Nackedeiereien

Im Hermetischen Café rieb man sich die Augen ob der SexyClips. Der Sturmfrau bliesen sie mitten ins Gesicht, hier vermerkte Jagothello, es seien die «beschlipsten und behüteten Würdenträger», denen «die außerordentlich gut gebauten Damen beim Startkommando alles mögliche» entgegenreckten. Angefangen hatte es, für mich, beim hinkenden Boten, der aus dem Urlaub auf Sizilien eine Photographie mitgebracht hatte, die sich allerdings und wohl zu recht ins Politische bog. Denn alleine dorthin gehört es meines Erachtens.

Nun gut, die Nacktheit an sich war immer ein Thema. Aber ich fange bei mir Adam an, schließlich folgt dem eine Eva. Ich habe sie erlebt wie anzunehmenderweise die meisten meiner Generation: Als eines Tages jemand ungebeten ins Bad kam, machte meine Mutter sofort das Licht aus. Und dann kam ich, ein Kind der Dunkelheit, dem erst sehr spät das Licht auf- oder anging. Ich lernte Nackheit, Sexualität als etwas Verbotenes kennen. Vieles meiner Kindheit und Jugend hat sich irgendwo in den hintersten Innenhöfen meines Langzeitgedächtnisses versteckt, was sicherlich auf einen vor bald fünfzehn Jahren stattgefundenen Gehirnaussetzer zurückzuführen ist, aber eines war bald wieder da: mein erstes sexuelles Erlebnis, nicht nur thematisch war das für mich immer von Belang. Fünfzehn Jahre war ich jung, das war, wie ich im Lauf von Gesprächen mit anderen und auch via Literatur herausfinden sollte, seinerzeit ein durchaus als frühreif zu bezeichnendes Alter, gleichwohl ich ansonsten ein Spätentwickler war, der zudem immer längere Zeiträume brauchen sollte, Zusammenhänge zu verstehen. Ich stieg heimlich bei einer unwesentlich älteren, aber eben doch noch sehr jungen Frau ein, deren Eltern abends zu irgendeinem Vergnügen unterwegs, also außer Haus waren. Es kam heraus, und es löste einen heutzutage geradezu unvorstellbaren Wirbelsturm aus, der bei mir in einem ebenso kaum vorstellbar langen Hausarrest endete sowie ziemlich hilflosen Versuchen, mich aufzuklären. Der Psychologe, der damit beauftragt worden war, konnte mehr noch als ich seine Scham nicht verbergen, mit mir darüber sprechen zu müssen. Das fand statt in einem skandinavischen Land, in dem ich die Jahre meiner Frühpubertät verbrachte.

Es war geprägt von einem Protestantismus, wie man ihn aus den niederen Landen kennen mag, in denen man allüberall in die Stuben blicken darf, da niemand etwas zu verbergen hat, schon gar kein unanständiges Treiben; die an den Rändern der Fenster angebrachten Vorhänge hatten alleine applikativen Charakter. In den Niederlanden waren und sind wohl, ich war lange nicht über einen Zeitraum dort, der zu Studien- oder Stubenkuckzwecken ausgereicht hatte, die Katholiken die sogenannt Progressiven. Und schaut man sich in den Kirchen des Südens um, ist man umgeben von nackten Engeln; wie etwa auch der Himmel der Muslime, der mit Jungfrauen bestickt ist. Sicher, auch im Süden kommen kaum noch Kinder zur Welt, so daß auch dort die Renten erheblich gefährdet sind, aber im protestantisch zivilisierten Mitteleuropa scheint gar niemand mehr faire l'amour mit dem Ziel der Nachwuchsförderung betreiben zu wollen. Liebe machen war übrigens in meinen studentischen Kreisen als Ausdruck sexueller Handlung verpönt wie das Lesen von Literatur, die das Phänomen Liebe zum Inhalt hatte. Und Schriftsteller wie etwa Baudelaire waren ideologisch des Teufels, auch sie wurden unter der Bettdecke gelesen, da sie den Geist verwirrten. Rudi Dutschke samt seinem Gretchen waren allertiefste Protestler, er dürfte seine Wurzeln, ob es so stimmt, weiß ich nicht genau, im Pietistischen gehabt haben. Gut, das mag jetzt als Argumentation etwas arg flapsig daherkommen, aber als Nachweis für die Gegenrichtung der Nacktheit mag es gereichen.

Als junger Mann kam ich in die USA. Zwar lebte ich bei meinem Onkel in einem Rentnerparadies, in Miami Beach (das mittlerweile zu einem der Jeunesse umgewandelt wurde), aber ich bekam aus dem gegenüberliegenden Teil des Landes herüberwehend die sich anbahnende kulturelle Windrichtung der freien Liebe mit. Sie war hochpolitisch. Hans Pfitzingers Aufsatz mit dem Titel Love and Peace und all die Hippies ist ein beredter Beleg dafür. Er beschreibt im Untertitel den langen, harten Sommer der Liebe. Er schwappte, wie so vieles, wenn nicht gar das Meiste oder auch alles, aus den USA herüber nach Europa, im besonderen in das Land, das aufgrund von Care-Paketen und Marshall-Plan und so weiter, das, wie wir das in den Sechzigern und auch danach noch nannten, der einundfünfzigste Staat der Bundesrepublik der Vereinigten Staaten von Amerika geworden war, quasi noch vor Hawaii, mit Spätzündung. Die Intention der Herrschaftsfreiheit auch in der Liebe, zumindest in der zu machenden, sollte bald politisch untergepflügt werden. Bald gab es nur noch Samen, mittlerweile in monsantoischer Manier, der nach Zuchtregularien ausgeliefert wurde, die einer natürlichen Fruchtbarkeit zuwiderlaufen. Geblieben ist allenfalls etwas Hippieeskes.

