geändert, «aber die Geschichte handelt von dir. Mutato nomine/de te fabula narratur. Horaz, Sermones 1,1,69 f. «Wir haben genug über die Wahrheit diskutiert. Wir wollen jetzt ehrlich werden.» So zitiert Terra Dieter Hildebrandt. Das läßt mich mal wieder ein wenig ab- und ausschweifen. Die Fabuliererin Felicitas Hoppe, deren «fiktive», welchen Wert wir dem auch immer beimessen wollen, Autobiographie kürzlich erschienen ist und zu der sie sich in Cicero ausführlich geäußert hat, lieferte zur Wahrheit eine bemerkenswerte Definition. Sinngemäß hat sie in der Sendung Lesezeichen des Bayerischen Fernsehens gesagt, jedenfalls interpretiere ich das so: Man finde sie allein in sich selbst, oder auch: sie sei eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Des weiteren hat sie Armin Kratzert unter anderem ins Mikrophon gesprochen: «Ich habe herausgefunden, dass diese Felicitas Hoppe, der ich eine neue Geschichte gegeben hatte, eine andere Kindheit, als sie realiter hatte, die ich auf Reisen geschickt habe, die sie tatsächlich nie gemacht hat, dass die Felicitas Hoppe de facto dieselbe geblieben ist. Ich habe sie nach Kanada, nach Australien geschickt und stelle fest: Egal in welche Kulisse ich diese Person stelle, sie bleibt Felicitas Hoppe! Und das ist eine interessante Erfahrung, denn das, was wir faktisch für so wichtig halten, ist nicht das, was die Essenz unserer Person ausmacht. Also nicht, wann wir geboren sind, wo wir geboren sind [...], sondern wer wir sind und wie wir uns in dieser Umgebung verhalten.»Die Wahrheit wird von vielen, ich nehme an, sie dürften sich in der Überzahl befinden, mit der Wirklichkeit verwechselt. Jeder ist, da ziehe ich mal die Er- beziehungsweise das Bekenntis von Arthur Rimbaud als Ausgangsbasis heran: Je est un autre, mindestens sein Alter Ego, häufig sausen mehrere Iche nicht nur in picabiascher Manier durch die deshalb runden Köpfe. Manch ein forscher und/oder forschender, mehr oder minder gescheiter Kopf hat in letzter Zeit herausgefunden, ob persönlich oder angelesen, wer will das schon noch unterscheiden (mein unentschlossener Kommentar zu copy & paste), daß das Individuum (als Produkt der Moderne) oftmals lediglich vermutet, es sei ein solches. Viele Menschen lebten ein Leben, von dem sie sich wünschten, es sei das ihre. Dabei spiele die in letzter Zeit geradezu dramatisch überhöhte Werbewelt eine nicht unhebliche Rolle, und eine solche sei schließlich dazu da, um sie wechseln, zumindest die Richtung ändern zu können. Felicitas Hoppe macht sie sich ironisch zunutze. Im auf der Fischer-Verlagsseite abgedruckten Interview vom Januar 2012 stellt sie fest: «Hoppe gehört im Grunde ihres Herzens und ihrem ganzen Wesen nach natürlich in die Werbung. Denken Sie nur an ihre Agentur für alles. Sie weiß einfach, worauf es im Leben ankommt, vor allem dann, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Ihre Lieblingsdevise lautet: ‹Wer zögert, verliert.› Und last but not least: ‹KRÖNE DICH SELBST – SONST KRÖNT DICH KEINER!›»Aber das ist eben nur die halbe oder ein Teil der Wahrheit. Der französische Psycho-analytiker und Essayist Pierre Bayard, und auch er ist wahrlich nicht der erste, der das herausgefunden hat, ließ uns in Comment parler des lieux où l'on n'a pas été ? wissen, in der eigenen, also durchaus auch der gemieteten Hütte sei es doch noch am angenehmsten, er wies auf Immanuel Kant hin, der sein Quartier in Калининград nie verlassen und dennoch die Welt bereist hat und in etwa, dennoch geradezu manifesthielt: Willst du dich, also quasi den Kosmos kennenlernen, dann bleibe am besten zuhause. Marco Polo kommt dann noch vorbei, an Karl May führt ohnehin jeder Weg ins wilde Absurdistan, Bayard meint, der Sachse habe sich Amerika so hingeschrieben, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Hinter diese weitaus bequemere Art des