Kritische Anthologie Universalis In meinem Verständnis von Gemeinsamkeit gebührt auch dem etwas anders Denkenden Platz in der Runde derer, die am liebsten alle auf demselben Stuhl sitzen würden. Deshalb möge Nachfolgendes weitere Verbreitung finden, denn ich kann mir vorstellen, daß es noch einige weitere Interessenten gibt, denen die sklerotische Enge der Vorstellungswelt der Funktionäre mit ihrem Hang zur Nivellierung nach unten nicht behagt.1 KAU wurde ausgelöst beziehungsweise baut auf auf Henner Reitmeiers Von den Umtrieben der POC-Jäger. Darin heißt es unter anderem: «Denn um so ausgefeilter der Stil eines Artikels, desto geringer die Chancen des durchschnittlichen ‹Mitmachers›, sich in diesen Artikel einzubringen. Beat begreift jeder; Tango nicht.» Das war für mich mit ein Grund, bei Wikipedia nicht mehr mitzuwirken. «Die KAU ist ein nach Stichworten (Themen) geordnetes Internet-Nachschlagewerk, das sich durch stets namentlich gezeichnete Beiträge hoher sprachlicher Qualität auszeichnet. Die Anzahl der Beiträge zu einem Thema ist nicht begrenzt. Diese Beiträge können von unterschiedlichen Autoren stammen. Auch Kontroversen sind statthaft, doch sollten sich alle Autoren einer kritischen, wahrhaftigen und parteilichen Sicht von unten verpflichtet fühlen. Herrschaft und jede Verschleierungstaktik wird abgelehnt. Das Konzept basiert vor allem auf Erfahrungen libertär und egalitär orientierter Kommunen. Das bedeutet insbesondere: Keine Hirarchien/Verbindung von Kollektivität (Kooperation) mit persönlicher Verantwortung/Transparenz. Weiter verwertet es Erfahrungen aus publizistischer und verlegerischer Tätigkeit. Von daher hat es Qualitätsansprüche, die in Kommunen eher unbekannt sind. Schließlich zehrt es von Erfahrungen (und Informationen) der Wikipedia [...]. Nachbemerkung von Henner Reitmeier Ich bin der ‹Erfinder› dieses Konzepts. Ob es etwas taugt, steht auf einem anderen Blatt. Vermutlich ersähe man dies frühstens aus einer monatelangen Erprobung — und schon diese erfordert einen Aufwand, der wahrscheinlich nicht unbeträchtlich ist. Mag man sich auch auf (freie) Software wie die von Wikipedia benutzte stützen können, so muß sie doch auf KAU zugeschnitten werden. Man benötigt also sowohl für die redaktionelle wie die technische Arbeit Fachleute. Mehr noch, es muß gewährleistet werden, daß sich auch alle zukünftigen Mitglieder verhältnismäßig leicht mit diesen Arbeiten (und der Software) vertraut machen können. Die Gruppe darf nie Gefahr laufen, von ihrem Sekretariat wie von Kanzler Schröders Kaffeekränzchen oder Walter Ulbrichts Politbüro verschaukelt zu werden. [...]» Der gesamte Text: Das Konzept KAU 1Der Begriff Allgemeinbildung «[...] maßt sich an zu wissen, was ‹man› wissen muß. In seinem Verständnis natürlich alles, was der Aufrechterhaltung seiner gut geschmierten Megamaschine nützt, die wiederum seiner Elite dient. In Wahrheit gibt es unter den Menschen - solange sie noch nicht erfolgreich angepaßt worden sind — eine derart große Vielfalt an Naturellen, Bedürfnissen und Lebensformen, daß sie alle ihrer eigenen, darauf zugeschnittenen Bildung oder auch Schwänzerei bedürften. [...]» Henner Reitmeier in Schulen.