Längst kauft man den Punk als Mode bei, auch das eine Verhohnepipelung der Siebziger, bei Clamotten-August, was für C & A steht, ein aktuelleres Synynym mag H & M sein. Der erwähnte Kapitalismus, die Nebenreligion der Massen kriegt noch jede Strömung eines Freiheitsgedanken klein. Haben sich die Hippies noch wohlgefühlt in ihrem Naturdrang nach entbößter Körperlichkeit, was durchaus politischen Charakter hat, als Ableger mag Rainer Langhans (offenbar noch immer von ihm gelebten) Ideologie (?) beziehungsweise die Commune I gelten, so ist das heutzutage durchsexualisiert, weil es verkauft werden will. Aus den Pin-ups, die in den sechziger und siebziger Jahren die Automobile knackiger machen sollten, sind Barbie-Puppen geworden, denen man zur Gewöhnung bereits Kindern nicht nur auf den Gabentisch legt. Ich absoluter Werbeverpöner* habe zu diesem Zweck in letzter Zeit hin und wieder mal in den Reklamerummel hineingeschaut. Alles scheint nur noch auf Püppie samt ihrem in Kosmetik gebadeten Helden hinauszulaufen, und alles fast ausnahmlos mit virtuellen Botenstoffen versehen, die Hoffnung auf den raschen Bums signalisieren.

Um diesen geht es nämlich nahezu ausnahmlos. Den Veranstaltern dieses Rums- und Bumsplatzes ist es schnuppe, ob Lieschen einen Fritz oder Jeannette einen Marius abkriegt heute oder morgen oder überhaupt. Darum sollen sich die fachspezifischen Märkte kümmern, denen dann wiederum zu entnehmen ist, um was es den Mädels tatsächlich geht: um Sauberkeit, Ehrlichkeit, ein Leben ohne Lüge (wie im Internet?), daß man zwar gerne essen ginge, aber auch selber recht ordentlich kochen könne, am liebsten Hausmannskost, man am liebsten Schlager höre und durchaus auch ein bißchen, aber nicht zu lauten Rock, auf den man zwar nicht bestehe, ihn dennoch recht gerne trage. Die Jungs hingegen sind schonmal sexuell gewagter in ihren Botschaften, ob sie einen Schritt über ihre Puff-Visionen hinaus denken können, das sei dahingestellt. Aber sie alle träumen im Lauf des Betrachtens dieser schönen Werbewelt mit den vielen schönen hochgestellten sekundären Geschlechtsmerkmalen an das mögliche, nenne ich's ausnahmsweise mal virtuelle Abenteuer. Die Herausforderung fehlt vielleicht noch in dieser Aussage, dieser verbale Allgemeinplatz symbolisiert ziemlich genau das Geschehen. Sie gehen nicht einmal in die Muckibude. Sie gehen lieber am Stock auf Wanderschaft in die Felder, Wälder und die Auen. Aber sie kaufen die Crèmes und Salben, die ihnen ein Adventure versprechen.

Ich muß meine Suada, meine sanfte Kunst der Überzeugung vom Sein des Anders-erleuchteten jetzt leider unterbrechen. Der Herr, ich glaube, er ist noch ein paar Jahre jünger als ich, aber er wird mit zunehmendem Alter mir immer ähnlicher, nämlich albern, hat von unten her gerufen. Was kann alberner sein, als hier auf dem Landlord-Gelände ein Golfturnier mit Mittelständlern der Region zu veranstalten. Aber das muß ich nun ankucken. Hab' ich ein Glück, daß ich altersbedingt nicht nur geistig, sondern auch körperlich behindert bin. Mit solch einem Handicap fällt einem vieles leichter. Ein wenig kommt mir das vor wie das Pétanque-Spiel. Das begann auch damit, daß da unten im Süden, in der Nähe von Cassis jemand nicht mehr stehen konnte und er sich daraufhin setzen durfte, um zu spielen. Das macht den Sport an sich gemütlicher.

* Das geht übrigens auch im Internet recht gut, indem man beispielsweise im Firefox anklickt, «automatisch im privaten Modus starten» sowie Javascript und überhaupt Cookies ausschaltet.

 
Do, 16.08.2012 |  link | (3739) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen



 

Zapperlott*

Enzoo erwähnte hier kürzlich Max Frisch, der ihn vom Lesen der Internationalen Brief anbielt.Jagothello kommentierte ein paar Tage danach meine nicht allzu freundlichen Anmerkungen zu den USA. Über Frischs Roman Homo Faber lauteten die Anfangszeilen in der Ausgabe 52 aus dem Jahr 1957 des Spiegel: «Jeden, der an der amerikanischen Nation etwas auszusetzen hat, hält der fünfzigjährige Schweizer Ingenieur Walter Faber für einen heimlichen Kommunisten oder böswilligen Urfeind demokratischer Menschenrechte.» Die Schwierigen oder J’adore ce qui me brûle ist der Titel eines weiteren Romans des Schweizers. Unter diesem Blogtitel, was übersetzt in etwa heißt, Ich bewundere, was mich verbrennt, versehen mit dem Zusatz ... aber nicht einer gegen den Staat!, schreibt jemand aus der hiesigen Gemeinde, dessen Ansichten ich immer interessiert verfolge und dessen Adreßzeile den Namen oder auch die Bemerkung Zapperlott führt. Den Ausschnitt seiner heute veröffentlichten Nachdenklichkeit zitiere ich im Hinblick auf die gestrige Sturmflut und durchaus auch auf die Paralympics. Sollten die nicht direkt an den Leistungsrummel in London anschließen? Oder hat die Menschheit keine Lust mehr beim Anblick von gestählten Menschen?

«Veganismus glaubt, am Ende werde die Menschheit einsehen, ‹dass wir nicht das Recht haben, euch zu quälen›.

