Von der Maas bis an die Memel,

von der Etsch bis an den Belt.

Einige Tage bevor ein Kanzelminister typischen deutschnamens Pofalla wohl stellvertretend für alle erdenklichen Politiker der Europäischen Union die Angelegenheit ein für alle Male als erledigt bezeichnete, referierte im Fernsehen etwa eine Stunde lang ein Herr, der seit Jahrzehnten die Praktiken der Geheimdienste aller Herren Länder verfolgte, sie untersuchte und darüber auch ein Buch veröffentlichte. Seit Adenauers Zeiten sei Horch auch in der BRD gängige Praxis, das sei jedem einigermaßen informationswilligen Bürger nicht nur des freien Westens hinlänglich bekannt, ebenso die Tatsache, daß es seit Jahren der Internationale der Ab- und Aushorcher möglich sei, kodierte Mitteilungen per Mobiltelephon oder eMail et cetera zu entschlüsseln; größtenteils hätten etwa soziale Dienste, auch bekannt unter der Bezeichnung Netzwerke, jene, die sich mittlerweile darüber beklagen, sie seien ebenfalls abgehört worden, sowie an den Börsen notierte mehrwertorientierte Neumedien-gesellschaften bereitwillig zum Entkodierungsrätsel beigetragen. Dabei hätten die deutschen und anderen europäischen Lauscher sich stets an die Gesetze gehalten, angezapft worden sei jeweils außerhalb des Gebiets des vereinigten Europas.

Man hat diese Aufzeichnung einer Hörfunksendung des Südwestdeutschen Rundfunks notgedrungen auf einen Sendeplatz um drei Uhr früh gesetzt; vermutlich war die Hauptsendezeit durch andere Tatorte belegt. Leider steht mir die Aufzeichnung nicht mehr zur Verfügung; der der sozialen Gemeinschaft äußerst dienliche Vertrag zwischen privatwirtschaftlichen Zeitungsverlagen und öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten hat sie im Nirgendwo verschwinden lassen.

Glücklicherweise haben seit den Aufklärern Denis Diderot et all noch einige ihrer Art überlebt. Einer von ihnen hat vor ein paar Tagen festgestellt: «Merkels Handy soll abgehört worden sein. Seit 2002. Oh Gott! Was für eine sensationelle Neuigkeit?» Eine Einführung in die

Politische Wissenschaft.
 
Sa, 02.11.2013 |  link | (9657) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Heimat, ein Los

Der eigentümologisch kluge Kluge beschreibt sie wie folgt:
‹heimoti›, ‹heimuoti› mittelhochd. ‹heimot› (got.), nur die im zweiten Glied abweichende Zusammensetzung ‹haimothi› für Grundbesitz, die in ahd. ‹heimodil›, oberösterreich ‹hoamatl›, für Gut oder Anwesen wiederkehrt mit derselben Endung wie Armut und Einöde zu germanisch ‹haima› für Heim.


Ein anderer beklagt sein Los auf diese sanfte Weise.

Es dürfte wohl Christian Morgenstern gewesen sein, bei dem ich vor Jahrzehnten gelesen habe: Heimat sei überall dort, wo man Freunde finde. Heimat. Wie oft in meinem mittlerweile nun doch bereits eine Weile andauernden Leben, auf dessen Ende ich mich seit einigen Monaten vorbereite, meinte ich, angekommen zu sein. Doch immer wieder aufs neue mußte ich feststellen: es gibt keine Endstation. Jedenfalls keine im Leben.