Hauptsache Labskaus Da es sich um einen anderen Sektor der Überlebensmittelkunde handelt, sei der Antwort auf Enzoos Burenwurst bzw. dessen Weltreisegelüste eine gesonderte Seite meiner Kladde gewidmet. Sie mag eine Art Orientierungshilfe, wenngleich eine sehr viel schlichtere sein als der Reiseführer der einzigartigen harten Maria. Den Magen umgedreht hat's Ihnen anscheinend bereits mit Labskaus. Ich mag den recht gerne, wobei es allerdings darauf ankommt, wie er zubereitet wird. Mir wurde schon welcher serviert, der mit meinem Geschmacksempfinden nicht so recht harmonieren wollte. Der mir wohlschmeckenste wurde mir auf einer Fähre gereicht. Das scheinbar undefinierbare Gemisch mundete mir derart, daß ich vor lauter Begeisterung der Wyker Dampfschiffsreederei ein Dankesschreiben schickte, mit dem Antwortergebnis des Rezepts durch den Captain persönlich, der nach eigenem Bekunden früher mal als Smutje zur See gefahren war. Das eines anderen ehemaligen Schiffskochs hingegen mochte ich nicht sonderlich. Es mag daran gelegen haben, daß der bereits zu lange an Land war und obendrein seine eigene Wirtshausküche bekochte. Vermutlich hat er sich dem vermeintlichen Geschmack seiner Logisgäste angepaßt und viel zu frische Grundzutaten verwendet. Auf der tosenden See gab's nach Wochen nunmal auch keine frisch geschlachtete unheilige Kuh mehr, uraltes Pökelfleisch, allenfalls ersatzweise Corned Beef ist wohl nach wie vor der maßgebliche Geschmacksträger für labs kausis in der lettischen oder labas káuszas in der litauischen Sprache, was gute Schüssel bedeutet, also sind Beigaben wie Spiegel- oder Bratei, wie man nahe dem mit dem westlicher gelegenen Ostfriesland sprachlich verwandten Mare Balticum dazu sagt, vernachlässigbar, etwa wie die Salatgarnitur beim Zigeunerschnitzel, das häufig von ähnlicher Konsistenz ist. — Nach des Captains Rezept habe ich's selber nie versucht. Lieber bin ich wieder und wieder an die Nordsee gefahren und habe mich übersetzen lassen auf eine der Inseln der Glückseligkeit, die mich einkreisendes Wasser ausmacht. Als dann irgendwann erfahrener Fährschiffpassant versuchte ich ohnehin meist, unter behutsamen Annäherungsversuchen wie bei Bordratten und kleinen Kindern, die jeweilige Brücke zu entern und den Kapitän auszuhorchen. Die Lehre der dazu erforderlichen, wegen drohenden Dampferverweises bis hin zum Überbordgehen nicht ganz ungefährlichen Taktiken verdanke ich einem Freund. Das wäre überhaupt meine erste Empfehlung. Am besten versuchen Sie zunächst die sozialen Netze auf ihre adjektive Richtigkeit hin zu prüfen und im besten Fall einen Freund und damit das Glück zu finden wie einst ich, wenn dies auch auf analoge Weise geschah.1 Mitte der Achtziger hielt ich mich für längere Zeit in Nordfriesland auf, da mich ein aus München dorthin umgesiedelter Freund gebeten hatte, einen kritischen Blick auf sein neuestes Buch zu werfen. Es war nicht wirklich Arbeit, also war ausreichend Zeit für Ausflüge. So kam ich auf Nordstrand mit einem Mann ins Gespräch, Betreiber eines, ich nehme das Ausrufezeichen vorweg, Imbißwagens, der, wie sich im Verlauf der längeren Plauderei herausstellte, im Zentrum der Weltstadt (seinerzeit der älteste Puff der Region, eine Restranderscheing, also eine Überbleibsel des dortigen, einst größten nordeuropäischen Viehmarktes) Husum zudem Eigner einer, doppelte Ausrufzeichenvor-wegnahme, Imbißbude war.2 Die Sympathie zu diesem Fischkopp ging soweit, daß ich nach dieser Begegnung täglich nach Nordstrand hinausfuhr, um mit ihm mein Dauerschwätzchen fortzusetzen, das diese neu gewonnene