Die Zivilisationskrankheit Ich hebe Sie, Enzoo, und damit das Thema auf die erste Seite, da ich momentan zu faul bin, keine Lust verspüre, nach nordisch-mitteleuropäischem Leistungsprinzip den beinahe täglichen Tagebucheintrag mit Neuem zu aktualisieren. Das Gebrechen also heißt Griechenland. Jedenfalls das, was wir daraus gemacht haben, was die Griechen daraus haben (mit sich) machen lassen, vermutlich, weil sie partizipieren wollten. Es steht allerdings an zu vermuten, daß der überwiegende Teil der griechischen Bevölkerung im Prinzip gar nicht mitgewirkt hat an der Aufgabe ihrer Lebensweise. So richtig beurteilen können das ohnehin nur diejenigen, die etwas länger im Land verweilten und es auch durchstreiften als die zwei- bis vierwöchigen Urlauber auf meist einer Insel oder an einem Hotelschwimmbad. Griechenland kann man auch in Marseille erleben, letztlich ist die Stadt so etwas wie von homerischem hellenischen Ursprung, aus Liebestriebetraumschaum emporgestiegen. Legendischer (das haben die ärmel-geschonten Schriftregenten aus dem Volksbildungswerk getilgt, vermutlich mutete es zu boulevardiös an, wurde aus der Schublade der Unseriösität entfernt; dabei entdecke ich nicht erst seit heute im Märchenhaften, und sei es im Tratsch, so manche Wahrheit, die eben mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat und wohl deswegen häufig ein wenig durcheinandergebracht wird): Nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in sein Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Immer diese Mädels. Wie in Marseille. Es wurde von der Liebe gegründet. Aber diese sehr viel eher mit Griechenland als mit Frankreich verwandte Schönheit ist ja sowieso längst selbst Mythos. Und die Mythologie (über-)lebt eben nur in ihres ürsprünglichen Wortes Bedeutung — in der Erzählung, in der Überlieferung. Hier eben als Liebesgeschichten.Nebenbei bemerkt: Diese Griechen wanderten übrigens auch nach Corsica aus. An diesen exklavisch-levantischen Gestaden, es sei mal wieder an Jean-Claude Izzo erinnert, der von seinem Zuhause geschrieben hat, dort äßen alle gefüllte Weinblätter, tendiert man ohnehin zu Arbeits-verdrängungsmaßnahmen, aber auch nur als jemand, der etwas zu verdrängen hat. Bei mir beispielsweise legt etwa ab dem französischen Äquator, der knapp südlich von Lyon liegt, so eine Art Witterungswendegrad, von dem ab man mit einem Mal sogar vom Auto aus Cigales hört, sie zunächst für einen Gelenkwellenschaden hält, aber niemand in den Nachmittagsstunden selbst einer ärgsten Entenstörung Gehör schenken will, und das will was heißen bei diesem via europäischer Nostalgiegemeinschaft zum Nationalheiligtum wachgeküßten Kleintreckerersatz, man also selber Ruhe gibt und den fahrbaren Gartenstuhl seiner einstigen antriebslosen Funktion zurückgibt. Dort beginnt die Region, in der mein innerer Dirigent den Taktstock aufs Pult legt, kurz in mir einen, dennoch für alle sichtbaren Zettel hochhält, auf dem geschrieben steht: Ab sofort nur noch Adagieto, besser Adagio non lento, letzteres bei Chopin ein mehr als gemäßigtes Tempo für einen Walzer, besser noch horizontale, also nicht philosophisch schwere Stille, dafür muß man Pariserin sein, lediglich umzirpt vom konstanten Geräusch der Grillen. Diesen eigentlichen Griechen anheim-gegeben ist also eine gewisse Leichtigkeit, die dem strebsamen, leistungsbedachten Europäer Erschwernisse erbringen. Man versteht es nicht, wie wohltuend es ist oder zumindest sein kann, einfach nur zu sitzen und das einfach zu bleiben. Selbst bei höchstsommerlichen Temperaturen, wie sie zur Zeit auch den Norden beherrschen, sind beispielsweise Menschen wie mein Vermieter nicht in der Lage, im Sitzen oder Liegen alles auf sich zukommen zu lassen und dem Gras beim Wachsen zuzuschauen. Nein, es muß gemäht werden, am besten in der Mittagszeit, weil der Pensionär ansonsten sein Tagwerk nicht in den Griff kriegt. Er befindet sich damit im Einklang mit dem großen Chor, einer faulen Sau dürfe nicht auch noch der Arsch geschmiert werden. Raus