O Superfrau!

Am Monatsersten behauptete ich, einen Musikus aus den Achtzigern zu suchen. Daß er, entgegen meiner Versicherung, nicht in diesem Dezennium des vergangenen Jahrhunderts vom Himmel fiel, sondern bereits ein Jahrzehnt zuvor in die Hölle kam, ist wohl dem stetigen Abstieg meiner Gehirnzellen zuzuschreiben. Aber ein paar, wenn auch mit Hilfe der lieben Gemeinde, konnten gerade noch reaktiviert werden. Dieses leichte, vermutlich temporäre Auflodern meiner Erinnerungsfähigkeit will ich nutzen und auf eine weitere Musikantin hinweisen, die mir ebenfalls in den siebziger Jahren erstmals begegnet ist und die vermutlich ebenso durch die entschieden zu großen Löcher meines Denknetzes gerutscht wäre, hätten dieser Tage nicht andere einen wirklich dicken Fisch an Bord gehoben. Nein, das soll keine Andeutung bezüglich ihres Körperformats sein, das sich im Lauf der Jahre einer anderen angeglichen haben könnte, die ein adoleszentes, werdendes Männlein in den Himmel des Ehernes Rechts gesungen hat. Die ebenso wunderbare und großartige Mama Cass hatte Ende der Sechziger zwar einiges in die Waagschale zu werfen, auch stimmlich, aber leicht wie eine Feder säuselte sie ihm Dedicated to the one I love ins Ohr, sogar auf den Mond trällerte sie das junge Paar, das gleichwohl ziemlich rasch die dunkle Seite dieses Planeten kennenlernen sollte, aber diese singende und performende Dame (neben dem ebenfalls gewaltigen Lou Reed) war dann doch von anderem Format: Sie war eine Erneuerin nicht nur des des musikalischen Vortrags. Und im Mai wird sie in Kassel zu Gast sein.

In diesem nordhessischen Großkaff lernte ich schon einmal eine neue Welt kennen. Nein, nicht die der Kunst, die kam für mich etwas später. Bevor ich alle fünf Jahre in die reiste, wie tausende andere aus aller Welt, lernte ich sie zunächst über die ihr ähnlicher sehende nüchterne Gerichtsbarkeit einer Verwaltungsstadt kennen. Um des seelischen Beistands willen war die Freundin aus dem romantischen Städtchen der Langzeiterinnerung mitgereist. Ihr, nicht mir reichte diejenige die Begrüßungshand, von der ich schuldig (so hieß das damals, wenn jemand einen anderen «böswillig verlassen» hatte) geschieden werden sollte. Dieses Oberzentrum am damaligen Rand der Ostzone, wo es seinerzeit nicht ganz so schlimm aussah wie heute im europäischen Schutzgebiet Spanien* oder zwischen Mexiko und den USA, muß für mich eines der Liebe gewesen sein, geriet ich doch rund zwanzig Jahre später, etwa zum Zeitpunkt des Niedergangs der Mauer, noch einmal hinauf ins Himmlische in Gestalt eines solch zauberhaft kurzhaarigen Wesens. Meine Form des Existentialismus?

Liebe auf den ersten Blick war es auch bei dieser anderen, die ich ebenfalls in dieser Schicksalsstadt kennenlernte, die alle fünf Jahre im Licht der Kunstwelt erstrahlt. Dann nämlich müssen Kasseler, Kasselaner und Kasseläner in die Hobbykeller ihrer meist nachkriegsmodern flachbedachten Häuschen in Randlage oder in die Dachböden ihrer von Bomben verschonten Jugendstilhäuser umsiedeln, weil Beseelte vom Neusiedler See, dem quebecschen bei Mistassini oder dem lappischen bei Inari, aus dem mittelwestlichen Jefferson oder dem nordbrasilianischen Recife oder dem an der Klostermühle gelegenen Tripsdrill anzureisen gedenken beziehungsweise sich drei Monate lang die Klinken in die Hand geben, nicht zuletzt weil, zumindest während der Anfangsphase, selbst die allertiefstliegende Absteige zum Preis eines hohen Hauses mit vielen Sternen ausgebucht ist. 1977, etwa vier Jahre nach der Trennung von der anderen, schaute ich verzückt dieser Schönen in die Augen, die dieses Jahr wieder anreisen wird. Es werden vermutlich auch (noch) nicht dreitausend und mehr Journalisten aus aller Welt da sein, um ihr zu lauschen und zuzuschauen. Schließlich ist erst im Juni nächsten Jahres Hochkunstsaison. Aber diejenigen, die's tun, würden möglicherweise ohnehin alleine ihretwegen nach Hessisch Sibirien pilgern. Gut, es wird vielleicht etwas wärmer sein im Mai, wenn der Engel angeflogen kommt, um zu einem fünfzigsten Geburtstag zu gratulieren. Ich freue mich aufs Wiedersehen, O Superfrau.


