Entfesselte Stürmerei Gestern wollten die schweizerischen Parlamentarier die Arbeit niederlegen, um in die Ferne zu sehen, in die Republik Südafrika. Darüber wurde von den direktesten aller Demokraten abgestimmt. Heraus kam dabei: Weiterarbeiten! Worauf Anarchie oder auch Revolution ausbrach unter Burgern und Bürgern. Man ließ die Gesetzgebung sozusagen links liegen und eilte ins Fernsehzimmer. Dort schoß nämlich einer, der ansonsten etwas anders geartet ist als seine Landsleute, selbige in den Himmel. Man möchte ein Kreuz aus Asche machen über diese Schweizer. Revolution gab es dort allerdings schon einmal, zumindest im welschen Teil des Landes. Vermutlich lag es am Französischen, das dort gesprochen wird, möglicherweise auch daran, weil auf der anderen Seite des Röstigrabens ganz gerne mal ein wenig nach Nordwesten geschielt wird. Im Genève der frühen Siebziger ging man jedenfalls auch auf die Barrikaden — monter au créneau —, wie weiland der Rote Dany, als der Strand noch unterm Pflaster lag und bevor er die Partyfront entdeckte und dabei ganz grün wurde. Daraus ergab sich unter anderem auch das, was als Emanzipation in den Sprachgebrauch eingegangen ist und heutzutage häufig leicht mißverständlich gebraucht wird. Mein Bauch gehört mir hatte zu dieser Zeit sozusagen eine etwas tiefergehende Bedeutung. «Nachgeborene können sich das nur noch schwer vorstellen», stimme ich der Besprechung bei TopTV zu, die einige inhaltliche wie sprachliche Ungereimheiten birgt, aber es im wesentlichen erfaßt: «Auch die Schweiz [...] hatte mit den sozialen Korrekturvorschlägen enthemmter Studenten zu kämpfen. Von wegen Abtreibung, Gleichberechtigung, Dehierarchisierung, freie Liebe und so weiter. [...] Serge Gainsbourg, den wilden Pariser Chansonnier, kennt man beispielsweise auch außerhalb Frankreichs. Dass aber ausgerechnet der erotomanische Skandalier (Je t'aime!) und Frauenheld mit der neuen Minirockmode so seine Schwierigkeiten hatte, das verblüfft auch die junge Genfer Studentin Lucie [...], die gerade beim Fernsehpraktikum dokumentarisches Material aus den 60-ern auswertet. Viel entscheidender ist aber ein anderer Filmschnipsel aus jenen bewegten Tagen, auf dem das 19-jährige Mädchen ihr Ebenbild erkennt: eine feministische Studentenaktivistin, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten scheint.» Letzteres stimmt so nicht, denn es ist ein ebenso junger, ihr recht zugeneigter Kollege, der vom Teint her dem oben verlinkten ähnelt, der auf dem Bildschirm eine verblüffende Ähnlichkeit feststellt. Die junge Frau wird etwas später noch einmal daran erinnert und spricht ihre in einer gänzlich anderen, möglicherweise einer gestrigen Welt lebende Großmutter daraufhin an. Die antwortet geradezu verzückt lächelnd mit «Ach, mein liebes Geschenk»; es konnte aber auch mein Liebesgeschenk geheißen haben, eine Assoziation, die sich im Film erst später anbietet, wenn die Zusammenhänge klarwerden, wenn sich herausstellt, daß Leihmütter möglicherweise eine Erfindung der Frauenbewegung waren. «Lucies mysteriöse Doppelgängerin heißt Geneviève», so weiter im Text von TopTV, «[...] Offenbar hat die Familie den Platz der studentenbewegten Phantomfrau aus der Ahnengalerie gestrichen. ‹Eine gefährliche, drogensüchtige Anarchistin› sei Geneviève gewesen, so versichert es der Opa seiner gleichfalls ahnungslosen Tochter [der Mutter von Lucie]: ‹Wir haben dich gerettet.› War Geneviève gar bei der RAF?» Nein. Eher in der Kommune von Otto Muehl, deren «reichianischen» Urschreie kurz durch das alte Filmmaterial im neuen gellen. arte wiederholt den Film, dessen Originaltitel Déchaînées lautet, was gleichermaßen mit entfesselt oder auch stürmisch (in weiblicher Form) übersetzt werden kann und deutschsprachlich als Frau und frei frauenillustrig verkümmert, am 24. Juni um ein Uhr in der Früh, wenn im Fernseher garantiert niemand mehr kickt und vermutlich auch niemand mehr Gesetze ändern muß. Ich komme darauf, da Eva Lirot das Thema angetippt, das sich bei mir jedoch erweitert hat, da ich immer wieder mal mit Kopfschütteln bedacht werde, wenn ich den ganz Jungen aus der Zeit erzähle, in der es hieß Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establisment — wobei es hier wohl heißen muß, wer einmal mit demselben —, aus dem sich etwas später die Singelei entwickeln sollte, die heutzutage nichts anderes mehr bedeutet als Sehnsucht nach Zweisamkeit. Vor allem aber geht es in diesem Film nicht alleine um die Freiheit der oder durch die Sexualität. Es sind gesellschaftliche Werte, die als die ganz alten sich wieder Bahn durch die neueren zu brechen versuchen, oder letztgenannte, die mittlerweile häufig unfreiwillig in ein Dasein als Alleinerziehende münden oder dort gar enden. Die Konfrontation ist es, die dieser Film in Bild und Wort, sowohl in Darstellung als auch in Regie herausragend