Die andere Liebe Fortsetzung Flaches Land | Liebe wie gemacht Die Sonne ging dort auf, wohin Elias nicht mehr zurückwollte, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Seine zuletzt gegenüber dem Studieren bevorzugten häufigen Dienstbarkeiten als sich tänzerisch bewegender Kellner zur Aushilfe in einem überwiegend von gut und manchmal auch seltsam bis komisch betuchten Männern frequentierten Lokal am Wittenbergplatz hatten ihm mehr als höfliche Trinkgelder eingebracht und ihn die Miete für drei Monate in der nun verwaisten Wohnung hinterlegen lassen. Denn hinzugekommen war auch der mehrfache Verdienst, entstanden aus dem von nichts als Heiterkeit bestimmten, ungezwungenen Einschenken meist hochprozentiger und mit exquisiten Limonaden gemischten polnischen, in Automobilen mit Kennzeichen des diplomatischen Corps nach Westberlin eingeschmuggelten Vodkas aus Flaschen mit darin enthaltenen Grashalmen auf Gesellschaften solcher Auftraggeber, die sich durchweg aus den Gästen der sonntäglichen Frühschoppenkneipe quasi rekrutierten, die in ihn ihre körperlichen Sehnsüchte projizierten. Zwar erfuhren sie bald Ernüchterung oder gar Entttäuschung, verstand Elias es doch immer wieder geschickt, ihre Annäherungen bei gleichbleibendem Lächeln abzuwehren. Doch sie zeigten den sichtbar wohlgestalteten jungen Mann offenbar gerne auf ihren zunehmenden Festivitäten her, die meist in ehemaligen Werkstätten von Handwerkern stattfanden, die ihre Betriebe in Hinterhöfen aufgegeben hatten, hatten aufgeben müssen, da die sich selbst zumindest ökonomisch in zunehmendem Maß aufklärende Gesellschaft immer weniger Interesse an schlichteren Tätigkeiten zeigte. Dieser zunehmende Teil der Gesellschaft, der die von Studenten sowie deren Mitläufer erzeugten Unruhen allenfalls am Rande wahrnahm, auch Tote wie die eines jungen Mannes namens Benno Ohnesorg waren allenfalls von Kommentaren wie verdient oder selber schuld begleitet, begann, sich dem Fertigen zuzuwenden, das beispielsweise im Mobilaren immer häufiger aus Skandinavien kam und keine Reparateure des Alten mehr benötigte, da bei Defekten oder Nichtmehrgefallen immerfort gleich zu Neuem gegriffen wurde. Man war auf bundesrepublikanischen Steuermitteln sanft gebettet nahezu durchweg aus den westdeutschen Provinzen in die Stadt gekommen, um fiskalbegünstigt sowie überhaupt höher honoriert abseits kleinstädtischer oder gar dörflicher Langeweile Spaß zu haben in den Lofts, die als Mitbringsel von wenigen tatsächlich Weitgereisten die Freude am Leben immer weiter hinaufsteigen ließen. Diese paar Botschaftsüberbringer brachten auch Zeichen der Veränderungen mit wie etwa Neudeutungen der Liebe, anfänglich am Rande wahrgenommene, aber bald um so intensiver übernommene Errungenschaften aus ferner, sich bisweilen als kurios darstellenden Lebensauffassungen einer anderen Welt. Love and Peace ward diese magische Erkenntnis genannt, uneingeschränkte freie Liebe, hier geschlechtsspezifisch umgesetzt in den oberen Etagen der Hinterhöfe, wohin Hüter einer gesetzlich sanktionierten christlichen, oftmals besonders verkniffenen, sich reformatorisch gerierenden Moral höchst selten, in jedem Fall unwirksamen Zutritt hatten. Schwul nannten sich in der protestantischen Stadt nur ein paar wenige Forsche, die sich gleichwohl auf ihren geradezu esoterischen Maskenbällen produzierten. Homosexualität, soweit reichte der Bildungsstand des größten Teils der Gesellschaft nicht zurück, galt nicht als historisch weit hinter die Antike reichendes gleichwertiges Mitwachsen, sondern als Krankheit, die ausgemerzt gehörte, also beseitigt wie das unnütze, weil wirtschaftlich untaugliche Vieh