Veganismus sei gesund, gar gesünder. Vegan ist sportlich, vegan macht fit. Es gibt vegane Leistungssportler, Ironmen, Ultramarathonläufer. Übermenschen, die Nichtveganer schlagen. — Gesundheit bedeutet hier Terror des Gesundseins, physische Normierung, Ausgrenzung und Erniedrigung. Hass auf Kleine, Dicke, Schwache, Alte, Kranke, generell Abweichler. Wer sich auf den herrschenden Diskurs um Gesundheit und Schönheit einlässt, verliert alles darin und reproduziert bloß Sexismus und Ableismus.»

Mon Dieu !


* Mein kluger Kluge dazu: Sackerlot. Entlehnt aus frz. sacrelot, das eine Entstellung von frz. sacré nom (de Dieu) ist. Noch weiter geht die Entstellung zu Sapperlot. Ähnlich Sackerment und Sapperment zu Sakrament. Über Kluge hinaus neuniederländisch: sakkerloot, sapperloot.
 
Di, 14.08.2012 |  link | (2367) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 

Zwischen Rummelplatz und Aufzuhebendem

Mein vorgestriger Verweis auf, meine Selbstgemahnung daran, nicht nur die Beine in den Bach zu hängen, sondern auch ein wenig im Im Irrgarten der Kunstkritik von Marie Louise Syring beziehungsweise in den Considérations sur l'état des beaux-arts. Critique de la modernité von Jean Clair zu flanieren, treibt mich dazu, diesen völlig in Vergessenheit geratenen, in einen Aufsatz umgewandelten einstigen Vortrag hier einzustellen, da ich als Sprecher der wackligen Tieffluglinie moutard air weiterhin beabsichtige, meinen Senf zu dem Bändchen 22 der seit 1993 bestehenden Schriften zur Kunstkritik beizugeben. Diejenigen, die heutzutage der neuen Kunst huldigen, die sie umtanzen wie das hier zuletzt mehrfach erwähnte goldene Kalb, wird es weniger interessieren. Wer hingegen der Meinung ist, Geschichte sei kein Urknall oder auch nicht, wie die Beharrlicheren des eigentlich bewahrenden, also von vielen, wenn nicht gar von den meisten schlichtweg falsch verstandenen konservativen Denkens meinen oder vielleicht besser glauben, die Erde sei in wenigen tausend Jahren aus der kreativen Hand Gottes hervorgegangen, dem könnte es bei seiner Sehnsucht nach Differenz in der Sparte Kunst und Markt behilflich sein. Ein ziemlich alter Hut ist es dem sich ausschließlich aus dem Höchstaktuellen Nährenden zwar, aber ich bügele nunmal ganz gerne geknickte Zylinder auf, um sie in den Salons der aktuellen Plauderei als das Neueste umschmeichelnd auszustellen. Nach den ersten Einblicken in Marie Louise Syrings Rückblick in die französischen Neunziger, vor allem aber hineinschauend in die Backfabriken heutiger Kunstproduktion scheint mir dieses Selbstgedachte gar nicht mehr so altbacken. Ich lüfte damit zudem auch langsam ein kleines Geheimnis, aber die Karenz- oder auch Schonzeit, für wen auch immer, geht ohnehin ihrem Ende entgegen.

Die Kunst zwischen Markt und Museum

Drei Begriffe seien hier angesprochen, genauer: einer, der zwar nie unumstritten, aber immer doch in irgendeiner Form ge-, zumindest beachtet war und der zusehends droht, aufgerieben zu werden zwischen den beiden anderen: Kunstkritik zwischen Markt und Museum. Angesichts der Hilflosigkeit, die sich allenthalben in unserem Medienpluralismus (oder auch: innerhalb unseres populistischen Geraunes) breit macht, ließe sich auch sagen: Die Kunstkritik läuft immer mehr Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen, sich mit ‹dem Bauch zu äußern›; anders gesagt, sich seiner ureigenen etymologischen Bedeutung zu entledigen: der Beurteilung. Die Kunstkritik beurteilt immer weniger und ergeht sich immer häufiger in mehr oder minder wohlmeinender Beschreibung unter Zuhilfenahme von sprachlichen Allgemeinplätzen, oft in — für Leser oder Hörer — qualvollen quasiphilosophischen Umschreibungen. Allzu häufig scheint ein ‹Ariadne-Faden› aus Gummi zu sein, zieht er sich doch schier endlos durch das ‹Labyrinthische› eines Kunstwerkes, dessen Urheber darob die Luft auszugehen droht; und leider allzu oft kreist die Journalistenpoesie und gebiert ein Lüftlein.

Positionen werden in der Kunstkritik nur noch selten bezogen, Stellungnahmen (und seien sie persönlicher, extrem subjektiver Natur) kaum mehr geäußert. Die Aufgabe der Kunstkritik, nämlich die, das Kunstwerk in dessen Kontext zu erfassen, zu beurteilen und gegebenenfalls vermittelnd erläuternde Informationen zu einer Hörer- oder Leserschaft zu transportieren, scheint einem Phänomen geopfert zu werden.

Es ist ein Phänomen, in dem — es ist mir wichtig, gerade in der Zeit der Versuche, jedweden Ansatz marxistischer Theorie in den Orkus der Moderne stoßen zu wollen, diesen Namen (gegebenenfalls stellvertretend) zu nennen — Marcuses Bewertung der bürgerlichen Kultur in exorbitanter Weise verifiziert zu werden scheint: nämlich als eine affirmative, die Lebenswelt ästhetisierende. Die Rezeption der Kunst schlägt quer durch weite Teile der gesellschaftlichen Mittelschicht bisweilen abenteuerliche Kapriolen in ihren ästhetizistischen Äußerungen, die das Kunstwerk aus seinem Umfeld, aus seiner Ursache herauslösen und daraus eine anbetungswürdige Reliquie machen, obwohl sie, die Bewunderer — vor dem zuständigen Beamten oder am Hummer-Stammtisch — der Religion längst abgeschworen haben. — Es sei denn, man stimmt dem zu, was die, vielleicht gar nicht so böswilligen, Auguren als antiaufklärerisches Schreckensbild gemalt hatten: daß die Künste, insbesondere die bildende Kunst in ihrer partiellen Eigenschaft als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben werden.

