Macht hoch die Tür, das Tor macht weit ... Wie immer zu spät: Nachgeklappere zum Tag aller Tage, dem Nineeleven oder mein 11.11. Den Stau habe ich noch recht gut in Erinnerung: Die Überfahrt von Stralsund nach Rügen. Es war kurz nach der Übernahme der Deutschen Demokratischen Republik durch das bundesrepublikanische Kapital und das französische Schmieröl. Alle Schleusen waren sozusagen geöffnet. In alle Himmels-Richtungen. Die einen holten die letzten Kanister zweigetakteter Energiespender aus dem Keller, um sich bei Hof oder anderswo Bananen zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe von Trabant oder Wartburg klemmen zu lassen oder in Neuschwanstein die Italiener, Japaner (oder wie diese ganzen Preußen sonst alle noch heißen) in die Flucht zu schlagen. Die anderen packten den Tiger oder sonstwas in den Tank und stellten ihre mittelklassigen (Protz-)Karossen in DDR-Engpässen ebenso ab wie am Brandenburger Tor — oder eben dem Rügendamm. Die einen flohen in den Westen, die anderen in den Osten. Auch ich gehörte zu diesen wendehalsischen Richtungswechslern. Jahr(zehnt)elang war man der Kosten wegen (geil hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung als Geiz; auf letzteres hatten wir keine Lust) via DDR gen Skandinavien gereist, um sich mithilfe einiger zwischen den Rücksitzen versteckten Flaschen GaBiKo (das steht nicht etwa für ein Internetforum oder eine Firma aus dem schweizerischen Zug, sondern schlicht für Ganz Billiger Korn) aus den auch damals schon real existierenden, ganz unten angesiedelten Sortimentern zwei Wochen lang gemeinsam mit den Numminens oder Kaurismäkis dem Land die tausend Seen leerzusaufen. Startrampe war für uns Berliner jedweder Herkunft Saßnitz, ganz oben auf Rügen gelegen. Und um dort hinzugelangen, mußte man eben durch die DDR. Aber Abweichlertum wurde so heftig geahndet, wie man es vom ostdeutschen Büttel der sowjetischen Kommunismusinterpretatoren gewohnt war. Wegen Spionage, am Ende gar für den kapitalistischen Westen, in Bautzen gezüchtigt zu werden, das wollte man dann doch lieber nicht riskieren. Also blieb man vorsichtshalber auf der sogenannten Transitstrecke, bloß keine Reifenbreite vom für Wessis mit Westgeld planierten Trampelpfad runter! Doch als die Schlagbäume hochgegangen waren, da war kein (An-)Halten mehr. Endlich mal rechts oder links rausdürfen, ohne gleich wegen politischer Umtriebe weggesperrt zu werden, nur weil man sein Wasser mal an einem anderen Baum abschlagen wollte. Endlich mal durch die schier endlosen Kohlfelder streifen dürfen und den Myriaden von Faltern dabei zuschauen, wie sie im Vorfeld so eine Ostjahresproduktion Sauerkraut wegfressen. Man wurde (aus mit den Jahrzehnten gewachsener Horch- und Guck-Tradition?) schon arg beäugt zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Weniger von den Kohlweißlingen. Denen war es vermutlich egal, mit welcher Kraftfahrzeugmarke man ihre Insel verpestete. Aber mit so einer Untertürkheimer Bonzenschüssel! Das war fast so unangenehm wie in Südfrankreich, wo zu dieser Zeit der Anblick eines solchen Gefährts auch schonmal eine sich eben anbahnende Freundschaft im Keim ersticken konnte. Seltsam berührt schauten beileibe nicht nur diese vermutlich dreißig Jahre zuvor in einem alten Gehöft abgestellten und vergessenen Debilen, bei denen man (unter Benutzung der Straßenkarten des Großdeutschen Reiches, die, wenn ich mich recht erinnere, vom Billigheimer der älteren Rechte auf den Markt gekippt worden waren) gelandet war. Auch der scheinbar richtig im Koppe gelagerte Ossi setzte sich in der HO-Gaststätte — beim durchaus wohlschmeckenden güldenen Broiler (mittlerweile, in EU-Norm: BrEUler) für Mark einsfünfundneunzig (West!) — vorsichtshalber mal ein Stuhl weiter. Er hatte unsereins nämlich aus der Edelkarosse steigen sehen. Denn für die Neubundesbürger reichten sämtliche von jedem erdenklichen Verwandtschaftsteil zusammengepumpte Ostmark (eins zu eins für Westmark) letztendlich dann gerademal doch nur für einen zehn oder mehr Jahre alten Opel oder, als quasi zenitischen Fall, BMW, der dann eben in der Regel auf der eilends geradeausgeflickten Piste nach Bergen (auf Rügen) gegen einen der noch zahlreichen Bäume hochkant gelehnt wurde; man fuhr diese Geräte eben so, wie man es von Trabbi und Wartburg her gewohnt war: das Gaspedal immer bis zur Bodenplaste durchgetreten. Aber zuvor mußte man eben von Stralsund aus über den Rügendamm. Und über den wollten noch andere Wessis, die den Ossis eben mal ihre dicken Westautos und ihre prallgefüllten Patten zeigen wollten. Also war es eng im Nadelöhr Rügendamm. Aber das ist Historie: längst hat ja der Aufbau Ost eine Furt über das Mare Balticum gefunden.