einst im März. Ein solches untaugliches Stück Vieh war Elias begegnet, als er während einer weiteren studentischen Nebentätigkeit als Vertreter eines Leasinggebers einem honorigen Herrn aus einem für Bildung zuständigen westdeutschen Ministerium mit berlinischem Zweitwohnsitz eine hochwertige Stereoanlage anzubieten hatte, deren Tonabnehmer des Plattenspielers alleine in etwa den gleichen Betrag kostete wie eine der Waschmaschinen, die er ansonsten im Programm hatte, das vorwiegend denjenigen galt, die auf der ganz weit hinten liegenden und für viele nicht sichtbaren Seite dieser Hinterhofmedaille lebte, von der Zille einst schrieb, dort würde die Miete mit dem Revolver kassiert. Den zu Wochenenden aus Bonn nach Berlin entweichenden Ministerialdirigenten einer höchsten Besoldungsgruppe hatte ihn sein Maurer anempfohlen. Der war zu dem jungen Ehepaar ins Haus gekommen, als er auf Weisung der Vermieter letzte Arbeiten an der in vier Wohnungen aufgeteilten Jugendstilvilla vornahm, deren Eigentümer, zugleich Betreiber einer gehobenen Würstchenbude am Wannsee, es über sogenannte gute Beziehungen gelungen war, sie in einen sogenannten weißen Kreis hineinzukomplimentieren, der die Mieten aus der ansonsten üblichen Preisbindung herausnahm. Mit ihm war Elias ins vertiefte Gespräch gekommen, in erster Linie wohl deshalb, da sich dessen außerordentliches kunsthistorisches Wissen herausstellte, das ihm das eine und andere Mal weiterhalf bei seinem noch hinzugenommenen Nebenfach. Fast so etwas wie eine Freundschaft hatte sich schließlich daraus entwickelt. Dieser Maurer, der sich als schlichter Geselle etwas abgabenfrei hinzuverdiente, war auch tätig geworden bei dem in ein anderes, ebenso den Wurst- und Kaffeefürfamilienbudenbetreibern gehörendes Haus in diesem unverfänglichen, weil gediegen-bürgerlichen Stadtteil am westlichen Rande West-Berlins, in das der hochrangige Beamte zweitwohnsitzend eingezogen war. An einem lauen Junisonnabend war Elias serios, aber dennoch leicht bekleidet vorstellig geworden in der Hoffnung, einmal höherwertig als im Maß von Dreckwäsche in die Kasse anderer greifen zu können. Der Herr griff auch sofort zu, vermutlich, weil er in diesem Finan-zierungsmodell Zukunft sah, vielleicht aber auch in der Hoffnung, Elias zukünftig fest in die Wäsche greifen zu können. Zuletzt tun dürfen hatte das ein um einige Jahre älterer Cousin, dem er mütterlicherseits vertrauensvoll ans Herz gegeben worden war anläßlich eines Lagers während der Feierlichkeiten zur Mitsommernacht in einer abgelegenen Nähe zum Polarkreis, der letzten Festivität vor seinem Ylioppilastutkinto, wie das Abitur in seinem Land heißt. Das ihm gegebene Vertrauen war sicherlich auch aus der Tatsache entstanden, daß der Verwandte obendrein als erzieherischer Leiter einer streng protestantischen Gemeinde tätig war, deren Leitlinien zwar nicht unbedingt mit denen seiner eher von freiem Geist beseelten Mutter übereinstimmten, die den Sohn jedoch von Fehltritten abhalten sollten. Verfrühte Sexualität beispielsweise gehörte dazu. Daß er längst Erfahrung darin hatte, seit ihn Dreizehnjährigen die wundersam weiche und zärtliche Schwedin polnischer Herkunft zu umsorgen begann, die zu internatsfreien Wochenenden von Kapellskär übersetzend als sich unausgelastet fühlende gereifte Dame eines freudigen schwedischen Hauses auch das der ansonsten zweisam lebenden Rönnrots bediente oder vielleicht einen ihre andere Nothelferinnentätigkeit überdeckenden Nachweis benötigte, sich, wie auch immer, aber eben irgendwann auch seiner angenommen und ihm endlich das und etwas mehr gegeben hatte, wonach er sich seit Kleinkindzeiten sehnte, das