zeigt, das Aufeinanderprallen der althergebrachten Lebensform Familie, Vater, Mutter, Kind mit der der «alleinstehenden», kämpferischen Mutter, die zu ihren Eltern (in etwa) sagt: Er ist nicht mein Gefährte, er ist mein Liebhaber, ich bügle ihm nicht seine Hemden. Das im Film gezeigte historische Bildmaterial stellt sich dabei als dramaturgischer Kniff heraus, da es nicht nur zeitlich die verschiedenen Ebenen verdeutlicht. Ein weiterer schweizerischer Filmemacher drängt sich dabei auf: Alain Tanner. Er hat mit Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000 insofern bereits (Film-)Geschichte geschrieben, als er schon 1976 das Ende der großen Revolution andeutete, das Ende der Barrikadenkämpfe und der Rückzug ins Private, auf ein bäuerliches Anwesen, wo der rundliche und schüchterne Protagonist sich zum Geburtstag eine sexuelle Tollheit wünscht: mit zwei Frauen schlafen zu dürfen. Inmitten von braun und blond (in Gestalt der zauberhaften Miou-Miou) wird ihm sein Wunsch gewährt. Der im Jahr 2000 fünfundzwanzig Jahre alte Jonas lebt bei Tanner dann in einer Zweierbeziehung mit einer Afrikanerin und träumt als Filmer davon, Müll zu zeigen. — Aber meine Empfehlung ist alles andere! Die ist hervorragendes Kino, aktuell und aufklärend, aber durchaus unterhaltsam, für Zwanzig- bis Vierzigjährige. Drüber oder auch einiges drunter geht ebenfalls, denn es geht keineswegs in der Weise hin und her, daß die Sittenpolizei angerufen werden müßte, auf daß sie ein Stop-Schild anbringe. Also: am 23. Juni beginnt das Spiel Deutschland gegen Ghana um 20.30 Uhr, ist demnach längst zuende, wenn dieser sehenswerte Film gesendet wird. Die Schweiz wird wohl am 21. beerdigt werden. Und ich werde vermutlich bereits heute Abend Asche über Les Bleus gestreut haben.
Das ist ja noch eine Woche hin - nun, ich muss das ja nicht im Kopf behalten, da es mein digitales Aufzeichnungsgerät hoffentlich in seinem hat. Ich bin gespannt. (Da Sie es immer wieder schreiben: Einmal? Waren das damals so Zölibatäre, die da gegen das Establishment ankritzelten?) Verhindern wollte ich,
daß es in Vergessenheit gerät. Aber möglicherweise tut es genau das durch die frühe Ankündigung. Ich bemühe mich, nochmal daran zu erinnern. Auch mich. Denn ich möchte diesen Film gerne auch unseren Nachwüchsen vorführen. Denn mir glauben sie solches oft genug nicht. Sie richten sich ausnahmslos an den medialen Ereignissen aus. Und schauen Sie sich den Film im Familienverbund an. Vermutlich wird es Fragen geben, aber Sie sind dazu ja in der Lage, sie zu beantworten. Die Mutter der im Film die Vergangenheit erforschenden Lucie dürfte übrigens etwa Ihr Alter haben, was sicherlich ebenfalls interessant sein könnte – gerade im Hinblick auf die Äußerungen der Nachgeborenen aus dem Umfeld von Rainer Langhans bereits vor gut zehn Jahren, die also etwa im Alter dieser filmischen Lucie von Verlobung, Heirat und Kinderkriegen sprachen. Und auch ich, der ich nicht mehr allzuweit von den langhanseschen Siebzig bin, habe mich das eine ums andere Mal über die Meinen gewundert: dachte ich doch lange Zeit, daß alleine die Tatsache, bewußt unverheiratete (na ja, jedenfalls Opa hat das gelebt) Großeltern zu haben, zur «Aufklärung» hätte zumindest beitragen müssen. Der Mensch irrt. Und unglaubwürdig war ich ebenso. Schließlich war ich einer der ersten, die inmitten der Phase der allgemeinen Ablehnung dieser Lebensform, zumindest in meiner Umgebung, geheiratet haben, wenn auch gewissermaßen unter Zwang. Und ich war nicht der Einzige. Andererseits war auch Langhans, ohne jede Drohung, unterm Strich mit Uschi Obermaier in einer Art Zweierbeziehung gelandet. Heute lebt er alleine in einer kleinen Wohnung, und die Einzelteile seines sogenannten Harems leben ebenso solistisch verstreut. Von der Philosophie des freien (Liebes-)Lebens sind also insofern nur Rudimente übrig, als ältere Dam- und Herrschaften verspätet das Prinzip der Wohngemeinschaft erobern, wenn auch weniger aus Gründen der freien Liebe, als vielmehr wirtschaftlichen Bestrebungen und damit Ursachen geschuldet. Und auch, weil die klassische Form der Familie definitiv ihrem Ende entgegengeht. Jedenfalls im Alter, das den meisten eine Last geworden ist, die sie in der Jugend nicht mehr tragen wollen (oder auch können). Das ist es, was ich am meisten bedaure, denn diese Zielrichtung war nie vorgegeben. Aber zu dieser Zeit dachte man ja auch nicht im entferntesten daran, wie lebensprägend sich einmal dieser Tanz um das geldene Kalb auswirken würde. Das mit «ankritzelten» habe ich nicht verstanden – oder ich stehe mal wieder auf der Leitung, es kann auch sein, daß mein Witzverständnis noch schläft (Les Bleus hatten mich, wie zu vermuten war, in Tiefschlaf versetzt). >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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