Mitnichten
war es eng. Es ist eng. Ein Nadelöhr sondergleichen auch heute noch, wie ich im August erleben musste. Und auch sonst wenig exotisch, mal abgesehen von den frei laufenden Hirschen: Dort ein verkehrsgefährdender Hingucker- im geschlossenen Zoo-Gehege Duisburg ein traurig-langweiliger Abtörner. Komische Welt, in der wir leben. Aber Sie? Auch mal ein Berliner gewesen? Da scheint ja einiges zusammenzukommen an Lebensbiografie!Trotz neuen Brückenschlags?
Aber es liegt nahe. Schließlich scheint die Ostsee das neue touristische Eroberungsgebiet schechthin zu sein. Deutschland den Deutschen. Wie eng es geworden, geblieben ist, habe ich in anderen Gegenden erfahren, das war ziemlich Oh! so dumm. Ich will da nicht mehr hin, jedenfalls nicht mehr dorthin, wo mittlerweile alle Deutschen und sogar euroglobal interessierte arte-Zuschauer meinen, unbedingt hinfahren zu müssen. Meine Güte, das war richtig angenehm Anfang der Neunziger auf Rügen oder dem Darß oder Fischland et cetera. Da konnte man sich noch ein bißchen verstecken in nicht sonderlich auffallender Infrastruktur. Auch will ich da nicht mehr hin, weil ich mich immer auf Dieter Wieland verlassen konnte. Denn dessen Film aus den Neunzigern über das neue Rügen hat mir einen Angstschauer nach dem anderen über den Rücken gejagt – Sylt ist dagegen eine architektonische Wohltat. Ich behalte das lieber sozusagen in guter grauer Erinnerung.Ja, mit Unterbrechungen insgesamt rund zehn Jahre, bis Anfang der Siebziger. Es war aber ein anderes Berlin als das heutige. Da war Charlottenburg noch jene Mitte, von deren Café am Steinplatz aus die Revolution mich mitriß. Und dorthin zieht es mich auch regelmäßig quasi zurück, wenn ich mich in der Hauptstadt aller Deutschen aufhalte. Dabei stört mich weniger die kieztechnisch bedingte südöstliche Charakteristik, die hat durchaus fröhliche Züge und ist insgesamt geradezu erholsam, von nicht so erfreulichen, aber auch anderswo genauso erleb- und erfahrbaren Einzelheiten abgesehen. Aber dieses alt- und nun neumittige neofundamentalische, immer dunkler werdende, allenfalls von touristischer Buntheit ein wenig durchbrochene biologisch-dynamische Grün, das halte ich nicht aus. Das ist zwar mittlerweile auch Berlin. Aber ich weiß nicht, ob sich dort noch Berliner aufhalten. Andererseits waren die bereits Ende der Sechziger rar geworden; die meisten kamen seinerzeit aus Schlesien oder Schwaben. Dann wirklich lieber rheinischen Karneval.
Ja, Dieter Wieland, könnte ich stundenlang sehen und hören.
Wenn man meint, man hätte alle denkbaren Schrecklichkeiten gesehen, deckt einer sein Dach mit blau glasierten Ziegeln. Der Wieland-Dokumentation
über Rügen (die ich leider im Netz nicht finde) nach ist alles noch viel schlimmer gekommen. Am ärgsten haben sich, wenn ich mich recht erinnere, dabei wahrhaftig nicht die Alteingessenen gebärdet. Vor allem die Wessis bzw. viele Rückkehrer haben sich ihre neue Welt mitgebracht und bunt bedacht. Deshalb fahre ich ja erst gar nicht (mehr) hin. Ich will nicht auch noch dieses Elend sehen müssen. Mir hat bereits das herausgeputzte Usedom, im besonderen Ahlbeck gereicht, in dem's ganz viel Fassade zu sehen gibt, aber letzlich dann doch nur Hauptsache-billig-Bratwurst mit Pommes und Mayo aus der West-Fabrik in die Innereien gelangt. Das ist so ähnlich wie die von Dieter Wieland jahrzehntelang beklagte Einzäunung (hier von lackierten Dachziegeln).>> kommentieren Interessant finde ich auch, wie man das monströs hässliche Prora so nett fotografieren kann. Die Häßlichkeit
oder das, was als solche empfunden wird, will doch kaum jemand sehen. Deshalb wird eben (nicht nur) technisch behübscht. Ausnahmen gibt es wenige.
soeben eruiert: kein photo von prora gemacht (dafür aber "der koloss von proa auf rügen" erworben. sehr aufschlussreich.)