* Ich schäume vor Wut — irgendwie sind die wenigen Photographien von diesem in Südspanien errichteten europäischen Schutzwall offensichtlich aus allen Suchmaschinen entfernt worden. Ich finde nur noch glücklich urlaubende Grenzüberschreiter in Wohn- und sonstigen sperrigen Seitenwagen oder allenfalls Abwehrarchitektur früherer Jahrhunderte. Es darf nicht zu sehen sein, was die meisten nicht sehen wollen?
 
Fr, 11.03.2011 |  link | (2913) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges


edition csc   (11.03.11, 19:21)   (link)  
Mal fürs erste:
Eurogrenzer.

Bilder befinden sich in der hirnmassigen Suchmaschine.

–cabü


edition csc   (12.03.11, 11:32)   (link)  
Annäherung
Seegrenze


jean stubenzweig   (12.03.11, 17:49)   (link)  
Eine ganz bestimmte
Photographie suche ich, von der ich meine, ich hätte sie auch schonmal verlinkt. Aber ich weiß nicht mehr wo, bei mir finde ich sie eben nicht. Dann meinte ich tatsächlich, es sei bei Mumm gewesen. Nichts. Sie zeigt drastisch und beängstigend die Grenzbefestigungen an der äußersten Südgrenze Spaniens. Ich hatte sie bereits nachgeladen, da eine noch aussagekräftigere entfernt worden war. Ich bin sehr irritiert, daß nun auch die verschwunden ist. Ich muß annehmen, mittlerweile nicht nur Alp-, sondern auch Verschwörungsträume zu haben. Denn es ist eine mehr als seltsame Vorstellung, es könnten eventuell unliebsame Inhalte entfernt worden sein.


seemuse   (12.03.11, 08:19)   (link)  
juhu!
juhu! juhu! juhu!! sie kommt auch zu uns! juhuuu!

(und danke für den rügen-tipp! ich mußte übers "HNO" schmunzeln, da es aber heutzutage nichts gibt, das es nicht gibt, dachte ich nur "nojo, warum nicht".)


jean stubenzweig   (12.03.11, 08:48)   (link)  
Ausgesprochen gut
gefällt mir, was der Fritz Ostermayer da geschrieben hat. Den sollte ich wohl kennen, aber ich tu's nicht.

Und Rügen, ach, ich war eine Weile nicht dort, bin, wie Sie wissen, mal in den Osten nach Oh! so domm geschwommen. Aber dort hab ich auch keine HNO-Kneipe mehr gefunden. Mittlerweile alles ziemlich verwestlicht. Mit ordentlich Billigheimer unterfüttert. Ich war nicht so glücklich.

Aber vor Rügen hätte ich inzwischen Angst, nach dem, was ich so mitbekommen habe, wie die dort nicht minder westlich städtbaulich und architektonisch getobt haben. Ich behalte es lieber in alter Erinnerung und fahre wieder westlich, an richtige Meere.


melusineb   (12.03.11, 08:49)   (link)  
1983
war ein Freund ganz "aus dem Häuschen" als er sie erstmals hörte. Wir trafen uns beinahe täglich als Clique bei ihm und er beschallte uns mit ihren Klangexperimenten. Ein Erlebnis. Aber wir verloren sie aus den Augen in den Jahren danach. (Wie auch einander.) Als ich ihn vor 4 Jahren nach mehr als einem Jahrzehnt wieder traf, wusste er gar nicht, dass die beiden (auch er war mit den Platten "The Velvet Underground" und solo wichtig für uns gewesen) seit langem ein Paar sind.


jean stubenzweig   (12.03.11, 11:06)   (link)  
Da mir Canto popolare
eher selten ins Ohr kam, weil ich einschlägige Musiksender so gut wie nie einschaltete, hätte es mir durchaus passieren können, Laurie Anderson überhört oder erst Jahrzehnte danach wahrgenommen zu haben. Aber ich hatte das Glück, sie bereits als Performerin erleben zu dürfen. So war ich auch auf den Superman aufmerksam geworden. Und der hat mich (hin)gerissen. Es begeistert mich heute noch, daß sie auf diese Weise auch über die Kunstszenerie hinaus bekannt wurde.