Seit ich erste eigene Gedanken entwickelt habe, möglicherweise gar bereits innerhalb meiner präintellektuellen Phase, in der mir Botenstoffe des Denkartigen oder -würdigen noch über die mütterlichen Brustduftdrüsen in die Synapsen injiziert wurden, befand ich mich auf der Suche nach der Bedeutung des erst später erfahrenen Begriffs, der sogar in anderen Sprachen als der deutschen scheinbar heimatlos herumirrt; von der gleichen Fremdheit wie etwa Kindergarten oder Waldsterben. Heimat. Es mag an meiner später erfolgten, eigentlichen Sozialisation liegen, die innerhalb deutschsprachiger Regionen stattgefunden hat, wo Heimat alles andere als ein Fremdwort ist. Beispielhaft wären die Ost- und sicherlich auch die Nordfriesen zu nennen, die derart von ihrer Heimat beseelt sind, daß sie zu nahezu jedem Wochenende von ihrem Arbeitsplatz im tiefsten Süden Deutschlands die rund tausend Kilometer bis an die Wasserkante klaglos bewältigen. Auch die jeweils bevorstehende sonntägliche Rückreise auf der völlig überfüllten Autobahn hält sie davon nicht ab. Und ein Wendländer berichtete mir, er käme erst gar nicht auf die Idee, die Grenzen seiner Gemarkung zu überschreiten. DAN, das Kraftfahrzeugkennzeichen für Lüchow-Dannenberg, gehört folglich zu den Raritäten auf den Straßen außerhalb Nord-Niedersachsens.

Nach einer Heimat habe ich mich immerzu gesehnt, wo auch immer ich mich aufhielt. Es ging mir wie dem Kleinkind, das sich nach nichts anderem sehnt, als nach dem immergleichen Blick aus dem Bettchen auf die Decke, der sich nach dem Öffnen der Äuglein ergibt. Ein weiser Pädagoge hat diese meine Sehnsucht, die ich als etwa Dreißigjähriger ihm gegenüber einmal erwähnte, da ich mich sicher wähnte, er würde mich dieser seltsamen Anwandlungen wegen nicht spöttisch belächeln, einmal psychologisch bestätigt. Es sei für die positive Entwicklung eines Kindes von elementarer Bedeutung, ihm bis etwa zum Alter von drei Jahren eine gewohnte Umgebung zu bieten, angefangen beim feinen und mit Heu ausgepolsterten Weidekörbchen, in das man einst einen Religionsgründer bettete, bis hin zum ersten Gefängnis namens Laufstall, auf daß der erste Horizont sich nicht allzu ausschweifig gestalte. Dieses Gespräch fand allerdings in den Siebzigern statt, also weit vor der Zeit, in der ich als nunmehr fast Siebziger immer noch auf der Suche bin nach der Perspektive aus dem Bettchen nach oben zum Himmel mit funkelnden Sternchen aus Staniolpapier.

Bereits als Allerkleinster wurde ich in der Weltgeschichte herumgekarrt. Ein leichtes wäre es, diesen Wandertrieb meiner Eltern damit zu erklären, es hätte ihnen im Blut gelegen. Es existiert schließlich die nicht nur theologisch begründete Behauptung, die jahrhundertelang andauerende Vertreibung aus aller Herren Länder habe sich historisch bedingt genetisch niedergeschlagen. Ich vermute allerdings, es könnte ein anderer Fluchtreflex gewesen sein, der Flucht vor sich selbst.

Bei mir begann es zu einer Zeit, als andere aus Leningrad in Richtung Westen flüchteten, während meine Eltern freiwillig gen Osten aufbrachen. (Der freundliche Enzoo hat diesem historischen Akt einmal ein Denkmal gesetzt, das zugleich meine darauffolgende Übersiedlung in die Gemarkung finnischer Cowboys würdigt.) Möglicherweise lag der Drang in die östliche Richtung nahe, da es meinen Vater nach Heimat sehnte; sie lag jenseits des Ural. Und zu diesen Zeiten gehörte es nunmal zu den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, daß eine Frau dem Gatten zu folgen hatte, und stamme sie auch noch so weit westlich ab, wie das bei meiner Mutter der Fall war.


