Die kleine Freiheit Eine Antwort für Herrn Nnier (weil's schon wieder so lang geraten ist, kommt's nach vorne) Für den einen steht sie an der Reeperbahn, für mich liegt sie in der «Unstrukturiertheit» des Free Jazz. Sie ist das Gegenteil der exact gesetzten Ordnung beispielsweise bestimmter Zwölftöner, die mich bisweilen unangenehm «gefangen» nehmen. Om ist geradezu harmonisch beispielsweise gegenüber der Musik einer musikalischen (Un?)Formation, das die Tube leider nicht anbietet, da ich es sonst ausgewählt hätte, von der Herbert Köhler in Platonische Musik einmal «unerhört» schrieb: «In einer Art autistischer Selbstverteidigung schnalle ich mir den Kopfhörer um und ziehe die Regler auf. Zeit, Raum und Mitwelt bleiben ausgeschaltet: ich zelebriere, lasse mich fertig machen ohne SM-Gefühl! Verliere ein paar Kilo, nachdem ich The Jazz Composer's Orchestra* ohne Pause durchgehört habe. Nebenprodukte sind heiße Ohren und eine solipsistische Freude am heimlichen Euphorikon.» Bei mir ist's nicht ganz so ausgeprägt, daß es mir gleich den Bauch wegnimmt (früher hat solches mal die Musik via Tanz erledigt), dazu fehlt mir die Leidenschaft, aber «solipsistische Freude am heimlichen Euphorikon» kommt gut hin. Entscheidend und auch für mich gültig ist allerdings Köhlers Aussage zur Musik überhaupt: «Sie ist kein soziokulturelles Bindemittel [...], ich bin temporärer Datenträger in einer auf handlichen Konserven beruhenden akustischen Vermittlung.» Das ist keine konstante Situation, aber wenn ich bewußt höre, also nicht an meinem france musique-Tropf hänge (der mir allerdings manch ein Frischzellen-Schübchen verabreicht), dann bin ich verloren für den Rest der Welt, dann gibt es keine Gesellschaft mehr, in die ich integriert gehörte. Besonders häufig ist das der Fall, wenn ich Free Jazz höre — er macht mich tatsächlich frei, jedenfalls insoweit oder -fern, als ich dann köstlich gedankenlos bin. Valse triste stammt aus der Bühnenmusik zum Drama Kuolema von Arvid Järnefelt. Es wird nahezu ausnahmslos als Teil einer Bonbonière gehört, die die späten Romantiker beinhaltet; des Norwegers Edvard Grieg Ases Tod oder Solveigs Lied aus der Peer Gynt-Suite beispielsweise sind dem auch zuzuordnen. In der Tube hat jemand gemeint, zu einer bildlich etwas seltsamen Finlandia-Illustration Bilder von norwegischen Landschaften stellen zu müssen; Sibelius war Finne. Das ist das Dilemma, an dem die (Konserven-)Industrie mit ihrer Geschmacksbildung schuld ist — irgendwann firmiert solches dann unter «Weltmusik». Dabei bezieht sich diese Musik auf eine in der Welt vergleichsweise winzige (Kultur-)Landschaft, in und mit der der finnische Komponist gelebt hat. Die Leckerei Valse triste schmeckt sehr viel intensiver, begebe ich mich mit Haut und Haar hinein in diese Umgebung (angerissen habe ich das thematisch mal in Tondichters Lautmaltag). Möglicherweise erleichtert dieses Sich-Einlassen auch die Annäherung an Kimmo Pohjonen oder an die typische Polka von Maria Kalaniemi oder gar an M. A. Numminen, der zwar alles vergackeiert, nicht nur den höchst gesittet getanzten Tango als Leidenschaft (2000 erschienen, nicht wie häufig angegeben 2003) seiner Heimat, dessen Humor aber ohne Finnland häufig frei ins Unverständnis entschwebt und für manch einen rätselhaft bleibt wie die Filme von Aki Kaurismäki. Ein wenig davon steckt übrigens auch in dieser Musik von Enzo Enzo. Sie hat in ihren ersten Platten die Barmusik französisch gegen den Strich gebürstet — jedenfalls sehe, besser höre ich das so: «L'amour est un alcool. Diese vertrackte, bei Enzo Enzo wie immer doppeldeutige Stück aus der CD Oui. Ein Gleichnis: Eingezwängt in Arme. Eine kleine Stunde oder zwei mit einem Kuß oder zwei. Der Rausch verursacht Carambolagen. Man verliert die Kontrolle über sich: Der Unverstand hat das Monopol. Aber man träumt. Liebe ist wie Alkohol. Und das Ganze geradezu als Barmusik geklimpert. Vielen ist diese Hinterlist zu leise.» Wenn ich dieses Stück ausgewählt habe, dann selbstverständlich unter dem Aspekt des Gesamten. Als ich diese Musik zum ersten Mal hörte, ging es mir nicht anders: «... in einer Bar als angenehmes Hintergrundgeräusch». Dann meinte ich hinter diese Vertracktheit gekommen zu sein. Und daß ich dieses Stück hereingenommen habe, liegt an der Tatsache, daß die Tube und andere nicht anderes angeboten hatten, ich aber ohne erneute Liebeserklärung an diese Dame nicht von der Bühne wollte (auf die Sie mich gezerrt haben). Was von Ihnen Charlie Parker genannt wird, hat mit dem berühmten Bebop zwar zu tun. Mir aber ging es um die Interpretation von Maria João und Aki Takase — die im übrigen bei mir mit My Favorite things/My funny Valentine nochmals auftreten — sozusagen getanzt von dem recht gelösten Herrn, der eben irgendwie diese «solipsistische Freude am heimlichen Euphorikon» zu haben scheint. Maria João und Aki Takase haben früher einige Jahre zusammengearbeitet; Denkmale ihrer Kunst sind für mich die Platten Looking for love von 1988 oder Alice (mit Niels-Henning Orsted-Pederson). Maria João trat später eine Zeitlang mit ihrem portugiesischen Landsmann Mário Laginha am Piano auf, bei deren Platte Cor (mit Trilok Gutu und Wolfgang Muthspiel) kann ich mich vergessen (da rolle ich [im Konzertsaalauto] ab über die abgelegenen Sträßchen Südfrankreichs wie in Jan Garbareks I took up the runes; es geht sogar, wie ich gerade höre, klar, logisch, schließlich kommt die Musik ursprünglich aus dem Norden, kurz vorm zur Zeit eklig feucht-kalten Mare Balticum); ein winziges bißchen von Cor ist übrigens zu ahnen in Unravel. Ob man von Miles Davis alles oder nichts hat, kann ich nicht beurteilen. Er gehört zu meiner Zeit, während der ich mich vom mütterlichen Opern- und sonstigem terror befreite (mein Vater muß deshalb ständig die Flucht ergriffen haben, was mir zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht vergönnt war — aber dann, 1963), also seit den Sechzigern. Aber ich war, wie überhaupt nie, ein Jünger (von irgendwas). Eine Zeitlang dümpelte er mit einer Platte so für sich hin in meinen Regalen. So richtig entdeckt habe ich ihn erst mit Bitches Brew (Lesbares dazu hier). Danach habe ich auch seinen früheren Kompositionen und späteren Interpretationen (etwa Sketches of Spain beziehungsweise Concierto de Aranjuez von Joaquín Rodrigo, in Ermangelung von Herrn Miles hier mal das Original und von einem anderen gern gehörten großen Meister gespielt) aufmerksam zugehört. Und ich tue das noch heute, aber mehr als drei Scheiben habe ich nicht von ihm. Léo Ferré — sollte es je einen Gott gegeben haben oder ihn geben, dann war oder ist er selbstverständlich Franzose und trägt diesen Namen. Von ihm habe ich tatsächlich alle Platten und manches auch noch auf CD; das glaube ich zumindest (wenn wir schon beim Glauben sind). Runaway — wie Del Shannon wollte ich früher mal singen können, zumindest dieses eine Lied. Und da ich mittlerweile weiß, daß ich nicht singen kann, höre