Zerstreute Betrachtungen ...

Es bricht etwas auf in unserem Land. Eine noch vor kurzem nie erwartete Eruption hat einen riesigen Krater in die politische Landschaft der parlamentarischen Demokratie gerissen. An dessen Rand stehen etablierte Volksvertreter und schauen entgeistert in dieses «grüne» Loch. Eine neue Generation leistet Widerstand, stellt gegen eben noch selbstverständliche gesellschaftliche Normen neue Sinn- und Seinsfragen. Sie zielen auf eine Abkehr von einer Zukunft im Sinne rein materiellen Wohlstands, warnen vor einer technoid ausufernden Zivilisation.

Hierbei geht es nicht nur um aktuelle politische Fragen, wohl aber um die Frage nach den Ursachen einer Bewegung, die sich die Farbe Grün, auch als Symbol für mehr Demokratie, aufs Banner gemalt hat, das weht als mahnende Fahne für die Errettung beziehungsweise Bewahrung unserer natürlichen Umwelt.

Eine Teilantwort ist dabei in der Kunst verborgen. Sie hat von jeher ihre Wurzeln im gesellschaftlichen Gefüge. Dabei ist Ästhetik nicht etwa — wie gemeinhin angenommen — ein allein Schönheitsbewertungen unterworfener Begriff, sondern sie faßt alle Aspekte von Kunst und Leben zusammen.

Historisch gesehen ist die Ästhetik die Lehre vom Schönen. Doch seit 1750 hat man sich mit Alexander Gottlieb Baumgarten von dieser These verabschiedet. Seitdem überschreitet die Ästhetik die Grenzen, umfaßt alle Aspekte des täglichen Lebens. So schrieb Friedrich von Schiller in seinen Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände: «Das Angenehme vergnügt bloß die Sinne und unterscheidet sich darin von dem Guten, welches der bloßen Vernunft gefällt [...]. Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunftgemäße Form, das Schöne durch vernunftähnliche Form [...].»

Das erinnert an das Postulat der Bauhaus-Gründer nach der guten Form, die auch das industriegefertigte Produkt ausweisen sollte, die sich ergibt aus vernunftbestimmtem Materialeinsatz und entsprechendem Gebrauch. Diese Architekten, Gestalter, Handwerker und Künstler strebten eine Formensprache an, die unter anderem von der Aufhebung der Gegensätze der einzelnen Disziplinen gekennzeichnet war. Architektur, Handwerk und Kunst sollten unter ein Theoriedach der Gemeinsamkeit, die Produkte sollten für jedermann erschwinglich sein, ermöglicht durch entsprechend schlichte Planung und Teilevorfertigung. Diese Ästhetik- und damit Gesellschaftstheorie veranlaßten die Nationalsozialisten, diese Institution 1933 zu schließen, die in der überseeischen Emigration überlebte und auch heute noch weltweit Einfluß auf die Gestaltung unserer Umwelt hat. Allerdings konnten Bauhaus-Lehrer wie Walter Gropius, Mies van der Rohe, Le Corbusier oder Hannes Mayer — es waren überwiegend Architekten, die die Direktiven vorgaben, aber auch Künstler wie Johannes Itten, Wassiliy Kandinsky, Paul Klee, Laszlo Moholy-Nagy und viele andere gehörten der Führung an — seinerzeit kaum ahnen, welche Mißverständnisse oder, präziser formuliert, gezielte Fehlinterpretationen das in den fünfziger und sechziger Jahren auslösen würde. Die funktionalistische Moderne, ursprünglich erarbeitet um einer höheren Lebensqualität aller willen, kam in der Phase des Wiederaufbaus der Bundesrepublik manch einem Großunternehmen und dessen Vasallen in den Architekturbüros und kommunalen Amtsstuben gerade recht. Was beispielsweise aus der Bauhaus-These der Umsiedlung in die Vorstädte entstand, nannte Bazon Brock: «Architektur als Verbrechen».

Das hohe Maß an Aggressivität dieser, so Brock, «Kaninchenstall-, Legebatterien- oder Pissoirhausarchitektur» ist auch in energiefressenden Industrieprodukten enthalten. Obschon: Wer ist noch nicht der Faszination perfektionistisch gestalteter Produkte erlegen — einer eleganten Hochhaus-Spiegelfassade etwa, der Erotik einer Concorde oder gar einer Rakete. Auch der Kontrollturm eines Kernkraftwerkes, das Röhrengewirr einer Raffinerieanlage, das kinetische Spiel von Computerbändern oder gleisendes Neonlicht können schön sein, können Reize ausüben, die als ästhetisch zu bezeichnen sind.