Der Leningrad-Cowboy wurde im Anschluß an den Aufenthalt in der Stadt, die seinerzeit noch nicht wieder in Heilig Petersburg zurückumbenannt worden war, zunächst in den Westen gerollt, in die Region, wo kurze Zeit zuvor im finnisch-russischen Winterkrieg noch Töter agierten. Suomi sollte mein erster Versuch der Heimatfindung sein. Im Gepäck meiner Eltern zog ich zwar zwischendurch immer wieder in andere Länder, in andere Erdteile, aber nach Finnland kehrten wir immer wieder zurück. Irgendwann nämlich verweigerte sich meine ohnehin eher bodenständig veranlagte Mutter dem Nomadenleben. Dazu beigetragen haben dürfte ihre solide Ausbildung als akademische Bibliothekarin, die ihr eine Anstellung in einer renommierten Stiftung einbrachte. Es ließe sich als der Beginn einer Emanzipation bezeichnen, die dazu führte, meinen Vater aufzufordern, gefälligst alleine weiterzuwandern in Gegenden, in denen es durchweg nicht anderes zu tun gab, als Gesteine zu erforschen. Ich wurde in ein Internat abgeschoben, was mir insofern durchaus zupaß kam, erhoffte ich mir auf diese Weise so etwas ähnliches wie ein tatsächliches Zuhause. Dort erlernte ich erste Ansätze gemeinschaftlichen Lebens, unter anderem beim Eishockeyspiel, in dem der rüde Umgang mit dem Gegner regelkonform ist. Das Spiel blieb mir erhalten auch nach meiner Übersiedelung nach Berlin, wo ich fortan Preußen verteidigte. Doch wann immer das blaue Kreuz auf weißem Grund, siniristilippu, etwa anläßlich einer Sportübertragung, im Fernsehen wehte, ich gehörte zu denen, die selbst beim Fußball, einer im sogenannten Land der tausend Seen eher unterentwickelten Spielart, mich als flammender Nationalist erwies und in der Charlottenburger Kneipe laut S-u-o-m-i skandierte; der Begriff Imigrationshintergrund sollte erst sehr viel später aus Gründen politischer Korrektheit kreiert werden.

Dieses Heimat-Fanalische hielt sich bis zu meiner Übersiedlung in den Süden Deutschlands, in die Marktgemeinde, die Ödön von Horvath mit seiner Italienischen Nacht eindruckvoll charakterisierte und die zu dieser Zeit durchaus als postnationale oder auch präsozialistische Nachwehen erkennbar waren. Ich fühlte mich wohl in diesem Städtchen, zumal mir freundliche Menschen eine Behausung boten, die mir überdies einen freien Blick über das Murnauer Moos bot, das in meiner Phantasie über die Gemälde des Blauen Reiters festgemacht hatte. Es war also unter anderem die Kunst, die Malerei, die mir über diesen voralplerischen Landstrich ein Stück Heimat bot.

Daß ich Finnland, die Mentalität dieser Menschen und deren Kultur erst sehr viel später, als ich schon gar nicht mehr sehnsuchtsvoll dorthinreiste, kennenlernen sollte, muß damit zu tun haben, daß ich mich darin verwurzelt fühlte. Aki Kaurismäki oder Mauri Antero Numminen, mit dem mich via Laubacher Feuilleton eine Zeitlang eine reizvolle Korrespondenz verband, haben entscheidend zur Festigung dieser Verbundenheit beigetragen. Allerdings kann ich heute nicht mehr behaupten, es seien Heimatgefühle. Sie sind ausgeschieden, ich muß weitersuchen.

Häufig kommt es neben der der Frage nach dem beruflichen Werdegang (Was mach'sten du so?) auch zu der unvermeidlichen nach der Herkunft. Gestellt wurde sie, obwohl ich offensichtlich über keinen Imigrationshintergrund verfüge, zudem leicht erkennbar der kaukasischen Rasse zuzuordnen bin, in der Regel von Menschen, denen ich in Küchen begegnete, in denen während der Parties der Nudelsalat bevorzugt eingenommen wurde. Das Witzchen, ich sei in einem Hotel beim Bettenmachen gefunden worden, zündete bei einigen nicht so recht, und auch mein Hinweis auf Moses in seinem Körbchen auf dem großen Nil fand nicht unbedingt Anerkennung als seriöse Auskunft. Immer wieder mal sah ich mich genötigt, Mutterländisches zum besten zu geben. Die häufigste Reaktion lautete und lautet noch heute, es müsse doch etwas Wunderbares, ja –schönes, etwas Großartiges sein, bereits in jüngsten Jahren in der Welt herumgekommen zu sein. Mein oftmals erfolgter Hinweis auf eventuelle andere Sichtweisen rief in den meisten Fällen zumindest den Ansatz von Erstaunen hervor. Zustimmung für meine Heimatsuchperspktive fand ich durchweg erst dann, wenn ich mein Leid klagte, über solch bezaubernde Erlebnisse wie etwa ein Sandkasten-, Kindergarten- oder Klassentreffen nicht zu verfügen, da immer dann, wenn sich meinerseits zarte freundschaftliche Bande zu entwickeln begannen, meine Eltern gerade wieder Kisten und Koffer packten; Freundschaften, so hatte meine Mutter mich in meinen spätjugendlichen Jahren, kurz vor unserer Scheidung, belehrt, stellten ohnehin nichts als Stolpersteine dar auf eigenen Wegen zu Zielen des Lebens.