Freundschaft festigte (und lange Zeit, bis zu seinem Ende, anhielt). Sogar die via Autoradio übertragene Sensationsfolge des seinerzeit kommenden Wimbledon-Siegers geriet bei unseren Gesprächen über Fisch und die Welt ins Hintertreffen. Letztere bedeutete ihm in außerordentlichem Ausmaß das Münchner Oktoberfest, zu dem er sich alljährlich mit dem Motorrad aufmachte, und zu dem er sich von mir als Ortsansässigem intime Kenntnisse erhöffte. Daß ich ihm allenfalls etwas vom Steckerl-, also banalen Süßwasserfisch erzählen konnte, focht die sich vertiefende Freundschaft nicht an. Als ich eines späten Nachmittags nach neuerlichen Stunden der Gewässerkunde sowie nach bereits pfundweise vertilgtem Fisch aller Art auch noch einen geräucherten Aal mitnehmen wollte, um meinen Gastgebern auch mal was Gutes zu tun, und mit dem Finger auf einen bestimmten zeigte, winkte er ab und sagte mir: Nein, den kriegst du nicht, der ist für die Pappnasen. Das waren zu dieser Zeit und in seiner Sprachbildnerei die Touristen. Ich war somit als Einheimischer deklariert und sozusagen gelandadelt. Er bedeutete mir, am nächsten Tag kämen frische Fische aus der Räucherei. Daran hätte mein Magen dann Freude. Das macht Freunde. Dieser eine hat mich noch in so manche Besonderheit seiner nordfriesischen Heimat eingewiesen, zum Beispiel, wo man im Städtchen den feinsten Pharisäer oder den besten Tee bekäme. Das hat jeweils mit Alkohol zu tun. Im ersten Fall mit dem im Kaffee, im zweiten damit, wer mit den geringsten Tropfen den Köm in der Teetasse am wenigsten verdirbt. So kann ich im Festnahrungsbereich neben Labskaus, insofern der als fest oder Fest bezeichnet werden darf, immer nur Fisch empfehlen. Morgens, mittags, abends, auch als Zwischenmahlzeit. Ein ostfriesischer Knurrhahn namens Werner hielt einmal fest: «Schollen schmecken, auch kalt, zum Frühstück wunderbar.» Als Imbiß morgens, mittags, abends empfehle ich Krabben. Dabei sollten Sie darauf achten beziehungsweise nur dorthin fahren, wo Sie diese auch erhalten. Denn immer häufiger kommt mir zu Ohren, daß an strändlichen Imbißbuden mit der Aufschrift Original Büsumer Krabben tatsächlich thailändische Zuchtgarnelen verkauft werden. Sie sollten also besser nicht als moderner Unruhreisender die Küste abschippern, sondern es dürfte sich als vorteilhaft erweisen, für längere Zeit an einem stillen Ort zu verweilen. Nur so dürfte es Ihnen wie mir gelingen, Freunde oder für den Anfang zumindest gute Bekannte zu finden, die Ihnen nach behutsamer Annäherung Zugang zu den Brücken gewähren, die auf Ihre Bitte hin den Pappnasen der unausrottbaren Mentalität Butterfahrt mal ordentlich den Magen umdrehen, indem der Captain den Kahn mal breitseits der Wellen steuert und ihn so richtig rollen läßt, auf daß diese Leute fortan die Fahrt nach Helgoland oder eine andere Insel oder vielleicht gar die gesamte Nord- und Ostseeküste meiden, Menschen kennenlernen, die Ihnen aquakulturellen Pangasius nicht als feinste Nordseescholle an original friesischen, tatsächlich aus Monsantien stammenden Bratkartoffeln servieren und ganz billigen Korn nicht als Köm kredenzen. — Sie können ja problemlos immer wieder und wieder hinfahren. Sollten Sie allerdings die Welt retten, also wilden Fisch aus der Hochsee vermeiden wollen, dann bleiben Sie, den apokalyptischen Medienberichten zufolge, besser in Wien, besuchen die Seemuse, gehen ein