entzog sich der Mutter Kenntnis, war sie doch immerfort beruflich mit diesem Herrn Wittgenstein zugange, dessen Nichtwissen um das Nichts sie unbeirrt und beharrlich erforschte und betrieb wie das Auffüllen eines im All endenden Lochs. Diese Zärtlichkeit war für ihn auch das Maß aller Dinge geworden, ihr allein wollte er sich fortan hingeben. Doch im Ferienlager waren die Geschlechter streng getrennt, woran sich zwar nicht alle hielten, allen voran die Schüler und offenbar besonders gerne die Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe, aber die üppige Ainniki, die ursprünglich Tuulika, kleiner Wind, heißen sollte, dann aber doch nach Kulervos Schwester den Vorzug bekam, weil die nationaleepische Kraft Einzug halten sollte in die Familie, die ihre rotblonden Zöpfe fortwährend und geradezu frivol zu flechten schien, dieser von ersten Annäherungen Träumenden umschwärmte kleine Wind einer Kollegin seiner Mutter, deren Gatte vor ihrem ständigen Verlangen geflüchtet und in die befreiende Platonik konvertiert war, der er ab nachmittags in den Tanzlokalen des lange vor Mauri Antero Numminen* für seine Züchtigkeit legendären finnischen Tangos huldigte. Doch Ainniki schien ihm gegenüber nicht die gleiche Leidenschaft zu entwickeln, möglicherweise, weil ihm die erforderliche kalevalheroische Kampfesbereitschaft abging, wie sie die anderen Jünglinge an den Tag bis hinein in die Nacht legten. Elias fühlte sich unbeachtet; daß er sich später deshalb einmal als geschlechtlich würde diskriminiert fühlen dürfen, dessen konnte er sich noch nicht gewahr werden, schließlich befand man sich im Finnland der fünziger Jahre. Dem Cousin und Erzieher war sein schmachtendes Begehren gleichwohl nicht verborgen geblieben. Um ihn von entschieden zu frühen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht fernzuhalten, nahm er ihn in ein Duschzelt beiseite und bemühte sich, ihm das eigene nicht nur in voller Pracht darzubieten, sondern es darüber hinaus auch bewegend zu ergreifen sowie ihn in weitere Techniken der Liebe einzuführen. Jedoch alles, was an ihm währenddessen festmachte, waren die Gedanken an die zärtliche Fürsorgerin seines Wohlbefindens, die er imanigativ in ein sanftfarbenes Aquarell übertrug, das dabei Ainnikis Formen angenommen hatte. Ob es in Belgien eine Ainniki geben würde, die ihm dann wohlgesonnen wäre, darüber war er sich im Unklaren. Fest stand jedoch, kein noch so standhafter Mann würde fortan in der Lage sein, sich ihm allzu körperlich zu nähern. Als er kurz hinter Aachens Europaplatz in eine Tankstelle einbog, lächelte ihn beim Aussteigen neben einem bunt bemalten Auto eine heiter wirkende Frau an, stellte sich sich als Hanneke vor und fragte ihn, ob er nicht Lust verspüre. Sie meinte damit ihn als Begleiter zu einem Fest in Heerlen, das das Mittelalter thematisierte. Heerlen, das wußte er von seinem letzten Besuch in der Stadt am Dreiländereck, liegt nicht in Belgien, sondern in den direkt daneben liegenden Niederlanden. Hanneke fuhr voraus. *«Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Das hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet.» Tango ist meine Leidenschaft Es besteht die Absicht einer Fortsetzung.