Vor einiger Zeit habe ich mich also mal wieder aufgemacht. Mein Drang zur Flucht (vor mir selbst?) hatte mich mal wieder erschüttert. Alles habe ich liegen und stehen lassen, mich in Zielrichtung einer Endstation begeben, da mir jedwede Perspektive abhanden gekommen ist. Doch ich mußte festellen: Es gibt keine Endstation, zumindest keine namens Heimat.

Von jungen Jahren an war ich immer wieder einmal kurzzeitig vom Glück beseelt, angekommen zu sein. Wo auch immer ich Station machte, es war jedoch nie von Dauer. Einst war es der Blick übers Murnauer Moos, den mich der Blaue Reiter gelehrt hatte. Dorthin zog es mich. Ich hatte das Glück — andere mögen es als Schicksal bezeichnen — , auf freundliche Menschen zu treffen, die mir genau an diesem temporären Sehnsuchtsort, den ich durchaus mit der Suche nach einer Erklärung für die Kunst, hier der Malerei, verband, eine optische Horizonterweiterung in Form eines Zuhauses zu bieten, von dem ich sicher war, es sei ein endgültiges. Ein Jahr später war ich bereits in die große Stadt im Norden des oberbayerischen Südens geflohen. Als in der Großstadt Geborener und in Metropolen Aufgewachsener hielt ich die Enge der seinerzeit noch immer stark von der Enggeistigkeit der beschaulichen Marktgemeinde, die Ödön von Horvath in seiner Italienischen Nacht, nenne ich’s mal so, trefflich beschrieben hat, nicht mehr aus. Es erfolgte die Vertreibung aus dem Paradies. Dann landete im sogenannten größten Dorf der Welt. Eine Offenbarung möglicher Heimat war es nicht. Vom ersten Tag an befand ich mich auf der Flucht. Immer wollte ich hinaus aus diesem Ort, den der vor Jahrzehnten von der münchnerischen Süddeutschen Zeitung zum in Hamburg ansässigen Spiegel geflohenen Claudius Seidl als «unsere kleine Stadt» bespöttelt hatte. Fast dreißig Jahre ging das so. In den Anfängen hatte ich zwar hin und wieder das Gefühl, in eine Art Heimat einzureisen, etwa dann, wenn ich in der Bahn die Weinhügel Frankens durchquerte. Diese leichten Anflüge von Heimat-Euphorie hielten nicht lange an. Schließlich beschloß ich, es habe keine Frage des Ortes zu sein, wo man beheimatet sei.

Gegen Ende der neunziger Jahre brach mein System zusammen, das die Medizin der Hirnforschung zuschreibt. Der chefärztliche Neurologe einer Unversitätsklinik diagnostizierte einen Dachschaden, zwar genetisch bedingt, aber eben doch erheblich. Der war meiner Heimatforschung allerdings durchaus zuträglich. Ein Kinofilm spülte mich an einen Ort, von dem ich sicher war, bei ihm allein könne es sich um die Endstation meiner Sehnsüchte handeln. Und wieder handelte es sich um eine Stätte, an der die Malerei ihre Spuren hinterlassen hatte. Doch sie ergab sich als ein Nebenprodukt. Mich interessierte nicht so sehr, daß ein Braque oder ein Picasso und noch einige Artisten dieser Art mehr dort ihre Malspuren hinterlassen hatten, sondern die Charakteristik einer Gemeinschaft hatte mich angezogen, die mir über dieses stille filmische Meisterwerk vermittelt wurde. Es hatte mich nach l’Éstaque getrieben. Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich meiner Herkunft, zumindest mütterlicherseits, die andere als eigentliche Heimat bezeichnen. Überdies gilt die Mär, einen jeden zöge es ans Mittelmeer; Joseph Roth behauptete gar: «Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.» Dort saß ich dann, immer in einem der beiden Cafés, die im Land auch als BarTabac bekannt sind, um den Quai des Belges herum und schaute auf den Alten Hafen. Fortan war ich beheimatet.