Lou Reed war mir ebenso über die Artistik bzw. über Andy Warhol zu Ohren gekommen. The Velvet Underground habe ich, nicht minder angetan, zusammen mit Anderson, mal als Musikakzent gespielt in einer Studio-Gesprächsrunde sowie einer Sendung zum Thema Die Künstler und die Kunstverkäufer.

Ob die immer noch ein Paar sind, das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber das spielt ja auch keine Rolle, sie waren und sind Ereignisse.


edition csc   (12.03.11, 09:36)   (link)  
Fritz Ostermayer
ORF, Falter und Phettberg sollten hier aber doch ein Begriff sein!?

–cabü


nnier   (13.03.11, 22:33)   (link)  
Da haben Sie so einiges an Erinnerungen angestoßen. Ich kenne Frau Anderson nicht so gut, aber es gab da mal dieses Stück in Zusammenarbeit mit Peter Gabriel - und seit ich es mir, angeregt durch Ihren Beitrag, wieder einmal angehört habe, will es mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.


jean stubenzweig   (14.03.11, 11:05)   (link)  
Auch Peter Gabriel
ist mir noch (gut) in Erinnerung. Da ich eine Zeitlang unter anderem auch mal zur besten Sendezeit, also nicht, wie sonst bei diesen Themen von Experten bestimmt gegen Mitternacht oder zum Sonnenaufgang, Livesendungen über Kunst kommt von Kunst moderiert habe und von höherer Dirigentenwarte aus Musikakzente bestimmt wurden, habe ich unter anderem auch auf ihn zurückgegriffen. Nach Klängen geforscht habe ich dabei, die in den Sendern nicht endlos abgenudelt worden waren. Zwar war das nicht unbedingt mein Hörrepertoire, aber um auch ein Publikum zu erreichen, dem Geschäfte von Insidern unbekannt waren – aber seinerzeit war die bildende Kunst auch noch nicht zur neuen Welt(wirtschafts)religion ausgerufen worden –, war ich gezwungen, ins Archiv bzw. zu einem (sehr guten) Berater zu gehen und über meinen Tellerrand hinaus zu schauen, meinen Horizont in Richtung einer interdisziplinäreren Volksmusik zu erweitern. Oftmals habe ich, wie heutzutage auch bei Kulturmagazinen des Fernsehens üblich, auf anstehende (Konzert-)Ereignisse zurückgegriffen. Es hat mir sicher gut getan. Aber ich gestehe, nach Beendigung meiner Tätigkeit nicht mehr danach gegiert zu haben. Doch wenn ich das eine oder andere Stück höre – mein Standardsender France musique hat zwischendrin immer wieder mal solcherart Klassiker im Programm –, geht mir durchaus ein Ohr auf.


monnemer   (14.03.11, 13:44)   (link)  
Blue Lagoon war das erste Stück, das ich von ihr hörte. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich völlig paralysiert vor dem Radio saß (zum wiederholten Mal kommen mir die Tränen beim Gedanken daran, was es früher im Radio zu entdecken gab).
Das war gerade die Zeit, in der ich versuchte, dem musikalischen Schaffen von Bill Laswell wenigstens halbwegs zu folgen.
Als ich am nächsten Tag die LP in den Händen hielt, bekam ich den Mund vor Staunen nicht mehr zu, weil er da auch noch mitmischt

Dass ich mich trotz meiner andauernden musikalischen Apathie ohne zu Zögern im Mai auf den Weg nach Santiago de Compostela Kassel mache, zeigt was sie für mich ist - Superfrau halt.


jean stubenzweig   (14.03.11, 17:42)   (link)  
Bill Laswell gehört
nicht ubedingt zu meinem Standardrepertoire, sagt mir allerdings im Zusammenhang mit dem freien Jazz etwas. Aber Herzeleid ist mir durchaus ein wohliger Begriff der Erinnerung. Daß Gabriel dabei mitwirkte, war mir neu.

Zu entdecken scheint es allerdings auch heute noch hin und wieder etwas zu geben. Der mir neulich begegnete Peter Blake kam mir dieser Tage auf meinem Heimatsender erneut entgegen, wenn auch mit demselben Stück, mit dem er auf mittlerweile drei deutschen TV-Kulturmagazinen gespielt wurde. Es bliebe also abzuwarten, ob er mehr kann als nur dieses eine Lied.

Gut, daß Sie im Mai dann auch mal weg sind.















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