Wider besseres Wissen ist die Uraltkanone Freie Marktwirtschaft im Einsatz. Doch die frißt jedes aufkeimende Pflänzchen vernunftähnlicher Form auf, okkupiert sofort jeden Selbstgestaltungswillen. Das kulminiert architektonisch in der sogenannten Postmoderne, dem historisierenden Zusammentragen aller möglichen Baustile. Es hat den Anschein, als ob gewachsene optische Formen wie Säule, Giebel et cetera als Bedeutungsträger ausgeschaltet werden sollen, indem man sie in einer für die Baukaufhäuser aufbereiteten Ex- und Hoppfunktion verbraucht.

Nach Meinung der Marktstrategen läßt Kreativität sich auch fördern, ohne daß der Konsumverweigerung Vorschub geleistet werden muß. Gedruckte Malvorlagen, ein riesiges Angebot vorgefertigter Basteleien im Kaufhausdesign — schließlich ist das Geschenk am vom Handel erfundenen beziehungsweise okkupierten Muttertag auch selbstfabriziert, also der eigenen Schöpfungskraft entsprungen (oder auch dem Mißverständnis der ohnehin so nie getanen Äußerung von Joseph Beuys, jeder Mensch sei ein Künstler) und der Kopf somit wieder frei für neue Konsumtaten.

Aus marktpolitischen Erwägungen wird eine private ästhetische Ordnung vorbestimmt. Heraus kommt dabei das, was gemeinhin Geschmack genannt wird. Der mag die eigenen Verhältnisse zunächst befriedigen, den Augenblick des Genusses verlängern, kann aber kein übergreifender Lösungsvorschlag sein. Die permanente Reizüberflutung vernebelt dem Menschen die Wege, die ihn zur Selbsterkenntnis führen könnten. Aufkommender Wille zur Erkenntnis unterliegt im Kampf gegen den uniformen Geschmack. Die Gesellschaft, tanzend um das Goldene Kalb Bruttosozialprodukt, verzehrt sich in Nostalgie, die, nach Wolfgang Ruppert, nichts anderes heißt als «Verklärung der Erinnerung». Sie kulminiert in Trödel, Ramsch und wirklichkeitsverstellenden gigantomanischen Ausstellungen über Monarchien aus aller Welt; wobei hier die ewigen Sehnsüchte derer von unten eine elementare Rolle spielen, eines Tages doch noch in höfische Kreise aufgenommen zu werden.

Und längst hat eine neue Glorifizierung eingesetzt. Gezeigt werden die Anfänge des Maschinenzeitalters — als Vorläufer materiellen Wohlstands. Seriöse Kulturwissenschaftler bemühen sich, Industriekultur aus der Perspektive der Arbeiterschaft zu dokumentieren. Und Kulturpolitiker machen, im Einvernehmen mit der Industrie, daraus ein wirksames Repräsentationsinstrument wirtschaftlicher Macht. Feierlich und geschmäcklerisch wird historische Wirklichkeit zudekoriert, wird nur noch die Schönheit der Form präsentiert. Selbstredend zieht der Handel mit und bietet der postindustriellen Gesellschaft High-technical-Accessoires für Haus und Garten an — Technikgeschichte im Trachtenlook. Der technische Vorgang wird nicht mehr mit ästhetischen Mitteln verstehbar gemacht. Ästhetik als Medium des Menschen, Zusammenhänge geistig (und somit sich selbst) zu erfahren, ist zu einem Objektivierungsmittel für eine kleine Minderheit verkommen. Doch die sitzt im Glashaus und nimmt am aktiven politischen Leben längst nicht mehr teil. Die Kunst wird konsumiert in monumentalen Zusammenschauen von Exponaten, die ihrem historischen Kontext entrissen und so zu Amputaten wurden.