Liebe wie gemacht Fortsetzung Flaches Land Elias legte die Kassette mit Brel ein, die ihm ein belgischer Kommilitone aus einem winzigen Städtchen namens Bettenberge zusammengestellt und auf den Weg mitgegeben hatte. Liebe, so seine begleitenden Worte bei der Übergabe in der Kneipe am Rand des Kreuzberger Rathauses, die von zwei liebenswerten abgewrackten Tunten geführt wurde, in die er mal während seiner regelmäßigen Ausflüge mit Sozialwaisen geraten war, werde von diesem Troubadour in Vlaams sehr viel gefühlvoller herübergebracht, sie dringe zärtlicher in ihn ein als in dieser schlappschwänzigen Sprache Französisch. Liebe habe schließlich etwas mit Härte zu tun, durch die man hindurch müsse, deren Unbilden überwunden werden müßten. Französisch, das sei wie Mittelmeer, alles perle wie das Wasser einer Badewanne die milden Strände rauf und runter. Flämisch, das sei Nordsee. Wer sie besiege, der sei auch Herr über die Liebe. Elias überlegte, den direkten Weg über die Landstraße nach Lauenburg zu nehmen, da die Strecke ihn direkter an die Nordsee führte. Aber er wollte ja nicht nach Hamburg, bei diesen Pfeffersäcken, sinnierte er noch ein wenig trauerumflort in sich hinein, gebe es mit Sicherheit keine Liebe, es sei denn käuflich erwerbbare. Über Helmstadt käme er trotz aller eigens für bundesdeutsche Freizeitpiloten sorgsam angefertigten Schlaglöcher ohnedies schneller aus der sozialistischen Trauer hinaus, vor allem aber wäre er näher am Breitengrad das flachen Landes, dessen nachtrauhe Stimme ihn auf dem nächtlichen Weg in ihre Heimat begleitete. Er war am Abend losgefahren, da er nicht im Dunklen in der Freiheit ankommen wollte, die ihm an den Stränden des Westens voller Hoffnung auf Bindung zuwinkte. Binden wollte er sich zwar nicht, aber gegen etwas Enge hatte er nichts einzuwenden, zumal sich ohnehin alles wieder voneinander löse. Als Lösung hatte er die Liebe kennengelernt. Liebe macht man, hatte ihn seine dem Französischen geradezu verfallene Mutter gelehrt. Ob er selbst mit Liebe gemacht worden war, darüber gab sie keine Auskunft, auch nicht darüber, ob der französische Gastprofessor an seiner Produktion beteiligt gewesen war, der im mütterlichen Zuhause in Turku am Lehrstuhl für finno-ugristische Sprache das finnische Nationalepos Kalevala erforschen durfte und seinen Landsleuten zugänglich machen sollte. Sie schwieg sich darüber aus. Über die Liebe, lehnte sie sich an Wittgenstein an, über den sie an derselben Universität dozierte, könne sie nicht sprechen, solange sie sie noch nicht erforscht habe. Was sie mit dieser Andeutung gemeint haben konnte, erfuhr er erst sehr viel später, als er auf seinem Marsch durch die Fakultäten weit vorangekommen war, er in der fünften Etappe der Reise durch garantiert brotlose Künste von Erziehungswissenschaft über Sinologie bei der Liebe zur Weisheit angekommen war und über einen Landsmann den österreichischen Philosophicus näher kennenlernen durfte. Der Forscher der ihm doch wohl etwas zu enggewordenen Mythologie war mit Beendigung seiner Vertragslaufzeit wieder zu seiner geliebten Sorbonne zurückhin-entschwunden. Hätte ihm die Universität Turku ein Zeugnis ausstellen müssen, wäre sicherlich darin vermerkt worden, er habe sich mit hoher Intensität vor allem vieler Nebenfächer gewidmet. Zurückgebliebener aus der gemachten oder ungemachten Liebe war vermutlich er, Elias, der, wie er doch noch aus seiner Mutter herauskitzeln konnte bei seinem Abschied nach Berlin, zu dessen Anlaß sie mehrere Gläser Champagner einer kleinen, dem Unkalku-lierbaren, dem reinen Echten zugetanen Winzerei trank, dem sie so ergeben war wie eben dem Land, aus dem er gekommen und in das er alsbald wieder abgetaucht war, eigentlich Jean heißen sollte. Hans hießen alle Männer dieser Welt, hatte er über Ingeborg Bachmann erfahren, nachdem er in seiner Entscheidungsunfreudigkeit auch noch die Germanistik hinzugenommen hatte. Doch Jean, also in der französischen Variante, schlußfolgerte er, schien seiner Mutter zu verräterisch, wohl allzu leicht hätten die auf ihre protestantisch-moralischen Grenzwerte bedachten Kollegen