wir waren letztes jahr auf rügen. über den rügendamm: eine reine katastrophe. mir war es zu voll auf rügen und es gab unmengen von schwebefliegen. Proraprora gehört
neben dem Lustfelsen von Caspar David Friedrich aber auch zu den begehrtesten Guck- und Ablichtelementen, so daß es nicht weiter auffallen dürfte, daß Sie sich nicht auch noch ein Bild gemacht haben. Was aber ist «Der Koloss von Pro[r?]a auf Rügen»? Ein mund- oder fußgemaltes Bildchen?Zu voll auf Rügen? Mittlerweile scheint es, seit es die Deutschen in die größte Krise ihrer Zeit, der sogenannten Weltwirtschaftskrise, gestürzt hat, an der gesamten deutschen Ostseeküste zu voll zu sein. Man fährt nicht mehr an die südlichen Badewanne, wenn man eine zuhause hat, die zudem nur eine und nicht zwei Tagesreisen entfernt liegt. Und die Auswahl an Billigheimern ist auch größer. Nur im Hinterland weitet sich die Landschaft schon arg, lediglich die Gefahr aufkommender Langeweile ist dann noch nahe. Aber bereits an den Rändern des Rummelplatzes schönste Zeit des Jahres zeigen sich die Vorteile. Befindet sich die Sitzbadewanne Ostsee nicht direkt vor der Tür der Ferienwohnung, interessiert die meisten das schon nicht mehr. Das lichtet allerdings auch das Getümmel, und man kann, wenn man's denn sehen will, in die Hinterhöfe der hübschen Städtchen blicken.
“der koloss von prora” natürlich. das ist ein kleines büchlein - prora gestern - heute - morgen. morgen! himmel!
ich hab die photoalben durchsucht, kein photo, nicht ein einziges. wir verbrachten die schönste zeit dieses jahres natürlich auch wieder an der ostseeküste. aber nicht wegen einer krise, sondern wegen der kinder. westlich von kühlungsborn ist es weniger voll. >> kommentieren Neunelf befand ich mich in weitester Entfernung vom Geschehen, die Deutschland eben zuläßt. Doch Neugierde, Wiedersehensfreuden und Familienbande trieben mich wenige Tage später in die Ostprovinzen. Waren die beiden früheren jeweils zehntägigen Besuche ganz von der Sorge überschattet, sich bloß nicht falsch zu verhalten und den Zorn der Staatsmacht auf sich zu ziehen, so ging es im November 89 natürlich etwas ausgelassener zu. Der gerade für 200 Mark erworbene Ford Taunus war buntest bemalt und nur durch die Hintertür begehbar. Gerade im Sommer zuvor hatten seine Farbig- und Schnelligkeit schon einen armen flic sehr irritiert. Welche Wirkung mußte die Schleuder bei den braven Bürgern von Weimar hinterlassen haben und mehr noch dessen Insassen: eine bunte Schar gemischt europäischer Liebespärchen, die sich auf dem Dach des Gefährts zum Frühstück niederließen. Begleitet wurde er von einem roten Käfer, den wenig später in einem letzten Akt von Staatsherrlichkeit Potsdamer Vopos aus dem Verkehr zu ziehen versuchten. Die Welt war frei, wir waren jung und anything schien zu gehen. Ich maße mir kein Urteil über Schönheit und Häßlichkeit an, wenngleich ich natürlich starke Meinungen dazu habe. Der DDR werde ich jedenfalls für immer dankbar sein, daß sie die Zeiten eingefroren hatte und es immerhin ein Jahrzehnt brauchte um diese aufzutauen. Diese Dekade hat man nutzen müssen. Guten Fisch aß ich übrigens noch bis zur Jahrtausendwende in der Villa Neptun in Heringsdorf. Ja, die blauen Dachziegel, neuerdings (?) auch die grünen, blühen allerorten. Da sehe ich eine spannende West-Ost-Dynamik, über die nachzudenken sich lohnen könnte. >> kommentieren Noch'n bißchen DDR
DDR-AutokaufDDR-Nebenstrecken auto- oder aufkauf?
beziehe ich jetzt unwissentlich bei ihnen die ollen ddr-bücher? scherz!bücher auf dem fußboden, das würde mich echt kirre machen. Zu den DDR-Aufkäufern
gehörte quasi auch ich. Oder vielleicht besser: Resteverwertern. Und durchaus hatte auch ich meine wirtschaftlichen Vorteile. Man dürfte mich aber auch mit zu den Rettern der Ostkultur zählen, jedenfalls, gemessen an Westmark, bezüglich der mehr als preiswerten Bücher.Doch die lagen auch zuvor bereits auf dem Fußboden. Dabei sind Sie wohl nicht alleine, auch andere macht das kirre. Aber bei mir darf (einzig) Papier sich fast ungehemmt ausbreiten. Vermutlich habe ich irgendwann versucht, wenigstens auf diese Weise eine natürliche (Un-)Ordnung in mein Leben zu bringen. Sozusagen als völlig unmilitärischer Avantgardist. Schließlich hat man Jahrzehnte später begonnnen, den Wald unaufgeräumt, das Holz sich selbst zu überlassen. >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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