Tod der Urne

«Die Urne hat dem Sarg den Rang abgelaufen.» Das ist Bildungsradio in reinster Metaphernform. Es stammt aus den Nachrichten (sic) in der vielzitierten Herrgottsfrüh' von Hirn will Arbeit, dem von mir eigentlich recht gern gehörten, von Berufsjugendlichen für, man möchte es angehörs des Programms bisweilen meinen, übriggebliebenen oder ihren Stand tapfer verteidigenden Langzeitstudenten produzierten Wissenshörfunk, dem Neffen der Kultur und zugleich Kind des spätberufenen Oberopis Deutschlandradio. Gerade, um 13 Uhr, wurde das Thema, ebenfalls in den Nachrichten, erweitert, indem man die Sorgen und Nöte der Friedhofsverwaltungen besprach, die nicht mehr über ausreichend Leichen verfügten. Nicht nur keine Kinder mehr, sondern auch kaum noch Tote?

Was ist los mit den Deutschen? Politisch scheint alles die Einfaltigkeit einer einzigen großen Koalition anzustreben, im Tod hingegen scheinen sie sich gar nicht mehr einig, da sind sie gespalten, gar gedreiteilt, denn auch die Seebestattungen nehmen zu. Nun gut, man soll ja positiv denken, also halte ich fest: Je ärger die Politik monokulturell anbaut, um so stärker läuft die Heterogenität in der Leichnamsprophylaxe dem Einerlei des Friedhofs den Rang ab. Dabei scheint die Sehnsucht deutscher Waldeslust der nach der Natur nahe-, wenn nicht gar gleichzukommen. Immer mehr Menschen meiden den Gottesacker, sie gehen nicht nur in den Tann, je nach Alter immer häufiger am (Ski-)Stock, wohl weil die Gesundheitindustrie via Nachmittags- und Frühabends-TeVau das als einzig probates Mittel des lebenserhaltenden Spaziergangs propagiert, sondern auch in den Buchenhain, um sich dort die Stätte ihres endlichen Friedens auszusuchen.

Auch hier waren die Künstler einmal mehr, aber dafür sind sie schließlich da, Avantgarde. Ganz schön verblüfft habe nicht nur ich geschaut, als der immer fröhliche, rund sechzigjährige, trotz widrigen Wetters jugendlich oben offen im Roadster angebrauste Harry Kramer der zu einem vierzigsten Geburtstag eines Kunst- und Kulturvermittlers gegen Mitte der Achtziger in einer Kneipe im lauschigen Bad Godesberg versammelten Gratulanten verkündete, er habe sich ein Plätzchen neben einem Baum reservieren lassen, der zum (Habichts-)Wald unweit von Kassel gehört. Dabei ward er ein Friseur aus Lingen genannt, als solcher 1990 im Untertitel von Tanzspiel. Maschinenspiel. Elektrischer Tanz (Novalis) gar geehrt von Günter Metken im Kritischen Lexikon der Gegenwartskunst, und Lingen liegt im Emsland. Doch er war durch seine langjährige Tätigkeit an der Kasseler Gesamthochschule längst eingemeindet. Doch haben sich viele seiner Kolleginnen und Kollegen ohne Bezug zur Stadt, allenfalls zum Fünfjahresereignis documenta, der Wahl seiner Urnenversenkung recht bald angeschlossen. Nicht mehr Waldeslust, sondern Waldesgruft. Der Tod schafft selbst unter andersdenkenden Konkurrenten Gemeinsamkeit wenigstens am Ende.

Ich tue hiermit in aller Öffentlichkeit kund, man möge es als testamentarisch verbrieft sehen: Ich will nicht verbrannt und dann im dunklen Wald verbuddelt werden. Schließlich bin ich keine assimiliert aufgebahrte Witwe. Künstler oder Deutscher oder Ökumenist oder Protestantist oder ähnlich Gelagerterist bin ich auch nicht. Das hat eben keinerlei religiöse Gründe, die habe ich bereits in später Kindheit tief begraben. Allenfalls kulturelle kämen dabei infrage, die einen unverrückbaren Grabstein erfordern. Aber selbst diese ideellen Rudimente habe ich längst beerdigt. Ich war und bin, wo auch immer diese seltsamen Anmutungen ihre Wurzeln haben mögen, ein Seeer, Mensch der See, an deren Sand möchte ich gehen, den weiten Horizont und bis hinter den mag ich sehen. Man möge mir einen dieser kulturell fest verankerten Steine um den Hals hängen und mich komplett, also nicht in solch ein enges Gefäß gestopft, denen hingeben, die ich immer so gerne gegessen habe, auf daß sie mich auffressen. Ich will ihnen wenigstens im Tod die Liebe durch den Magen zurückgeben, die sie mir ein Leben lang gegeben haben.