bißchen angeln und essen dazu Erdapfelsalat. Ohnehin muß ich bei alldem eingestehen, nicht wirklich eine aktuelle Empfehlung aussprechen zu können, da auch ich nicht mehr allzu häufig an die Nord-- und trotz der Nähe an die Ostsee fahre, geschweige denn längere Zeit an einem Ort der Suche nach dem dortigen Menschen verweile. Meine alten Freundschaften an und auf der hohen See sind also allesamt ziemlich verwässert, die neueren leben nunmal an der Badewanne des Südens. So bleibt mir einzig der Tip: Sie fahren nach Marseille und nehmen bei Toinou etwas Leckeres, das auch aus dem Meer kommt, aber eben eher weniger aus der Nordsee: bildhafte fruit de mer. 1 Dieser Tage erklärte mir ein ausgewiesener, also zu recht so genannter Fachmann des Gehirns, alles, auch das Digitale, entstünde beziehungsweise würde analog verarbeitet; das mag für Sie als andersgelagerter Experte schmerzlich sein, aber ich war nach dieser fundierten Aussage mit der Welt wieder einigermaßen versöhnt. 2 Ich muß die Vergangenheit in doppeltem Sinn bemühen, da er sich ein paar Jahre später selber ins Jenseits beförderte. Über die Gründe mochte ich nie spekulieren, hat beipielsweise Ihr Landsmann Jean Amery Jahrzehnte wachsenden Bewußtseins gebraucht, sich tatsächlich ein Ende zu setzen: er hat beeindruckend den Unterschied zwischen Suizidär und Suizidant dargestellt.
Hauptsache Currywurst Ich mag keine Currywurst. Ich mag keine Currywurst mehr. Das verlangt Präzisierung. Alfons Schuhbeck darf mir dabei assistieren. Der einstige Heroe der Rührung gegen die Tütensuppe erklärte dieser Tage ein paar unentwegten Verfechtern des immerguten Alten, weshalb man die Weißwurscht gar nimmer zutzeln könne, da sie eine völlig andere, sehr viel festere Konsistenz habe als in früheren Zeiten, zu denen sie das Zwölf-Uhr-Läuten nicht erleben durfte, im Magen verschwunden sein mußte, weil sie in besagten guten alten Zeiten gegen Mittags verdorben sein würde. Überhaupt erläuterte er unterhaltsam aufklärend vor kleinem Publikum mit vielen Zuschauern, die wiederbelebte und mittlerweile in bescheidenen Massen im Umlauf befindliche Küche von Omi sei an Tageszeiten beziehungsweise saisonal orientiert gewesen, und was an Maßnahmen über diese zeitlichen Richtlinien hinausgehe, habe der Erhaltung der Produkte gedient. Der Sauerbraten beispielsweise entstand nur deshalb, da das Fleisch haltbar gemacht werden mußte. Böfflamotte, aus dem französischen Boeuf à la Mode gemischt, ist ein weiteres Zeichen der Haltbarmachung oder Verweichlichung durch Salzlake. Salz und Essig waren also Omis — vielleicht wäre es zeitlich genauer, Uromi abzurufen oder auch zu renaissancieren, da deren Tochter Großmutters Enkel geschmacklich längst auf die unerläßliche Beigabe zum alltäglichen Kilo Rinder- oder Schweinebraten eingestimmt hat: die Sauce aus der Packung. Diese Mittel, das Mindesthaltbarkeitsdatum vorwegzunehmen, sind also nicht mehr erforderlich. Das im Supermarkt und nicht beim Erzeuger oder wenigstens beim vertrauensvollen Schlachter gekaufte Fleisch sollte man ohnehin am besten gleich ins Klo kippen, auf daß wenigstens die lieben Haustierchen in der Kloake noch ein bißchen Freude am Leben haben. Man kann also durchaus auf Versalz- oder Essigung verzichten und dafür Wein hernehmen. Der irritiert zwar die an das von den wochenendlichen Besuchen bei Uromi altgewohnte Geschmacksnerven, kann ihnen