Schlüsse ziehen können auf ihre Schwäche für Fehltritte ins katholische Ausland. Da es ohnehin ihr Geheimnis bleiben sollte, gab sie ihm den Namen Elias, den sie für andere ungeahnt in ihrem nach wie vor schwülen Herzen tragen konnte und dabei ihren Landsleuten auch noch Ehrerbietung erwies, indem sie der phonetischen Namensähnlichkeit zum großen Sammler und Dichter des Kalevala auch noch dessen Vornamen einfügte. Elias Rönnrot, mit diesem Namen würde ihr Sohn, mag sie sich gedacht haben, besonders in dem Teil Finnlands gut vorankommen, in dem die meisten Finnen Finnisch nur selten beherrschten und sich der einstigen Herrschersprache Schwedisch zu bedienen gezwungen waren. Sie hatte wohl nicht bedacht, daß sie ihren Bastard in ein im Osten gelegenenes Internat würde stecken müssen, in dem ihm endgültig die richtigen Flötentöne beigebracht werden sollten, die ihm beizubringen sie nicht beherrschte, da er früh eigene Musikvorstellungen entwickelt hatte und sich den ihren ständig verweigerte, die sich aus höfisch-rituellen zusammensetzten, wie sie an des Sonnenkönigs goldenen Käfigen von Versailles musiziert wurden. Dort brachte man sie ihm tatsächlich bei, wenn auch in abschätziger Form durch Lehrer und Mitschüler, die sich über ihn lustig machten allein wegen seiner miserablen Leistungen in der Sprache seines Heimatlandes, auf das man gefälligst sehr stolz zu sein hatte. So nahm er zwar mit erheblichen Schwierigkeiten die sprachlichen Hürden seiner Nation, um schließlich doch noch zu einer Hochschulreife zu gelangen, aber er ward durch seine gesammelten Erfahrungen darin geübt, nicht zu wissen, welchen Weg er nehmen sollte. Nachdem ihn die Volksgendarmen nahezu grenzenlos durchgewunken hatten, wobei er meinte, von der amtsausführenden uniformierten Frau wiedererkannt worden zu sein, der er permanenter Grenzüberschreiter gegenüber einmal anläßlich einer etwas zu ausgiebigen Kontrolle geäußert habe, sie sei nicht nur gewissenhaft, sondern trotz ihrer grauen Gewandung sichtbar wohlgestaltet, hielt er im Land der Bundesdeutschen zunächst an und ließ den picabiaschen Prozeß in sich austoben, welche Richtung er nehmen solle. Die seiner Orientierung nächstgelegene wäre die alte Reichsautobahn nach Braunschweig und Hannover und von dort aus direkt weiter in den freien Westen gewesen. Doch gleichzeitig rührte ihn der Wunsch auf, die Gelegenheit zu nutzen und den weiter südlich gelegenen alten neuen Wohnort der Frau aufzusuchen, die den gemeinsamen kürzlich verlassen und zu ihren Eltern zurückgekehrt war. Wütend war sie geworden, als er sich geweigert hatte, ihr, wie sie es nannte, ein Kind zu machen, und zwar mit Liebe. Denn dies, hatte sie noch angefügt, könne ihre Ehe retten. Das mit Liebe machen hatte er noch verstanden, aber ob ein solcher Rettungsanker namens Kind auch Halt geben könnte in diesem flachen Wasser, in den sie ihn auswerfen wolle und dann auch noch unter Berufung auf einen lieben Gott, dem ihre Erzeuger huldigen würden, diese Frage zu stellen hatte er dann sich erlaubt. Daraufhin hatte sie sich in deren Hort, unter die Fittiche ihrer gottesfürchtigen Eltern zurückgezogen. Der Gottesfurcht war sie zuvor eher weniger zugeneigt gewesen, aber sie muß sie sich offensichtlich zugelegt haben, nachdem er mal wieder ein paar Flaschen Korn nach Suomi gebracht hatte, im Land ein probates Zahlungsmittel für verlängerte Mitsommernächte, und sie während seiner Abwesenheit einigen Zeugen Jehovahs oder ähnlich gelagerten Verfechtern des Kindes als soziales Klebemittel die Tür nicht nur geöffnet hatte. Vielleicht würde sie ihm das erklären können, das mit dem Bindemittel aus gemachter Liebe, wenn er in friedlicher Absicht vor ihrer Tür stünde. Doch dann entschied er sich gegen die südliche Orientierung. Der Drang dorthin, wo das Dunkel herkommt, wo nicht nur der Liebe Sonne untergeht, in den Untergang all dessen, was ihn das Leben bislang gelehrt hatte, hatte obsiegt. Er nahm die Autobahn, er würde nach Belgien fahren. Es besteht die Absicht einer Fortsetzung.