Von dort aus korrespondierte ich angeregt mit einer Frau. Frauen spielten in diesem Abschnitt meines Lebens, der extrem von einer vorübergehenden Amnesie gekennzeichnet war, verursacht durch meinen Dachschaden, die beziehungsweise der partiell bis heute anhalten, eigentlich nur noch eine Nebenrolle; sie fand ihren ausgeprägtesten Ausdruck in der immerwährenden Anschaung dieser seltsamen Gattung der Menschheit. Doch diese Dame trieb mich in den Norden. Allerdings nicht etwa in den der Provence. Richtig in den Norden. Dorthin, wo ich ich immer schon meinte, beheimatet zu sein. Nach Schleswig-Holstein. Mit der Dame funktionierte es in der Gemeinschaft dann zwar nicht so recht, aber ein neues Gefühl von Heimat sollte sich einstellen. Nach einigen Jahren der Abgeschiedenheit auf einem südholsteinischen Dorf war die definitive Entscheidung gefallen: angekommen. Ein anderes Zuhause würde es nicht geben.

Nun bin ich während meiner Suche nach Heimat, während meiner Reise durch die Vergangenheit dann doch wieder im Linksrheinischen gelandet. Es hat den Anschein, mein Körper und der möglichweise dazugehörende Geist möchte doch lieber von den Fischen des Mer méditérranée angeknabbert oder aufgefressen werden; ich habe vor längerer Zeit beschlossen, ihnen das zu gönnen, was ich ein Leben lang allzu gerne mit ihnen getan habe. Es könnten auch die des Atlantique sein, da sie in ihrem Wesen mit denen der Nordsee verwandt sein dürften.

Zuvor durfte ich jedoch noch erleben, wie sich die morgensternsche These oder auch Theorie von der Verbindung zwischen Heimat und Freunden als Praxis erweist. Unweit des Rheins befindet sich ein Pungeville s. R. (letztes dürfte ohnehin für sur Rhin stehen) geheißenes Anwesen. Auf ihm befindet sich ein Haus, das nicht nur architektonisch meiner Vorstellung von Paradies gleichzukommen scheint, da es gleichermaßen lichtdurchflutete Helle und wärmende Harmonie darstellt; würde ich ein Haus bauen wollen, was mir in meiner Phantasie tatsächlich einige Male vorschwebte, es sähe ziemlich genau so aus. Und in seiner von Ruhe und Gleichmut oder auch Gelassenheit bestimmten Lebhaftigkeit des Innenlebens erinnert es mich an meine Idee des Mehrgenerationenheims, die ich Anfang der neunziger Jahre in La Rochelle gerne verwirklicht hätte, die aber daran gescheitert sein dürfte, daß es den anfänglich an diesem Vorhaben Interessierten zu sehr Utopia gewesen sein dürfte, also ein Nicht-Ort. Heutzutage gehört es fast zum Alltäglichen, sich im aufkommenden Alter in Wohngemeinschaften zusammenzutun. Der einst utopischen Wohngemeinschaft der sechziger Jahre kommt das allerdings nur noch entfernt nahe, handelt es sich bei den neueren Arrangements doch nur noch um Zweckgemeinschaften, die sich lediglich an mehr oder minder vorhandenem Geld orientiert. In Pungeville ist jedoch tatsächlich die Gemeinschaftsidee umgesetzt. Zwar handelt es sich bei den Eigentümern und Mietern ebenfalls um Menschen fortgeschrittenen Alters, aber nahezu immer sind auch jüngere oder nachrückende Generationen zu Gast. Es finden Ausstellungen sowie Theater- oder sogenannte Kleinkunstauführungen und auch Konzerte statt, und ein zum Inventar gehörender Schriftsteller ist alles andere als ein Hinterhofdichter. Nicht nur im Ansatz kommt in mir die Verbindung zur Romantik auf, deren Vorphase Aufklärung mich in jungen Jahren gar akademisch beschäftigte, in der Leben Kunst bedeutete und Kunst Leben; das vielzitierte und gerne auch falsch interpretierte L’art pour l’art ist ein Begriff, der aus dieser historischen Epoche herrührt.