sollen sie aus dem Euroland, diese Nichtsnutze. Und ich als ein solcher sitze da und sinniere darüber, was die Zivilisation da an Krankheit geschaffen hat. Sie ist protestantischen, calvinistischen Ursprungs, was der in der Mode verkommene Punker in seiner Unwissenheit oder Dumpfheit nicht weiß, den der olle Calvin gewaltig an die Kandarre nehmen würde. Diese Zivilationskrankheit verdunkelt den nordischen Menschen, auch Wien hat genügend davon, es liegt schließich nördlich des Balkans, dieses Dasein. Es wird geschafft, daß es bald nicht mehr zu schaffen ist, diese un-, nein, blödsinnige Rennerei hinter dem her, das man für diesen Ersatzrausch benötigt, dieses Haben als Sein, da will ich gar nicht einmal auf den braven, letzt-endlich auch von der Demut, also dem Religiösen geprägten Erich Fromm verweisen, das tatsächlich die Individualität, den Einzelnen ausblendet, auch aus der Gemeinschaft, die diesen ganzen Monetenmumpitz nicht wirklich benötigt, der von Natur aus ganz gut ohne Wecker auskommt. Ich beispielsweise weiß, daß der Körper, der Mensch an sich ganz gut ohne dieses Geklingle funktioniert, seit bald fünfzehn Jahren. Gut, seinen Lebensunterhalt muß man irgendwie unterhalten. Zugegeben, ich hatte dabei auch Unterhaltung. Aber ich weiß, es geht auch ohne dieses permanente Streben. Da fliegt man eben etwas später mit seinem EiPhonePott auf den Mars. Wie die Griechen, die die Ruhe schätzen, denen ich mich geistesverwandt fühle und ich wie sie nicht einsehe, weshalb aufgrund der politisch geförderten Raffgier einiger Finanzjongleure, dieser uns krank machenden Bazillen und Viren und Trojaner also, des friedlichen Lebens beraubt werden sollen. Deshalb werde ich nichtsnutziger fauler Sack mich jetzt auf die faule Haut legen und höchstens in Adagio non lento dem Wachsen des Grases und nicht der Geldsäcke zuhören. Zum späten Nachmittag gibt's dann etwas Preisgünstiges, aber viel besseres als das von den meisten Angestrebte zu trinken. ![]()
An der postmodernen Zivilisation erkranktes Griechenland. Ein Postwunsch. ![]() Als die Post modern wurde, kamen die Zivilisationskrankheiten endgültig über uns. Das war in den achtziger Jahren, gut zwanzig Jahre, nachdem ein US-amerikanischer Literaturwissensschaftler mal wieder einen handfesten Begriff aus dem ungestümen wilden Westen ins mittlere Europa blies. Dessen Bruder lieh sich die schlagzeilige Formulierung aus, transponierte sie in die Architektur, womit die mitteleuropäische Bevölkerung endlich sprachlichen Halt fand in der sich ankündigenden Flutwelle der heutzutage nahezu ausnahmslos unter dem Schlagwort Globalisierung im Umlauf befindlichen Verquickungen. Seither wird hierzulande fröhlich kombinierend kolportiert, ob die Historie nun korrekt aneinandergereiht ist oder bisweilen komische Überkreuzwege nahm oder auch nicht. Auch ich ehemaliger Purist kam spät, aber dennoch unter dieses Landunter, aber erst, nachdem ich definitiv erfahren hatte, welche Tristesse die dauerhafte, sich letztendlich auch als eine politische erweisende Korrektheit in mir erzeugte. Anders als die meisten meiner irdischen Mitbewohner, die mit zunehmendem Alter auf eine Wahrheit hinsteuern, die als die einzige, quasi göttliche gilt, begann mich das Durcheinander zu begeistern, gemeinhin — einmal mehr darf mein Lehrer Brockhaus mir zur Hilfe eilen — weniger unter dem griechischen χάος und vielmehr als Chaos bekannt, ein alltagssprachlich auch als Tohuwabohu bekannter, aus dem Buch der Bücher übernommener diffuser Gegenbegriff zur beispielsweise unter Deutschen sehr beliebten Ordnung und Sauberkeit, besonders beliebt bei Reklamationen gegenüber Reiseveranstaltern, die auch die Levante im Programm haben, und in Bekanntschaftsanzeigen, die Offenheit nach allen Seiten hin bekunden. Vorherrschend sein dürfte dabei vermutlich die Kluft, aus der das Wort seine eigentümologische Wurzel zieht, die zwischen deutschen Tugenden und deren gähnenden Leere besteht. Und da in dieser Leere sich nichts weiter Bedeutsames befindet, erachtet