Romaneskes Die Sehnsucht nach Liebe scheint zu wachsen. Vor allem in den sogenannten modernen Ländern tritt sie über die Ufer. Was früher als typisch gelten konnte für ausnahmslos romanisch kolonialisierte Staaten wie die lateinamerikanischen, die Seifenoper, hat die zivilisierten Republiken und Restmonarchien erobert. Die Herzen flimmern bei roten Rosen in verbotener Liebe auf dem Marienhof. Alles verzehrt sich nach Rosamunde Pilcher. Ob auch die Auflagen der gedruckten Schmachtfetzen im selben Maß angestiegen sind wie die verfilmten, das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin schließlich kein Literatur-wissenschaftler des Populären. Ich bin überhaupt nichts mehr, es sei denn, Privatier, meinetwegen auch Rentner. Und als solcher hat man bekanntlich sehr viel oder auch zuviel Zeit. Der eine hilft anderen, indem er sie in irgendeiner Form unterstützt, sei es an der örtlichen Tafel, sei es beim mittelständischen Betrieb mit beruflicher Erfahrung, auf daß deren Besitzer auch später einmal noch gut tafeln können. Ich aber habe insofern nie etwas ordentliches gelernt, als meiner Hilfe niemand bedarf. Rasen mähen oder mit dem Renntreckerchen über den Rasen rasen, das hat im hiesigen Norden der Herrscher seines Landlordguts übernommen, seit er verrentet und damit endlos gelangweilt ist, weil der Sohn das Umkrempeln des ihm übergebenen Betriebs in eigener Regie bewältigen möchte. Dabei sterben die alten französischen Weine im neu strukturierten Lager. Ich alleine reiche nicht aus, sie zu trinken. Es käme aber vielleicht ohnehin noch mehr Unsinn heraus bei der einzigen mir verbliebenen Tätigkeit, dem Märchenerzählen. So belasse ich es bei der Erkenntnis, die, wenn ich mich recht erinnere, Anfang der Achtziger über Dieter Hildebrandt gekommen war, der für sich selbst feststellte, daß bei einer gewissen Zurückhaltung ein Übermaß an Makulatur vermieden werden könne. Andererseits müssen meinetwegen auch keine Lebensbäume mehr gefällt werden. Selbst mein letzter, noch der Weltverbesserung dienender Schmachtfetzen auf Sechshundertdreißig Seiten vor zehn Jahren war digital verfaßt worden und hat obendrein nur die Hälfte der zum Buch erforderlichen Druckfahnen gesehen. Ich werde mir auch keinerlei Gedanken mehr darüber machen, inwieweit Lore-Romane noch am Kiosk gekauft oder längst als elektronisches Buch verfügbar sind. Fest scheint zu stehen, daß Bedarf vorhanden ist. Und da ich voll bin von Liebe und Sehnsucht und ohnehin nichts anderes kann und kenne, werde ich, um nicht gänzlich nutzlos herumzustehen oder -zusitzen, diesen Bedürfniskrater, den die Zusammenhaltlosigkeit in diese schnöde Welt gerissen hat, auffüllen helfen. Da mir nichts neues einfällt, werde ich's machen wie Genosse Putin und Altes aufbereiten, auf verbliebene Ressourcen zurückgreifen. Ich werde, obwohl ich das nie wieder tun wollte, neuerlich einen Liebesroman schreiben, der sich aus der Vergangenheit nährt, solange es sie noch gibt. Vielleicht scheitere ich und es endet in einer torsischen Erzählung. Ich habe schließlich noch nie gewußt, wo, wann und wie etwas endet, das ich angefangen habe oder das mich angefangen hat. Ich gehöre eben einer Generation an, die nach dem Prinzip lebt: Es gibt viel zu tun, warten wir's ab. Sie, die ihm das Schicksal