Natürlich haben Der Makler und der Bohemien, um eine der bekannt ironischen Formulierungen von Hans Platschek zu gebrauchen, ein gerüttelt' Maß dazu beigetragen. (Wer hier mit Makler und wer mit Bohémien gemeint ist, brauche ich wohl kaum näher zu erläutern; auch nicht das geflügelte Wort von der Ausnahme, die die Regel bestätigt.) Und bei der Zuteilung der Rollen Huhn oder Ei oder Ei oder Huhn beziehungsweise wer oder was denn nun zuerst da gewesen sei, erübrigt sich im Zusammenhang mit den Folgen für die Kunst möglicherweise gar die Frage danach.

Zurück zur Kunstkritik, zurück zu meiner Kritik — durchaus Selbstkritik — an ihr. Um die Problematik ‹Kunstkritik zwischen Markt und Museum›, die mit der Verengung sachlicher und fachlicher Auseinandersetzung einhergeht, deutlicher machen zu können, will ich Beispiele nennen. Es sollen Beispiele primär aus der sogenannten alten Kunst sein, da die Lager der Vermittlungssysteme hierbei nicht minder ausgeschlagen sind und die Kunst ja immer nur in ihrem historischen Kontext zu sehen und zu erfassen ist. Denn immerfort ist der ‹zeitgenössische› Bürger mit seiner, lassen sie mich's mal flapsig sagen: Halb- oder Viertelbildung (vielleicht gerade deshalb?!) aufgefordert, ‹ästhetisch› zu genießen — wie überhaupt der Begriff Ästhetik ständig falsch, nämlich in bezug auf das Äußere, auf das Formale verwandt wird.

Ich erinnere mich an Äußerungen aus dem Jahr 1982, die sich auf die Ausstellung Von Greco bis Goya bezogen und die stellvertretend für andere stehen, eben auch die zeitgenössische Kunst. Sie ward angepriesen als «das Schönste und Erlesenste an höfischer Porträtmalerei», als «höfische Bildnisse mit moralischer Dimension», die «durchgeistigten Gesichter einer alten Rasse, die Großes verursacht, Schweres getragen und nun müde geworden war». Auch Genre-Gemälde gab es damals im Münchner Haus der Kunst zu sehen, verzückt beschrieben als «ördinäre Trink- und Freßgelage». Wo war 1982 und wo ist heute, angesichts der künstlerischen Aufgüsse gerade mal zwanzig oder dreißig Jahre alter Vorstellungen und Visionen — die Kunstkritik, deren Aufgabe es ist, solch', mit Verlaub, geistige Tieffliegerei zu unterbinden?!

Das Ornamentale und die Starrheit der Herrscherbildnisse des spanischen 16. und 17. Jahrhunderts waren nicht nur, wie uns der Kunsthistoriker und, in der fatalen, weil verdummenden, Folge der Kunstkritiker übermittelt hatte, individuelle künstlerische Sehweisen, sondern spiegelten vielmehr die ornamentale Ordnung, die im damaligen Hofzeremoniell Konflikte und jede praktische Dynamik (ästhetisch!) aufhoben. Die durch Caravaggio angeregte Hell-Dunkel-Malerei war Mittel der innerkirchlichen Opposition, traditionelle Werte umzudeuten. Standen zuvor Nacht und Finsternis für negative Werte und sozial niedrige Schichten, so ward das Dunkel dann zum Symbol der Negation sinnlicher Begierden und Erkenntnisformen. Wo war die Kunstkritik mit ihrem (fachlichen) Hinweis, daß das spanische Stilleben dieser Zeit, das Bodégon, wahrlich etwas anderes bedeutete als ein «lustiges Kabinett mit allerlei Eßbarem, das im spanischen Klima wächst»?! Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo den kritisierenden Hinweis gehört oder gelesen zu haben, daß die spanische Malerei von Greco bis Goya Spiegelbild war des Selbstverständnisses der Herrscher und des Volkes — letzteres verinnerlicht als Maya oder Mayo, nach Schopenhauer der «Nichtwissende», landläufig auch bekannt als der Idiot, der sogenannte Privatmensch der Antike, ein Typus, der im entscheidenden Moment an der Teilnahme politischer Entwicklungen gehindert war (und mehr denn je ist?).

Die Kunstkritik ist immer oder sollte sein: Kulturkritik! Diese ‹Kunst›, die Künste so herauszulösen aus dem historischen Zusammenhang, sie darzustellen als mehr oder minder geschmäcklerischen Solitär innerhalb einer geschichtlichen Entwicklung, wie das in den eben genannten Beispielen geschehen ist, stellt eine eklatante, nicht zu verantwortende Vereinfachung künstlerischer Projektion — vorausgesetzt, diese ist seriös — dar.

Ein Beispiel aus der — bereits Geschichte gewordenen — künstlerischen Zeitgenossenschaft: Joseph Beuys. Wer aus der Fakultät Kunstkritik hat nicht alles diese Halb-Sätze dieses Erneuerers immerfort zitiert: «Jeder Mensch ist ein Künstler»; «Wer nicht denken will, fliegt raus»?! Man konnte sagen und schreiben, schreiben und sagen, was man wollte: diese sinnentstellende plakative Zitierei (bevorzugt auf Postkarten, für die Freundin oder die Pinnwand zuhause) war nicht auszumerzen.