man sich auch keine weiteren Gedanken darüber zu machen, daß das Chaos Physiker seit weit vor der Gründung europäischer Kultur in Griechenland rätseln läßt, was es mit dem Universum auf sich haben könnte. Eine langjährige gute Bekannte, so etwas wie eine Freundin, also eine richtige, nicht so eine des eher zufälligen Häkelmusters Livre de face oder auch der rictuisierten Fröhlichkeit, wo Zahlen lediglich zur algorythmisierten Penunzenmacherei dienen, beschäftigt sich nicht erst seit Einführung der modernen Post als, wie auch anders, Künstlerin mit den verschiedenen Chaostheorien und landete bei Mathematik und Primzahlen. Das hat mir aus den Mysterien dieser Rechnerei zwar ebensowenig herausgeholfen wie auch das Töchterlein aus denen ihrer spezifischen Natur-wissenschaft Zellforschung. Aber es hat mir immerhin eine Anleitung zum Landen inmitten der Unebenheiten des Urseins gegeben. Womit ich wieder bei den Griechen gelandet wäre, waren sie es doch, die sich laut allgefälliger Geschichtsschreibung als erste dafür interessierten, aber zu keinem nennenswerten Ergebnis kamen, zu keiner entmystifizierenden Welterklärung, ansatzweise vergleichbar mit Rudolf Bultmanns Versuch der Entmythologisierung. Dieses unverständliche Durcheinander wird auch der Grund dafür sein, daß Lieschen und Fritzchen oder Marius et Jeannette sich für den Urzustand der Welt nicht sonderlich interessieren. Ich habe mich dem angeschlossen und ignoriere seit meiner chaotischen Erleuchtung die Bergschlucht auf den Peleponnes. Da steckt mir zuviel des altnordischen urzeitlichen Ginnungagab drinnen. Das ist eher was für Münchner Oberstadtregenten mit Zielrichtung Landesväterei, die seit Jahrzehnten in Griechenland urlauben und dort vermutlich die Werdung Bayerns suchen: Urzeit war es, da Ymir hauste:Die Konservativen also, die Bewahrer der Kultur, bleiben hingegen dabei, daß die nunmal aus Griechenland zu kommen habe. Daß das Land pleite ist, interessiert die nur marginal, allenfalls dort, wo man ihnen vermeintlich in die Geldbörse zu greifen beabsichtigt. Die kulinarischen Verheißungen kennen sie ohnehin nur vom gehobenen Griechen um die Ecke, der als Gastarbeiter lieber hiergeblieben war, weil er zuhause nicht mehr essen wollte. Deshalb kultivierte er die fremdheimisch gewordene Kost auch insofern, als er sie, wie gleichzeitig die Italiener, dem Geschmack seiner Gastgeber anpaßte. Dabei bewies er ein geradezu ungeheuerliches Talent, nicht behördenrecht erschaffenes Geld nicht abgeben zu müssen. Er erschuf die Taverne, meist unter Mykonos oder ähnlichen Titeln bekannt. Sirtaki wurde in den gemütlichen Stuben getanzt, bacchanalisch berauscht von Weinstöcken entnommenem Harz, man aß nebenbei mit Oliven angereichertes Öl, auch Auflauf genannt. Den gab es zwar nicht gerade in den Anfangszeiten dieser lukullischen Weltöffnung, doch mit der sangesfreudigen, weiße Rosen aus Athen herbeisingenden späteren Unicef-Sonderbeauftragten Nana Mouskouri, nach der vermutlich Mousaka, das deutsch-griechische Standardgericht vereinter Hinterhöfe, benannt wurde, wurde der weltoffene Konservative bald vertraut, mußte er doch Gaumen und Zunge wie gewohnt nicht sonderlich anstrengen, denn: Die griechen haben fisch schon immer trockengegrillt serviert, was für freunde der holzkohle ein gaumenschmaus sein mag, für mich ist es nichts. vielleicht haben sie auch deshalb von der zubereitung in butter abgesehen, weil sie damit deren zukünftiges fehlen auf dem brot abwenden wollten, schon jahrhunderte zuvor, aber wie man erfahren hat, hat es nichts genutzt. wie ja überhaupt ein griechisches kochbuch mit 20 seiten und einem rezept je seite sein auskommen findet. es gibt wenig tristeres als die dort servierten, in olivenöl ertränkten speisen. ich glaube ja nicht, dass der verzehr des dortigen olivenöles die griechen älter werden lässt als den rest der europäer, und wenn, dann nur indirekt: weil sie von ihrer seltsamen kost nur wenig essen, weil sie ihnen selbst nicht schmeckt, erreichen sie die