vor gar noch nicht so langer Zeit ausgesucht hatte, weil sie seiner Vorstellung von einer Göttin gleichkam, war ihm abhanden gekommen. Und damit war er orientierungslos geworden. Sein Kompaß war entschwunden, war zurückgekehrt zu den Eltern. Die boten mehr Sicherheit als er, der nie so genau wußte, wohin er wollte, aber immer bestimmte, welche Richtung einzuschlagen war. Sehr nahe am Wasser gebaut hatte er wegen des Verlusts seiner Lebensmitte. So packte er sein sicheres Automobil aus Schweden voll mit Überlebensmitteln wie Federbett und Kopfkissen aus Daunen, in das er nächtens weich auf dem Liegesitz würde weinen können, und begab sich auf Route gen Westen. Den Norden kannte er zu gut, dort hatte er genug lange Zeit verbracht, den vernachlässigte er lieber, da wären überdies zu viele Erinnerungen an Gemeinsamkeit aufgekommen. Das Wasser im Westen zog ihn deshalb eher an. Es bot einen anderen Rückblick. Es war einer auf sich selbst, in eine andere, eine frühere Vergangenheit, die sich nicht um Zukunft scherte, in der es nichts Bewährtes gab. In ihr würde er haltloser in sich selbst hineinschluchzen und melancholieren können. Wasser hatte für ihn seit je eine magische Anziehungskraft. Landschaften und Städte ohne zumindest Flüsse oder Seen in der Nähe hatten für ihn nie Bedeutung. Fast mied er sie. Am wohlsten war ihm am Meer. Dorthin zog es ihn. Ans flache Land zum Beispiel. In das von Jacques Brel, den alle für einen Pariser hielten. In dieses Land: 1«Wanneer de lage lucht vlak over het water scheertMit einem Himmel, so tief hängend, dass Kanäle sich verlieren, mit einem Himmel, so grau, daß sich Kanäle erhängen. Brel würde ihm in seiner Heimat die richtigen Ratschläge erteilen. Er kannte sich aus mit Frauen. Marieke besang er: 2«Zonder liefde warme liefdeBrel war zwar eher Margaux zugetan, aber mit der blonden Frida kannte er sich sicherlich ebenso gut aus. Das gab ihm Orientierung. Er würde sich nach einer neuen blonden Frida umschauen, ähnlich der, die den sicheren Hafen Eltern ihm vorgezogen hatte. Er würde ihm helfen, eine flämische Ruhe zu finden. Er würde den vlaamsen Teil des Landes aufsuchen, wo es Wasser gab, in das er hemmungslos hineinweinen könnte. So würde er wieder ins Lot kommen, wenn eine Frida feenhaft neben ihm auftauchte an den Gestaden der bewegten und ihn bewegenden Nordsee, die sich neben ihn setzte wie eine Melusine. Es mußte ja nicht diese Undine aus Ingeborg Bachmanns Buch Das dreißigste Jahr sein, in dem sie geht und in dem am Ende alle Hans heißen und in dem sie zu ihm als Stellvertreter aller sagt: «Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war — ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.» Auch noch keinen Fouquè, der keinen Zweifel daran gelassen hat, daß diese Meerfrau ihrem Ehemann überlegen ist, oder Giraudoux, bei dem es keine Zeit gibt für sie und keine Ewigkeit. Für eine solche Zeit wäre später Zeit. Er war ja noch so jung und hatte alle diese Bücher zwar gelesen, aber deren Anliegen, ein Begriff, von dem er allenfalls via Adorno wußte, daß es ein Unwort sei, ebenso nicht verstanden wie diesen goethischen Werther. Er sehnte sich nach einer gegenwärtigen meerischen Jungfer, die keinen Fischschwanz hatte und die nicht gleich wieder ins Wasser entschwand, wenn er mal wieder nicht wußte, wo sie gemeinsam entlangschwimmen sollten und er dennoch darauf bestand, über die Direktionshohheit zu verfügen. Eine Fortsetzung ist beabsichtigt. Änderungen kann's geben. Warten wir's ab.
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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
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