Reisens zu kommen, dafür habe ich viele an- und nachhaltige Ausflüge benötigt, um eines Tages unschlüssig meinen zu können, es sei genug. Bosch meinte daraufhin, ich sei auf dem richtigen Weg: «Irgendwann wird auch der Letzte einsehen, dass diese ewige Reiserei zu nichts führt.» Doch diese Art zu reisen, früher nannte man das «mit dem Finger auf der Landkarte», ist es längst nicht alleine. Bayard hat sich 2007 auch zur Literatur geäußert: Comment parler des livres que l'on n'a pas lus ? (Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat.). Auch da war Bayard bei weitem nicht der Erste. Anleitungen für Bildungsschwindeleien haben lange vor ihm und auch vor dem netten Netz der schnellen Information andere verfaßt. Auf diese Weise lernt man zwar nicht die fabelhafte Welt der Literatur kennen, erfährt jedoch ein wenig mehr über sich selbst, zum Beispiel, wie eingeschränkt man lebt, wenn man nicht einmal bereit ist, sich von anderen auf die Reise schicken zu lassen. «Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»Und immer mehr oder weniger Wahrheiten treten zutage. Die Gebrüder Grimm beispielsweise haben sich keineswegs, wie man seinen Kindern früher weismachen wollte oder mußte, weil das Wissen fehlte, auf Wanderschaft begeben, um die fabelhafte oder auch mythologische Welt des Erzählens, letzteres ohnehin eine Tautologie, zu ergehen, man hat ihnen die Märchen zugetragen, sie haben sie größtenteils zu sich nachhause bringen lassen. Viele dieser über lange Zeit hin überlieferten Geschichten kamen von weit her, nicht wenige aus Frankreich. Die Grimms haben sie ein wenig redigiert, also umgeschrieben, ihnen wie später einst May ein bißchen deutsche Moral hinzuparfumiert, wie heutzutage sozusagen die Liebe durch den Magen lebensmittelig synthetisiert, so daß sich daraus zwangsläufig andere Er- und Bekenntnisse ergaben. Der Mensch an sich unterliegt ohnehin in weiten Teilen dem Glauben, also dem Geahnten, das haben ein paar Psychologen und einige weitere sie begleitende Randwissenschaftler herausgefunden, er habe das alles selbst erlebt, was er in die weite Welt hinausposaunt, aus welchem Grund auch immer. Und wenn dem nicht so sein sollte, dann will er's häufig unbedingt annähernd erleben. Immer häufiger müssen Schauspieler sich für ihre Rollen, Literaten sich für ihre Romanfiguren rechtfertigen oder öffentlich beteuern, sie hätten mit ihren Protagonisten nichts zu tun. Dem steht im Weg, was Jochen Gerz einmal auf die Frage nach der, der Zeitgeist gebietet es wohl, es so zu heißen, Authentizität entgegnete: Alles ist autobiographisch. Es ging dabei unter anderem um die Romantik, die akut auch aus anderem Licht betrachtet wird, also überwiegend alles andere als authentisch. Aus dieser Erkenntnis geht vermutlich auch eine in letzter Zeit häufiger aufkommende literarische Gattung hervor, die diese Vermischung von Selbsterlebtem und Fiktivem nicht nur ausdrücklich zuläßt, sondern auslebt, nenne ich's subjektive Authentizität. Ein Beispiel dafür liefert Marcy Goldberg. «‹T.› könnte man als Thomas Imbachs Abrechnung mit sich selbst verstehen, als die Verkörperung einer Schattenseite aus Schwächen, Scheitern, Schuldgefühlen.»Wahrheit ist demnach nicht, wie am Beispiel Fiktive Realität behauptet wird, gleich Authentizität. Mir scheint das überholt wie so vieles, mit dem zum Beispiel ich aufgewachsen bin. Sie kommt allenfalls der Wirklichkeit nahe. Um an die Wahrheit zu gelangen, muß man mittlerweile schon etwas tiefer in sich und sein Weltgefühl tauchen. Ich kann mich des Eindrucks nicht entziehen, Altmeister Nietzsche könnte in bisher ungeahntem Maße (post)modern, also neuzeitlich, gegenwärtig sein: «Die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis, sie setzt mehr Kenntnisse und Fähigkeiten voraus als die Wahrheit.»
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