mitteleuropäischen ‹zivilisationskrankheiten› nicht in dem umfang wie westlich des balkans. das wort ‹zivilisationskrankheiten› verdiente eigentlich einen eigenen ausführlichen post, finden sie nicht auch?Enzoo, übernehmen Sie! Sie haben schuld an meiner unkungfutzuianischen Konfusion, Sie haben schließlich damit angefangen. Denn meine Wirrnis, diese Krankheit dürfte mit der offensichtlich aus Griechenland stammenden Zivilisation zu tun haben. Ich bin ratlos, zumal ich griechische Tavernen allenfalls zwei- oder dreimal aufgesucht habe. Und immerzu muß ich bei der derartigen Kultivierung an eines denken: ans Geld. Jetzt haben nämlich diese Griechen auch noch Deutschland hinunter- oder wie es im reduzierten Wortschatz der einheimischen Kosmopoliten heißt, heruntergeratingt, wie gedownloatet. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Das Wetter ist schuld. «Das Blau des Himmels, das Weiß der Wolken». Wie in Bayern, wo lediglich das Weiß vor das Blau geratingt wird. Wo dessen künftiger roter, nämlich sozialistischer Landesvater herstammt, aus Isar-Athen. Sonnendurchflutetes, vom Föhn verwirrtes Griechenland. Genaugenommen ist das ohnehin Ihr Part. Schließlich hatte Ihre Österreicherin gewordene einstige Landesmutter Sisi dort ihre nicht nur geistigen Latifundien, da beißt eine bayerische Herkunft sowie ein solcher gegen Multikulti gewandter Kini keinen Faden ab. Also hochkulturell: Die Sonne bringt es an den Tag.
Fortgesetzte, sich überkreuzende Wege im Déja-vu♥ Er war sich nicht darüber im klaren, worauf die Frau abzielte. Er wandt sich ihr näher zu, rückte gar seinen Stuhl ein wenig nach rechts, um ihr Gesicht genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie erschien ihm sympathisch, die Vermutung, sie könnte sich über einen vermeintlichen Grad der Bekanntschaft die seine erschleichen wollen, wurde augenblicklich auf Distanz verwiesen. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Doch er ging darauf zunächst nicht ein. Es mochte schließlich sein, daß er mit seiner euphorischen Übersiedlung in den Süden bereits die komplette Vergangenheit verdrängt hatte. Doch eine Blöße wollte er sich nicht geben, die darauf hindeuten könnte, er sei ignorant. So bemühte er sich um gedankliche Annäherung, indem er sie nach dem Gemälde fragte, wo sie es denn gesehen habe. Er könne sich nicht daran erinnern, sie je als Gast begrüßt zu haben, denn es ziere seine wohnunglichen Wände. Im Original sei es ihr auch nicht bekannt, erwiderte sie. An einer Wand habe sie es dennoch gesehen, und zwar als Lichtbild. während eines Vortrags über zeitgenössische Malerei. Sie habe es wie gestern im Gedächtnis, da es sie vor allem deshalb beeindruckt habe, mit welch schlichten materiellen Mitteln ein Maler eine solche Ausdruckstärke herzustellen in der Lage sei. Er kam ins Grübeln, heftig suchte er in seinem nicht nur im Süden, sondern auch wegen seines ein paar Jahre zuvor erlittenen Gedächtnisverlustes reduzierter gewordenen Erinnerungsvermögen nach einem Anhaltspunkt. Der Künstler war kaum bekannt, auch heute nicht. Sein Werdegang war bestimmt wie der so vieler seinesgleichen, die sich keine Zeit nahmen oder nehmen wollten oder auch wegen ihrer Zurückhaltung nicht konnten, sich auf dem Marktplatz der Kunst anzupreisen. Dabei war es sicherlich ein besonders Erschwernis, aus der DDR zu kommen und nicht figurativ zu malen wie etwa ein Bernhard Heisig oder ein Werner Tübke. Ins Land des sozialistischen Realismus war der Maler aus Israel eingewandert, wo der Kommunismus, den er im Kibbuz lebte, abzubauen drohte. Kennengelernt hatte er ihn durch einen Freund und Kollegen, der den unter freieren Geistern als stille Größe bekannte Künstler aus seiner Ost-Berliner Zeit als Kulturreferent des Amtes für innerdeutsche Beziehungen erlebt hatte, kurz nach seiner Übersiedlung in den Westen, der letztendlich doch ein wenig mehr Freiheit zu bieten schien. Seine Freiheit äußerte sich darin, in einem ärmlichen Kellerloch mit den zu großen Teilen mitgenommenen schlichten