Beuys hatte nie gemeint, jeder Mensch sei Maler oder Bidhauer et cetera, sondern immer: jeder Mensch habe kreative Fähigkeiten, die er innerhalb der Gesamtheit des Lebens einbringen könne beziehungsweise solle. Und dieses «Wer nicht denken will, fliegt raus», das von manch einem immerhin noch, wissend oder ahnend, vor allem auf seinerzeit den Verkaufserfolg versprechenden ‹Kunst›-Postkarten, mit diesen Auslassungspünktchen [...] versehen wurde, bezog sich schlicht auf Studenten, die nicht begriffen hatten, was Beuys, der sich einfach in Rage geredet hatte, meinte.

Hier tut sich das Dilemma der Kunstkritik auf, die ganz offensichtlich im zunehmenden Spezialisiertwerden durch die curricularen Systeme beziehungsweise den enormen Zeitdruck, der durch den Aktualitätswahn der Medien entsteht (das meint auch den Konkurrenz- und Zeitdruck der sogenannten Freiberufler), daß die Kunstkritik als Korrektorin an Bedeutung verliert und sich vor den Karren der eigenen Hilflosigkeit spannt. Die Kunstkritik als solche hat keine Vorlieben zu haben (die dem Individuum unbenommen sind), sie hat sich, will sie ernst genommen werden, als erfahrene Erkunderin vor die vorderste Reihe zu begeben und dort, wenn's nicht anders geht, die Feder, die vorher gewetzt zu sein hat, zu schwingen; das will heißen: aus der Gesamtsumme der Informationen Herausgefiltertes, in die Wesentlichkeit der Aussage Gebrachtes in die hinteren Reihen zu transportieren. Die Kritik hat also integrierter Bestand-Teil der künstlerischen Avantgarde zu sein und nicht — die Zeiten haben sich nun mal geändert — wie weiland im 19. Jahrhundert Katalysator einer sich gebildet gerierenden Gesellschaftsschicht, die damit rechnet, daß sich auf Dauer die Seele als Organ des Kunstverstandes in einem geheimnisvollen Prozeß und trotz aller Irrungen durchsetzt.

Irrungen oder das Gegenteil von Avantgarde: So lange liegt sie noch nicht zurück, die Debatte um den Ankauf der Beuysschen Arbeit ‹zeige deine Wunde› durch die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus — womit ich mich den Begriffen Museum und Markt nähere. «Nicht das Gebastelte», schrieb der nicht nur in München angesehene Theater- und (ergo) Kulturkritiker Armin Eichholz, «ist das Ärgernis ..., sondern der schmuddelig investierte Intellekt.» Eichholz hätte es damals, 1980, lieber gesehen, «der Beuys-Rummel wäre eine grandios aufgezogene Satire von «Pardon›, und das ganze endete nicht, wie freilich zu erwarten, in einem neuen Kapitel vom Wesen der deutschen Kunst, sondern einem Weltgelächter für den bisher erfolgreichsten Narren des Kunstjahrmarktes».

Einmal davon abgesehen, daß Armin Eichholz als führwahr gebildeter Kunst- oder auch Kulturkritiker die Rolle des Narren bei Hofe — möglicherweise rhetorisch-manipulativ — nicht näher erläutern wollte: Zu einem Weltgelächter wurde Beuys nie, erfolgreich indessen sehr wohl, jedoch nicht als Narr eines Jahrmarktes, sondern, zu Lebzeiten, als Künstler — als Künstler, das muß ich eigentlich nicht hinzufügen, der, ebenfalls zu Lebzeiten, auf dem Markt erfolgreich war, obwohl er in seinen Intentionen damit alles andere als etwas an seinem Hut hatte.

Beuys hat persönlich immer versucht, die Preise für seine Arbeiten so niedrig zu halten, daß sie, im Kontext seines «anderen Kunstbegriffes», für jeden erschwinglich waren. Es dürfte bekannt sein, daß Beuys eine immense Flut an Zeichnungen produziert, diese Zeichnungen allerdings nachgerade inflationär unter die Leute gebracht hat. (Genaue Beobachter des Marktes haben, als Eigentümer oder auch als Besitzer Beuysscher Arbeiten diese wohlweislich markttypisch verknappend zurückgehalten.) Heute erfährt das Multiple als teilweise verklärender Träger des ursprünglich demokratischen Gedankens vom vielfach zu verbreitenden Kunstwerks eine — allerdings im Monetären wurzelnde — Renaissance. 45 Mark und nicht teurer wollte Beuys eine im Remscheider VICE-Verlag multiplizierte Arbeit verkaufen, was auch geschah. Kurz nach seinem Tod ging diese kleine Box auf einer Auktion für über 70.000 Mark über den Tresen. Der Markt hatte den Avantgardisten gefressen.

Mit Beuys hatte sich auch eine Entwicklung abgezeichnet, die die Ausstellungspolitik der Museen verändern sollte. Waren die Museen zuvor darauf konzentriert, was in der Natur ihrer Konstruktion liegt, konservativ (im Sinne von conservare, also: bewahren) zu agieren, hielt zusehends die zeitgenössische Kunst Einzug in den Musentempel. Die Ankäufe durch die Museen im Bereich der Gegenwartskunst irritieren kaum mehr. Das mag auch an den immer kürzer werdenden Intervallen liegen, innerhalb denen die Be-, manchmal auch Aufarbeitung der Moderne, genannt Postmoderne (analog dieser Entwicklung vielleicht auch: Post-Postmoderne) geschieht.