Zwar weiß ich nun noch immer nicht, was Heimat bedeutet oder gar sein könnte, doch Pungeville s. R. könnte der Heimat ein Heim bieten.

* Im Deutschen kennt man den Weißwurstäquator; er kommt in der Bedeutung in etwa dem schweizerischen Röstigraben gleich. Als eine französische Grenze dieser Art bezeichne ich das Gebiet, das eigentlich eine klimatische Trennung darstellt: Einige Kilometer südlich von Lyon, etwa ab Vienne, erhellt sich alles, wird lichter, die Cigales beginnen lärmartig zu zirpen, kein von den Deutschen Heimatgefühle hervorrufender Tann trübt mehr den Blick. Nördlich dieser Sprachbarriere spricht man barbarisch. Als Barbaren werden von den Südfranzosen nicht etwa die Wikinger oder auch Germanen bezeichnet, sondern diejenigen, die stottern und stammeln. Das mag aus der Zeit herrühren, als das Langue d’oc, im Gegensatz zum nördlichen langue d'oi, noch vorherrschend gesprochen wurde. «Das Provençalische», so Michael Bengel, «war wie das Französische auch aus dem Vulgärlatein hervorgegangen, im Süden gleichberechtigt dem Latein als Amtssprache: Es war die Sprache der Verwaltung wie des Volkes — und es wurde im 12. Jahrhundert die Sprache der ersten Kunstlyrik des Abendlands.» Es war die Zeit, als die Minne sang.

Selbstverständlich haben die Pariser recht, die als einzige gutes Französisch sprechen. Allerdings vergessen die Pariser gerne, daß sie allesamt aus der Provinz kommen, aus welcher auch immer. Der Vergleich mit den Wecken gleich Schrippen in Berlin könnte zulässig sein.


Nach(t)wort
Ich habe, sowohl inhaltlich als formal, sicherlich schon Interessanteres von mir gegeben. Doch ich lebe zur Zeit unter einigen Erschwernissen, bei denen die körperlichen der leichteren, beinahe nebensächlichen Kategorie zuzuordnen sind. Die Thematik bewegt mich seit langem, und die Gedanken dazu wollten aufgeschrieben sein. Ich habe es also in erster Linie für mich in meine Kladde geschmiert. Wohl ahnend, es könnte noch einige andere Menschen interessieren, habe ich mich für die bemüht, es festzuhalten.

 
Fr, 01.11.2013 |  link | (7381) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Aufklärung, Kirche, Religion.

Dabei handelt es sich um elementare Programmbestandteile der Bildungsinstitutionen Radio und Fernsehen. Ein wenig Verblüffung oder auch Erstaunen kommt allerdings auf, wenn die Kulturredaktion eines deutschen öffentlich-rechtlichen Radiosenders fast vier Minuten über den heute den Rhein grenzüberschreitenden Film Die Nonne kritisch oder auch wohlwollend berichten läßt, aber kein Wörtchen Zeit dafür erübrigt, auf welchem Buch dieser Filmstoff basiert, nämlich auf La Religieuse von Denis Diderot, dem großen Enzyklopädisten und Kirchenkritiker der Epoche der französischen Aufklärung. Die Hauptsache scheint zu sein, daß in dieser französischen Produktion eine deutsche Schauspielerin mitwirkt. Somit wird’s fast schon wieder romantisch. Oder so boulevardesk, wie diese historische Epoche der sogenannten Gegenaufklärung heutzutage ohnehin ausgelegt wird.
 
Do, 31.10.2013 |  link | (5853) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 







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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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