jedoch im positiven Fall eine neue Orientierung geben. Als ich vor etwa zehn Jahren antrat, junge Menschen das Fürchten inform des neuen Schmeckens zu lehren, wollte anfänglich zwar nur einer den Kopf nicht mehr aus dem Topf nehmen, aber mittlerweile nehmen sie alle den Lebenssaft wenigstens zur Parfümierung des Fleisches, und auch den Kenntnisstand über Kräuter ud Gewürze haben sie über Pfeffer, Salz und Petersilie hinaus erweitert. Sogar Knoblauch empfinden sie nicht mehr als gar so artfremd, vor allem seit sie wissen, daß der nur dann stinkt, wenn man sich nur einmal monatlich wäscht, er seine Geruchsstoffe also transpiriert. Wäre dem nicht so, stänke der gesamte Süden Europas oder alles, was dazugerechnet wird. Aber diese Regionen der Feinwürze stinken den an Uromis Pfeffer, Salz und Petersilie Gewohnten und dem Altbewährten in ewiger Treue Verbundenen ohnehin. Überkreativitäten können allerdings auch Nachteile erbringen, nicht nur für die Geschmacksnerven. Aber bleibe ich bei dem, um das es hier eigentlich geht: um die (Curry-)Wurst. Vor etwa drei Wochen orderte Frau Braggelmann für mich eine dieser Variationen dieses wurst case. Sie ist glühende Verehrerin bayerischer Bratwurst, für die sie weite Strecken bis an Münchens Fäkalienmarkt inkauf zu nehmen bereit ist, wenn sie sich auch seit längerer Zeit ebenso in der Mitte Lübecks lustvoll im Wurst-Himmel tummeln darf. Sie wollte mir wohl etwas Gutes tun, wußte sie doch, daß ich diese Wurstform früher am Wittenberg- oder am Savignyplatz des öfteren zu mir genommen, ja sie kurzzeitig gegenüber dem Bilka an der Kantstraße, Frau Uhse war noch lange nicht eingezogen, sogar mal verkauft hatte, bis ich sie nach drei Nächten bis früh morgens um vier nicht mehr sehen konnte, weil janz Balin sie mir abzuverlangen schien. Aber die, die Frau Braggelmann mir über einen sogenannten Pizzaservice hat kredenzen lassen, die hatte nicht nur das Zwölf-Uhr-Läuten bei weitem überschritten, sondern auch die Grenzen des guten Geschmacks. Ich muß daher annehmen, daß die globale Geschmacksindustrie sich mittlerweile auch der deutschen Volksküche angenommen hat. Die Wurst schmeckte nach einer überfahrenen heiligen Kuh, die sich in ein Versteck geschleppt hatte und deshalb wochenlang nicht bemerkt worden war, und die Sättigungsbeilagen schienen mir aus einem indischen Hinterhof der Textilteilevorfertigung geliefert worden zu sein. Die Urversion der Currywurst kam für die einen in Berlin in Zeiten zur Welt, als am Stutte oder Stutti, wie der Stuttgarter Platz volksbildlich verkürzend genannt wurde, und der noch kein vorbildlich grüner, von weltläufigem Geschmack beherrschter, sondern ein in der Nachkriegszeit von biederen Puffs und Animierschuppen eingekreister mehr als schlichter Ort war, an dem Frau Heuwer ihr Produkt kreierte und dafür sogar Patent angemeldet hatte. Andere folgen Uwe Timm in dessen hamburgischen Version der Schreibung von Geschichte, nach der es zuerst hundert Kilometer von der Wasserkante entfernt um diese Wurst ging. Doch nun ist alles völlig anders. Die Mehrheit hat sich der Historie angenommen. Nein, nicht Wikipedia bundesweit. Dort herrscht schließlich nach wie vor die Funktionärarchie. Auch nicht das bislang hoch bewertete Niedersachsen. Dessen einstiger Erster rüttelt in Moskau an den Gitterstäben, um nach innen an neue Mächte zu gelangen, sein ehemaliger heimlicher