Materialien zunächst die Sujets weiterzuführen, die den einstigen Theatermaler in Anklam, Dessau und Meiningen in Atemnot hielten: die Tristesse, die dieser Staat ausstrahlte. Als er durchatmen konnte und er sich, wie zur Zeit in der späten Ostzone, einen kleinen Freundes- und Liebhaberkreis um seine Gemälde versammelt hatte, geriet er in eine quasi biblische Strömung. Es waren Kreuzwege, die der Jude fortan zu malen bereit war. Scheinbar religiöse Fragen entzweiten sie denn auch. Er hatte eine Petition unterschrieben, die für die Aufführung am Frankfurter Schauspiel des Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder plädierte, da er wie auch seine jüdischstämmige Gefährtin der Meinung war, Wirklichkeiten sollten bisweilen tatsächlich figurativ abgebildet werden dürfen. Der Künstler wehrte sich trotz seines an sich stillen Temperaments vehement dagegen. Der einst für seinen Freigeist Bekannte hatte sich Mitte der achtziger Jahre heiligen Sujets zugewandt und Kreuzwege gemalt. Einstige Querwege schienen nicht mehr begeh- und malbar. Zwar entstand kein Religionskrieg zwischen ihnen beiden, aber eine Freundschaft zerbrach an Glaubensfragen, weil sie politisch geworden waren. Dennoch zeigte er die Gemälde gerne. ![]() Das änderte nichts daran, sich an einer Abzweigung zu befinden, von der er nicht wußte, wohin er gedanklich gehen sollte, um dem Weg auf die Spur zu kommen, die diese Frau neben ihm zu ihm geführt haben soll. Er sah sich also gezwungen, sie zu fragen, wo sie dieses Gemälde an einer Wand habe leuchten sehen. Mitte der achtziger Jahre sei es gewesen, antwortete sie bestimmt, genauer 1988, ziemlich genau vor vierzehn Jahren. Einen Vortrag in einem kleinen Museum Norddeutschlands, wo sie herkäme, habe er gehalten über zeitgenössische Kunst, Aufhänger sei die vergangene Documenta gewesen. Währenddessen habe er auch dieses Bild an die Wand geworfen. Es sei ihr nachdrücklich in Erinnerung geblieben, da sie ihn darauf angesprochen und er ihr bereitwillig und alles andere als in dürren Worten Auskunft erteilt habe. Wie seit dem Ereignis, das er Umfall nannte, das sich mit Sirren, nicht Sirenen angekündigt hatte, war er einmal mehr gezwungen, heftig in seinem Vergangenheitsfundus zu wühlen. Er hatte so manchen Vortrag gehalten, auch in Norddeutschland, was daran gelegen haben mag, diesen Landstrichen seit je Sympathie entgegengebracht zu haben, in kleinen Häusern der Kunst zudem, da er dort mehr Aufmerksamkeit vorfand als in den heiligen Hallen der Großkultur, in denen in der Regel dem gesellschaftlichen Ereignischarakter der Vorzug eingeräumt wurde. Überdies wurden die oftmals auch nicht schlechter honoriert als etwa Ausstellungseröffnungen in renommierteren Museen, da häufig ein interessierter Kreis dahinter stand, dem ab und an eine örtliche Sparkasse oder gar eine Bauernbank Veranstaltungszuschüsse zukommen ließ, während bekanntere Häuser fast ausnahmlos nicht in der Lage waren, ihre Etatgrenzen zu überschreiten. Während er das gedanklich abschritt, kam etwas Licht in seine schattenhaften Erinnerung. Das niedliche Städtchen Schleswig tauchte schemenhaft auf. Dorthin hatte ihn die lieber dem Überschaubaren dienliche Direktorin einer kleinen Kunstschaubude in der Nähe Cuxhavens hin vermittelt. Ob es der Ort dieser Veranstaltung gewesen sein könnte, fragte er sie. Mit derselben Entschiedenheit wie zuvor schon verneinte sie. Schleswig kenne sie nicht einmal. In Rendsburg sei es gewesen. Und weitaus gesprächiger sei es zugegangen damals, jedenfalls weitaus gesprächiger als jetzt gerade. Die Frau wurde ihm unheimlich in ihrer Bestimmtheit. Er war sich sicher, noch nie in Rendsburg gewesen zu sein. Er wußte nicht einmal, wo Rendsburg liegen und ob es dort eine Stätte gab, an die es ihn gezogen haben könnte. Er spürte zusehends das Verlangen, sich in sein Inneres zurückzuziehen. Das tue ich jetzt auch. Es ist Zeit fürs Mittagsschläfchen. Morgen erzähl' ich die Einschlafgeschichte weiter.
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