Der reflektierende Mensch hat Angst. Technische Potenzierung seiner körperlichen und geistigen Möglichkeiten sowie soziale Systeme der Existenzsicherung sollen Ängste bewältigen helfen. Dabei wird Kunst zur großen Ablenkung, zur quasireligiösen Ersatzhandlung. Kunst verkleidet und verbrämt eine immer bedrohlichere Wirklichkeit oder zieht sich dort, wo sie aufrichtig ist, aus der Darstellung der sinnlichen Realität zurück. In beiden Fällen gestaltet sie unser Leben nicht mehr, sondern verleiht unseren Lebensängsten Ausdruck.

Doch eine neue Generation hat begonnen, neue Sinn- und Seinsfragen zu stellen. Vielen Menschen bedeutet die Rückkehr zum kleinen geschlossenen Kreislauf weniger neurotische Idyllisierung als neue Werterkenntnis. Doch bei aller Berechtigung einer Bewegung, die sich grün, alternativ oder schlicht Umwelt- und Naturschützer nennt: Es gilt, durch alle politischen Gruppierungen hindurch, einem neuen ideologischen Unwetter zu entgehen — einer neuen Heilslehre, die zur Volksreligion ausgerufen wird. Nicht geschehen darf, was der Kulturpolitiker und Schriftsteller Hermann Glaser die «Betäubung des Logos zugunsten des Mythos» genannt hat.


Heim und Heimat
Von Bau- und anderen Häuslern
Steinbrüche der Formen


Aus: Essay und Kritik — Fragen zur Zeit, Saarländischer Rundfunk (SR 2), Dezember 1983, hier leicht gekürzte Fassung

 
Mo, 31.01.2011 |  link | (3037) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


damals   (03.02.11, 00:01)   (link)  
Also, wenn man sich die aktuellen Wahlplakate der Hamburger Grünen anguckt, braucht man vor einem grünen Mythos nun wirklich keine Angst zu haben: Kaum haben sie einmal ein bisschen Macht geschmeckt, schon fühlen sie sich verpflichtet, ähnlich geist-, ideen- und inhaltslose Werung zu machen, wie das CDU und SPD schon seit Jahrzehnten praktizieren.


jean stubenzweig   (03.02.11, 04:14)   (link)  
In die Richtung
habe ich unter anderem ein bißchen geschielt, als ich diesen Rundfunkbeitrag aus dem Jahr 1983 (ist am Ende vermerkt) hier reingesetzt habe. Aber daß sich auch gut siebenundzwanzig Jahre danach sich wieder etwas zu tun scheint in der politischen Landschaft, daran dürften wohl kaum Zweifel bestehen. Mit den Ideen der Grünen aus dieser Zeit (und auch noch ein Weilchen danach), hat das allerdings nichts (mehr) zu tun. Deshalb darf auch präjudikativ infrage gestellt werden, daß sich großartig was ändert, sollten sie tatsächlich demnächst wieder mitregieren dürfen. Das ist doch längst eine «gehobene», jederzeit anpassungsbereite Kaufrausch-Partei geworden.


damals   (04.02.11, 16:17)   (link)  
Oh, das hatte ich tatsächlich überlesen, das Erstveröffentlichungsdatum!
Dass sich jetzt wieder etwas tut in oder auch außerhalb dieser dämlichen Parteienlandschaft, das sehe ich auch so, und ich hoffe, es ist mindestens so viel wie damals 1983. Dabei hätte ich auch gegen ein bisschen Mythos nichts einzuwenden, denn: ohne Mythos keine Vernunft.


jean stubenzweig   (04.02.11, 18:53)   (link)  
Interpretationssache ist das
vielleicht, obwohl es (für mich) eigentlich nicht viel zu deuteln gibt: Mythologie bedeutet nichts anderes als Erzählung, Überlieferung. Hermann Glaser dürfte auf diese erinnerungsverklärende Geschlechtsumwandlung gezielt haben, die aus dem Mythos eine dauerhaft geschwätzige Mythe machte, ein bißchen Religion, Drama, Tragödie, das gute Alte eben, von allem ein bißchen was. Und heutzutage wird sogar Anything goes oder Alles ist machbar, Herr Nachbar für die Disco des Alltags gecovert. Man biegt sich's nach Belieben hin. Er behält also recht, da er vor dem reinen Unterhaltungscharakter etwa der Romantik warnte. Aber auch Ihnen muß und will ich zustimmen – ohne Verkehr hätte die Aufklärung keine Tochter bekommen.















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