Der Museumsbedienstete namens Konservator heißt zwar immer noch so, doch seine Tätigkeit als Wissenschaftler gerät zusehends ins Hintertreffen angesichts des eben frisch von der Kunstakademie oder von sonsther Gekommenen, der endlich seine Museumsretrospektive haben möchte. War die Kunstkritik zuvor, im Hinblick dessen, was in Kunstvereinen, später in Kunsthallen ausgestellt wurde, Projektion zukünftiger Museums-‹Inhalte›, hat sie sich dann, jetzt als Bremser zu betätigen. Zu viele junge, besser: noch nicht bekannte Künstler versuchen, Stationen schlicht zu überspringen. Der Atemnot Tribut zollend geht die Kunstkritik — eine weitere Folge — nicht mehr ins Atelier (viele erwähnen, mit der eigenen Urteilskraft kokettierend, sie seien nie dort gewesen), sondern in die Galerie (wo sie das eine ums andere Mal die Konservatorin trifft).

Galerien, wir wissen es, gibt es seit den ausgehenden achtziger Jahren so viele wie Boutiquen in den siebziger Jahren. Der Preis für eine künstlerische Arbeit eines ‹jüngeren› Künstlers wird kaum noch von ihm selbst bestimmt; den übernimmt die Galerie.

Ein Beispiel, stellvertretend für die Sachlage: Eine junge Malerin, 28 Jahre jung, kommt unter die Fittiche eines renommierten Galeristen, durchläuft aufgrund dieser Reputation in Windeseile sechs angesehene Ausstellungsinstitutionen und erhöht zwei Tage vor Beginn eines Kunstmarktes des Jahres 1991 in einem telefonischen Rundspruchverfahren ihre Preise. Die Galerien-Satelliten klagen zwar, müssen jedoch akzeptieren — wie die Museen, das ist hinlänglich bekannt.

Die Zunft der Kunstkritik ist aufgesplittet. Der eine Teil, der die Arbeit dieser jungen Künstlerin kennt und schätzt, hätte gerne ihre Entwicklung noch eine Weile abgewartet, bevor er seine Empfehlung ausgesprochen hätte. Ein anderer nimmt's mit Schulterzucken zur Kenntnis, sorgt sich vielleicht, gerade noch, eher zu ersterem tendierend, um die Künstlerin ob dieses rasanten Satzes nach oben, wohl auch fürchtend, der Fall könnte ein tiefer sein, den diese Arbeit möglicherweise nicht verdient habe. Die nächste Abteilung des Fachbereiches Kunstkritik schreibt bei der anderen ab und sorgt für eine breite Streuung, die wiederum eine gewisse Popularisierung bewirkt.

Der Endpunkt, den dieser sich Kunstkritik nennende Banal-Journalismus mit formuliert, drückt sich in einer Mehrklassengesellschaft aus: Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, zu denen Ströme von Menschen hin-‹pilgern›, andere Betrachter, die auf Kunstmessen zunächst auf das Namensschild schauen und dann erst auf das Bild oder die Skulptur; Künstler, deren Arbeit, aller objektiven Qualität zum Trotz, so gut wie keine Resonanz findet; Museumsdirektoren, die — das ist ein, wenn auch unfreiwillig gewinnender ‹Rückschritt› — am Markt vorbei vielleicht wieder in die Ateliers gehen, wobei das eine ums andere Mal Entdeckungen gemacht werden, die nicht gemacht worden wären, gäbe es nicht diese fatale Konjunturüberhitzung des Kunstmarktes der letzten Jahre.

Die Rolle der Kunstkritik in diesem Geschäft des letzten Jahrzehnts ist am bekanntesten geworden durch das ‹Ereignis› der sogenannten Jungen oder auch Neuen Wilden. Ein paar Branchenführer hatten aufgrund von Umsatzeinbußen nach neuen Bildern gerufen (wobei zugestandenermaßen durchaus auch ein Bedürfnis außerhalb des Merkantilen gewachsen war). Nun, eine Plattform fand sich schnell. Eine Handvoll Kunstkritiker hatte im italienischen arte ciffra Neues entdeckt. Da der Markt des Minimalen oder auch Minimalistischen überdrüssig geworden war beziehungsweise diese Gattung(en) sich selbst zu zelebrieren begann(en), setzte man auf diese zeichenhaft figurative neue Malerei. Die auf Vorsicht und Zurückhaltung bedachte Kunstkritik gemahnte zur Ruhe, doch deren Adepten hatten, angeregt durch den Handel, ein neues, zu bearbeitendes, zu beschreibendes Feld gefunden. Drei Jahre gaben die Mahner in diesem Wirrwarr dieser die ‹Tradition› aufarbeitende Malerei, andere — ich gehöre zu ihnen — gestanden ihr fünf Jahre zu. Drei, fünf, sieben, sage ich: zehn Künstler haben ihre schnell gemalten Bilder in den Museen, viele in deren Depots stehen. Und — fast — so schnell, wie sie gemalt waren, wurden sie abgelöst von einem neuen «Hunger nach Bildern»: vom Fast Food des De-Konstruktivismus, immerhin ein (künstlerischer) Versuch, sich mit dem «Unvollendeten Projekt Moderne», wie Jürgen Habermas es genannt hat und einige aus der Kunstkritik es durchaus so beurteilt haben, auseinanderzusetzen.

Und nun? Was schreiben? Die einen reden sich heiser in ihren Klagen über die Stille. Andere empfinden diese als wohltuend. Karlheinz Schmid, wahrlich ein genauer Beobachter des Geschehens, zitiert in einer Ausgabe seines Informationsdienst KUNST Albert Oehlen «...Ein Bild muß nicht aussehen, als ob es so einfach aus der Hand geflutscht ist, deswegen kann es ruhig mal eine Quälerei sein, das ist wie im Sport.»