Versicherungsminister backt in einer bescheidener gewordenen Abzock-manufaktur immer kleinere Verträge. Und nach dem bundespräsidialen Abgang hat auch der politische Häuslebauer aus Großburgwedel so gut wie keine Aufgaben mehr im Bereich der Geschmacksbildung. Für das Feine ist ohnehin jetzt ein Freiheitskämpfer aus dem fernen deutschen Osten zuständig. Der Westen hat in Fragen ästhetischer Erziehung, mag sie noch so veraltet sein in der Sehnsucht nach dem Schönen, die Macht übernommen. Die SPD ist Currywurst. Ob sie sie auch ißt, ist dabei nur von marginalem Wert, zumal Studenten der Politikwissenschaften aus dem erzschwäbischen Tübingen diesen Plakativ-wettbewerb gewonnen haben, die, wie ich dem Handelsblatt entnehme, beide «zu 95 Prozent Vegetarier» sind und «nur einmal im Monat eine Currywurst» essen. Aber das Ergebnis zeige, so einer der beiden Geschmacksbildner, «wie wir uns Glücklichsein in Nordrhein-Westfalen vorstellen». Glück ist Currywurst, hat die Mehrheit entschieden. Und die dürfte, schenkt man den Prognosen Vertrauen, sich aus der neueren deutschen Sozialdemokratie zusammensetzen. Ich mochte die SPD mal, mehr noch als Currywurst. Ich habe sogar für sie gekämpft, ohne je Mitglied gewesen zu sein. Wahlkämpfer war ich mal, damals, nicht so berühmt wie Günter Kraß, aber mindestens genauso engagiert. Und geschrieben habe ich auch für sie, auch für Nordrhein-Westfalen, wennauch anders als er, von München aus. Dort hatte ich in den siebziger und achtziger Jahren noch ein akzeptables Gefühl, wenn ich mit den Sozis zusammensaß, als sie noch noch ein bißchen solche waren, wenn ich mich auch nie so recht mit deren doch etwas beengtem Verständnis von Kultur anfreunden konnte, das ich oftmals mit ein paar Griechen und Türken und Hinterhofgesang skzzierte. Aber es gab genügend Anders-, Darüberhinausdenkende, die mich dabeibleiben ließen. Als diese SPD mehrheitlich begann, sich auf ein Trittbrett namens Agenda zu schwingen und somit unterwegs waren in die sogenannte Mitte, nicht mehr zu unterscheiden von der CDU, da bin ich von der Fahne gegangen. Verabschiedet habe ich mich von ihr, wie auch nach einer weit über fünfundzwanzigjährigen Mitgliedschaft von der Gewerkschaft. Zwischenzeitlich dachte ich darüber nach, ihr meine Dienste wieder anzubieten, da ich meinte, sie könnte jede Hilfe gebrauchen, um wieder zu einer zwar der Masse nahestehenden, aber auch minderheitliches Denken zulassenenden Partei zu werden. Ähnlich der Parti socialiste, die zu meiner großen Freude gestern ein bißchen gewonnen, zumindest den ersten Schritt auf dem Weg zur Rückeroberung nicht unbedingt der Bastille, aber immerhin des Élysée getan hat. Nun ich bin froh, den deutschen Sozialdemokraten ferngeblieben zu sein, mich anders orientiert zu haben. Denn jetzt weiß ich endgültig, wer dieses Volk ist. Es ißt nicht nur, es ist Currywurst. Das dürfte für den Rest der Republik ebenso gelten. Es ist Signum postmodernen Daseins im Allzuschlichten. Und so schmeckt sie auch. Wie Essen in Teilevorfertigung durch die globalisierte Lebensmittelindustrie. Jeden Geschmack, wenn sie den je hatte, hat sie verloren. Es weiß nicht einmal mehr, daß auch eine Currywurst schlecht sein kann, nicht nur, weil sie über die guten alten Zeiten des Kurz-vor-Zwölf-Läutens hinaus ist. Hauptsache, es steht Currywurst auf der Packung.
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