Photographien: Christian Reuther (aus Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 1 und 16).
Angesichts und mittendrin

 
Mi, 04.04.2012 |  link | (2844) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten


kid37   (05.04.12, 19:11)   (link)  
Das ist, glaube ich, so nicht erlaubt. Man will das Wasser ja beim Schwimmen schlucken können. Nur Asche darf in die See. Man kan nur hoffe, daß Fische trotzdem danach schnappen.


jean stubenzweig   (05.04.12, 20:52)   (link)  
Gesetzesbrecher
werde ich sein müssen. Als Asche gehe ich da nicht rein. Vielleicht hilft es ja, bereits vorhandene Süchte in eine zusammenzufassen, sie zur Wassersucht zu veredeln. Der Nachteil: Man geht nicht unter, weil man zu einer Art rosarotem Gummiboot mutiert ist. Sowas mögen meines Wissens Fische nicht. Also: weiterhin kreativ sein im Miteinander von der Wiege bis zur Tiefsee.


einemaria   (06.04.12, 03:05)   (link)  
Es sollte schon ein Grabstein sein, denn was auf einer Urne steht, liest ja keiner. Für mich selbst hatte ich eigentlich aus Kostengründung eine Sprengung geplant. Einfach mal auf ne Panzermine gehüpft, schon spart sich die Nachkommenschaft eine Menge Kohle.
Jetzt (habe 24 Stunden gewartet ehe ich zititere) sehe ich plötzlich den Sinn eines Grabsteins. Sich schriftlich und örtlich zu verewigen. "Bis hier hin und nicht weiter." sollte draufstehen. Das hat was schlagendes in einem katholischem Friedhof. Dafür lohnen sich die paar Neuronen schon, die es kostet. Sprengen kann ich mich ja trotzdem, nur Platz für den Grabstein sollte angemietet werden - also eine Stele, aber kein Loch, denn wir wollen ja hoch hinaus, oder eben auch nicht.


einemaria   (06.04.12, 03:07)   (link)  
Was mich auch interessieren würde,
wäre eine Hochzeit, wenn man schon in der Grube liegt, eine postmortale Vermählung. Denn da liegt man ja nun länger und es scheint mir wichtig, mit wem ich Schulter an Schulter läge.
Sie sehen: ich bin da noch so offen wie die Grube selbst. Aber Ideen gäb es schon.


jean stubenzweig   (06.04.12, 15:38)   (link)  
Für eine Sprengung
benötigt man doch so etwas wie das schwarze Pulver des nitroglyzerinen Stifters des noblen Friedenspreises, an dem natürlich, wie auch anders, eine Frau, ja eine Sekretärin schuld war. Und das kostet ganz schön viel teuer. Andererseits: Panzerminen liegen sicherlich auch hierzulande noch genug herum, wenn auch eher im Verborgenen. Zur Not ginge auch eine gute alte Bombe. Da müssen Sie aber ein Loch bohren, die liegen ja bekanntermaßen nicht mehr einfach so herum. Auf jeden Fall Ressourcen bis in den Tod. Und für mich wäre es ebenfalls ein Option. Sprengung auf hoher See, wie bei einer hochgehenden Ölplattform. Da flöge ich als Brocken den Fischlein ins Maul.

Auf ewig «bis hier hin und nicht weiter» gilt nur für jüdische Friedhöfe, nur auf denen darf der Grabstein nicht verrückt werden wegen «dauerhafter Totenruhe». Auf katholischen oder protestantischen ist für die Ewigkeit kein Platz mehr, nach fünfundzwanzig Jahren müssen die meines Wissens weg und wegen Platzmangels vermutlich bald noch baldiger. Es sei denn, man einigt sich quasi gesamtökumenisch auf die Schichtung nach dem Prinzip der Urreligion: alle auf einen.

Dazu fällt mir gerade Mon Amour als Stein der Lösung ein: Als wir vor einigen Jahren einer (bis dahin) lieben Kollegin und Freundin ein Erinnerungsmählchen auf ihren Platz am Münchner Nordfriedhof stellen wollten, den ein Bildhauer für sie angefertigt hat, durfte der sehr schlicht behauene Fels erst nach einer monatelangen Schlacht im Krieg der Gebeinebeherbergungsgestaltungssatzungsschreiber als Siegesmahl aufgestellt werden. Die Dahingeschiedene hätte vermutlich am liebsten lachend in ihrer Grube rotiert. Mit einem solchen stilvoll traditonell-künstlerischen Stein auf ihrem Grab hätte es keinerlei Probleme gegeben. Aber jetzt bin ich wieder bei der Volkskultur im Sinne eines tegernseeerischen Bauerntheaters. Da sollte ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, denn ich kann schließlich nicht in allem Experte sein.

Sie meinen eine Hoche Zeit post mortem? Sicher, das wäre zwar eine leichte Umdeutung des bis daß der Tod euch scheide, da er einen überhaupt erst oder wieder zusammenbrächte. Aber kein Scheidungsanwalt und auch die ebenfalls notleidende Grabsteinindustrie müßten nicht darben. Ihr Mitgefühl klingt nach einer Herzensoffenheit gleich einer riesigen Mördergrube. Ach, wie gerne hätte ich die.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6030 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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