Ich empfinde es auch als angenehm — vielleicht nicht im Sinne von Albert Ohlen, nicht nur, weil ich den Vergleich mit dem Sport nicht nachvollziehen kann. Meiner Meinung nach hat zur Zeit die Kunstkritik wieder eine Möglichkeit, gehört, gelesen zu werden, eine Kunstkritik, die möglicherweise im habermasschen Sinne einer unvollendeten Moderne denkt oder, meinethalben, greifende Argumente nicht gerade im Hinblick auf eine Baisse dahingehend popularisierend verwischt, man erwarte den nächsten — nun also doch Oehlen — Felgaufschwung in gespannter Haltung, er komme gewiß. Die Kunstkritik hat, weil es in der Stille sich so vortrefflich nachdenken läßt — und die Stille (der Nachdenklichkeit) ist der Kunst immanent —, jetzt die Chance, mal wieder den Nachweis zu führen, daß sie sich nicht unbedingt aufreiben (lassen) muß zwischen Markt und Museum. Denn gerade in dieser Verschnaufpause, die dem Markt zur Zeit oktroyiert ist, kristallisiert sich doch heraus, daß die bedächtige, kontinuierliche Beobachtung kultureller Geschehnisse aus der Geschichte heraus bleibend wirkt. Analog ihrer Herkunft und ihres Ziels wird sie dort hinkommen, wo sie eigentlich hingehört: zurück zu ihrer Wurzel, zur Kunst, und diese über Beobachtung, Begutachtung, gradlinig über verschiedene Stationen zu begleiten — ins Museum.


Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags am 27. April 1991 für die Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth zum Thema Kunst und Manipulation — Die Moderne zwischen Markt und Museum; Urfassung gedruckt in: Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Band 68, Reihe Kulturpolitik, München 1994 (ISBN 3-88795-103-4); die hier vorliegende Version war nachgedruckt in Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 3; sie wurde nun, wenn auch gering, ergänzt.
 
Di, 14.08.2012 |  link | (1445) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Marktgeschrei



 

Sehnsucht nach Differenz,

bester Jagothello, wurde tatsächlich 1999 verfaßt, jedenfalls steht es so bei Lettre zu lesen: Sommer 1999. Es gesondert zu vermerken, das schien mir nicht notwendig. Unter Berücksichtigung von Produktionszeiten und was sonst noch dazugehört im Betrieb solcher Publikationen, die obendrein ohnehin nicht von allzu umfangreichem Personal begleitet sein dürften, ist es denkbar, daß Benvenuto den Essay auch früher geschrieben hat. Für mich, der ich das aus den USA kommende Geschehen immer einigermaßen im Blickfeld hatte, nicht zuletzt wegen übriggebliebener Verwandtschaft, und sei es geistiger, ist das auch unerheblich, denn es dient mir in erster Linie als Erinnerungs- oder Erweiterungskrücke. Dennoch kamen mir, als ich, der ich mich auch Frankreich betreffend für einigermaßen gut informiert hielt, aus Rick Fantasias Aufsatz Amerika in unseren Köpfen in Le Monde diplomatique Neuerungen entgegen, die offensichtlich aus des Soziologen Erfahrungsschatz stammten, die bis 1985 zurückreichten. Und auch die hier im Vorfeld meiner Links-rechts-Drehungen bereits erwähnte Akte Henry Kissinger aus Lettre International, die mich dann doch recht erschütterte, dürfte ncht an einem Tag gebaut worden sein.

Mir jedenfalls hilft es, die Ereignisse immer wieder mal abzurufen und sie durch «eigenes», letzendlich auch wieder aus anderen Quellen, nenne ich sie mal vertraulichen Charakters, erhaltenen Wissens, zu ergänzen. Es geschah bis zur Jahrtausendwende ja selten genug, tiefer in den Morast einsteigen zu können, da einem die gängigen Medien ein solches Schlammbad in Informationen nicht gönnten, obwohl sie es durchaus hätten tun können. Oder vielleicht auch wieder nicht, weil es dem Einen oder der Anderen aus der Zunft des investigativen Journalismus untersagt gewesen sein mag, allzu offenherzig zu sein. Es waren immer irgendwie unabhängige Publizisten, die bereit waren, sich weit aus dem Fenster zu lehnen, wobei sich zugestandenermaßen häufig Forscher darunter befanden, die befreiter aufschrei(b)en konnten, da sie entsprechenden Rückhalt hatten, der eben nicht allein nach dem US-amerikanischen, von der Wirtschaft dirigierten Prinzip der Nützlichkeit dirigiert worden war. Und es hat den Anschein, es könnte bei diesen Status quo geblieben sein, wenn heutzutage auch weitaus mehr ans Tageslicht kommt als noch vor zehn, zwölf Jahren. Aber man ist nach wie vor auf entsprechende Post angewiesen. Um so bedauerlicher empfinde ich es, daß, wie gestern hier erwähnt, wenn sich jemand aufmacht, im Stil einer Online-Zeitung «unabhängig» zu berichten, letztendlich doch nicht mehr dabei herauskommt als beliebige, bloggerübliche Polemisiererei, bei der erst gar nicht der Versuch gemacht wird, über die üblichen Informatiönchen hinauszugelangen. — Eine, gemäß meinem Verständnis von Kürze entsprechende Anmoderation.

Ich stimme Ihnen absolut zu. Benvenuto dürfte heute weitaus radikaler geschrieben haben, oder es hätte zumindest zwangsläufig radikaleren Inhalts sein müssen, hat uns der bildungstechnische Utilitarismus doch längst voll im Griff. Das Apodiktische sei mal dahingestellt. Der zehn Jahre junge Bologna-Prozeß wurde ja gerade gebührlich still und leise bejubelt, etwas lauter allenfalls von denen, die daraus ihren Gewinn ziehen, etwa die Arbeitgeber, die über einen Bachelor rascher an die heiß ersehnte sogenannte Fachkraft kommen, und sei es, daß die junge Bachlorantin, die wie eine Verrückte, bis hin zum jugendlichen Ausgebranntsein, das nicht einmal Zeit ließ für überlebens-notwendige Jobs beim Einsortieren von Waren beim Billigheimer, der bereits seine Stammkräfte lebensunwürdig bezahlt, prächtig auszuschlachten ist in noch 'nem Praktikum in der Werbeagentur, die den Markenkonsumismus bewirbt. Unlängst erklärte mir ein, ach ja, Kunsthändler, aber einer von der umfangreicheren Art, er könne mit diesem Bacholores nichts anfangen, da sie in der Regel nicht einmal einen Anflug selbständigen Denkens mitbrächten, er aber brauche das, da er sonst alles gleich selber machen könne, denn Hilfe sei ihm dieses hilflose, semitheoretische Herumhantieren in der Logik keine, manche verwechselten das mittlerweile mit der aus dem Militärischen stammenden Logistik. Da greife er lieber zu bei Absolventen des an sich schon kuriosen Studiengangs allgemeine Kulturwissenschaften, die wüßten zwar auch nicht sonderlich viel von Kultur und gleich gar nichts von Wissenschaften, aber das seien verwert- und verwendbare Ansätze. Ihm sei allerdings grund-sätzlich jemand, der sich im Laufe eines Studiums ausführlich mit der Materie befaßt habe, angenehmer, die Praxis im Berufsleben stelle sich bei Menschen rascher ein, die das Denken gelernt hätten, sie seien letztendlich effektiver, meinet-, seinetwegen effizienter einsetzbar als diese verlängerten Pennäler. Da lege er gerne einen Dollar drauf.

Ich bin davon überzeugt, daß es diese global operierenden Konzerne sind, die eine entscheidende Rolle in diesem System spielen, die es, ja, nicht nur fördern, sondern es sich ausdenken, begründen, um die Menschen zur Hochzeit ihrer Leistungsfähigkeit besser nutzen zu können. Nützlich-keitsprinzip unter dem Deckmantel der Identifikationsmöglichkeit für Ich-Suchende im Kreis der Familie genannten Firma. Im Alter von vierzig Jahren sind sie dann ausgelaugt und kommen in die Abstellkammer Psychatrie, einer Berufsgruppe, die dann auch nochmal reichlich Gewinne dort heraussaugt. Auch das ist meines Erachtens typisch US-amerikanisch, das in nächster zeitlicher Nähe auch den Süden des Kontinents okkupieren wird, die Ausbeuter nicht nur der Bodenschätze sind bereits anwesend. Man will keine mündige Menschen, die in der Lage sind, selbständig zu denken. Denn es könnte zur Folge haben, daß diese diesen Rummel um den Konsum, der die kulturellen Unterschiede bis zur Unkenntlchkeit auflöst, nicht mitzumachen bereit sind. Dann wären all die schönen Gewinne dahin. Ja, das ist Ur-US-amerikanisch, nur zu gerne übernommen mitten in Europa und längst auch in Asien. Und es scheint weiten Teilen der Völker gut zu gefallen, wie die Nominierung des, fast steht es zu befürchten, kommenden US-Vize-Präsidenten andeutet. Andererseits, die dortige demokratische Partei als politisch «links» einzuordnen, wie das in Europa häufig geschieht, halte ich für ebenso waghalsig wie diesen Kapitalismus, der von den meisten Republikanern und durchaus auch von Demokraten propagiert wird. Warten wir's ab, wie lange es noch dauern wird, bis die Monsantos und wie sie sonst noch alle heißen, sich auch das Recht auf menschliches Leben werden patentieren lassen. Bei den Tieren, also nach der Devise Fleisch ist mein Gemüse, geschieht das bereits mittels Klonen. Verfügten die Bevölkerungen, ob in Frankreich oder in Deutschland oder in den USA oder sonstwo, wobei es mir in Mutti Merkels Land bald so heftig zu sein scheint wie bei unseren amerikanischen Freunden, über umfassendere Ausbildungen, sie würden diesen Tanz ums goldene Kalb nicht mittanzen.

Ach, ich bin ein offenbar hoffnungsloser Romantiker, der entgegen seiner ständigen Verlautbarungen des Nichtglaubens, dann doch glaubt, daran möglicherweise, wie gut alles hätte werden können, hätten die Deutschen die Care-Pakete zurückgeschickt und den Marshall-Plan verweigert. Dann klaffte vermutlich heute nicht so eine riesige Schere zwischen arm und reich, vor allem aber zwischen geistiger Armut und nach wie vor erstrebtem Glück durch Schein. Aber der Romantik gegeben ist nunmal, jedenfalls im weit verbreiteten Verständnis, der Glaube, meinetwegen an das Gute im Menschen. Hier zitiere ich gerne aus der Erklärung von Wikipedia: «Abwendung von der Antike und von klassischen Vorbildern», außen glanz- und prachtvoll, innen aber hohl. «Das heißt, die mit dem Terminus Romantiker bezeichneten Autoren erschließen sich Themen aus ihrer eigenen Kultur und Geschichte und wenden sich ab von klassischen Formen, was aus der nachträglichen und historischen Perspektive die Vorliebe für eine fragmentarische Schreibweise in der Romantik erklärt. Die Hinwendung zur eigenen Kultur bedeutete zugleich eine stärkere Hinwendung zur Sagen- und Mythenwelt des Mittelalters.» Aus dieser geographisch dem Süden zuzuschreibenden Epoche stammt auch der von mir immer wieder erzählte Roman: ziemlich lang und voller Mythen. Die jedoch, das sei abschließend angemerkt, nichts anderes bedeuten als Überlieferung, erzählte alte Welt. Und Mittelalter paßt auch gut. Ich bin ungefähr mitten im Alter. Im Jüdischen gratuliert man mit den Worten zum Geburtstag: Bis 120. Wenn ich auch nicht daran glaube.
 
So, 12.08.2012 |  link | (6668) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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