ich es mir immer wieder gerne mal an, sozusagen als Erinnerung an meine Träume. Mit Gustav Mahler überraschen Sie mich ein wenig. Und dann auch noch Dimitri Schostakowitsch. Sie werden doch nicht älter werden? Sie schreiben gar vom Dasein als Rentner (meinen Sie, Sie kriegen sowas mal?). Sie sind doch noch so jung. Und Sie ohne Beatles beziehungsweise Herrn McCartney? Mir das vorzustellen, fällt mir so schwer wie Sie mit ohne einen bestimmtem Zeichner. * Das tue ich Ihnen musikalisch jetzt nicht an; mir muß ich's ja nicht zumuten, da ich sowas gerne höre (wenn auch nicht ständig). Aber vielleicht versuchen Sie's für den Anfang mal mit Gato Barbieri, der ja auch manierlich saxophonierte.
Geräuschkulisserie «Musik wird oft nicht schön gefunden», ließ uns Wilhelm Busch wissen, «Weil sie stets mit Geräusch verbunden.»* Ob er auch nur geahnt hat, wie das eines Tages einmal ausarten würde, vor allem dort, wo sie als Krücke für bewegende bewegte Bilder herhalten muß, quasi als sinnentstellendes Nebengeräusch? Früher war es vor allem die Radio- und Fernsehwerbung, die mich, um's mal moderat auszudrücken, allzu oft in Erstaunen versetzte wegen ihres gnadenlos platten und inhaltsfreien Einsatzes klassischer oder sich der Klassik annähernden Musik. Deshalb will ich mich seit langem dazu äußern. Ausführlich. Es wird mir wieder nicht gelingen. Denn immer wieder entschwinden mir die Beispiele aus dem Kurzzeitgedächtnis. Bis ein abstruses, irgendetwas begleitendes Klangbild in mein Gehör hineinstreicht, daß es derart wehtut, als ob mich dieser niederländische fiedelnde Folterknecht namens André Léon Marie Nicolas in Arbeit hätte. Vor ein paar Tagen war's mal wieder soweit. In einer Reportage über Deutsche, die sich in die Wärme Spaniens verflüchtigt und dabei nicht nur vergessen haben, wie sinnvoll es sein kann, sich mit einer Kultur und deren Sprache(n) zu beschäftigen, inmitten derer man zu leben gedenkt, sondern auch, daß der Mensch älter wird und möglicherweise gar gebrechlich. Und daß das Land, dem man den Rücken gekehrt hat, dafür nicht zahlt im fremden Land, Europa hin, EU her, man also wieder zurückmuß dorthin, wo man einst hineingeworfen wurde, um dort Altenpflege zu empfangen beziehungsweise zu erhalten. Viel Leid wird gezeigt in dieser Reportage, auch viel schöne Landschaft und herzallerliebst Inneres von Architektur, die man sich hingerichtet hat seit zwanzig oder dreißig Jahren für den Rest des Lebens, das nun vorbei sein soll. Dazu hier ein wenig untermalende Streicherei, dort mal etwas Kastagnette, die Gegend will schließlich illustriert sein, weil man sie sonst vermutlich nicht erkennt. Dann ein Schwenk über die Hügel der Costa Blanca oder noch weiter hinunter, wo alles staubt, obwohl sie das Wasser aus den Pyrenäen abziehen bis nach Frankreich. Und dazu plätschert dann Keith Jarrett in den Flügel, man erkennt sein Spiel gerade, wenn man ihn denn kennt, immerhin länger als die neunzehn Sekunden, nach denen die GEMA zugreift, mal kaum hörbar eben, dann wieder ein paar Tastengriffe lang deutlicher: Kölner Oper, am 24. Januar 1975, jenes Köln Concert, das der eine oder andere so langsam wieder vorsichtig zu hören beginnt, weil es lange Zeit in den Ohren wehgetan hat, so oft kam es einem entgegen aus dem Radio oder auch vom eigenen Plattenspieler (ich kann die Vinylscheibe mit dem Daumennagel abspielen). Jetzt, da ich dies hier schreibe, erinnere ich mich, es vor einiger Zeit schon einmal (wieder-)gehört zu haben, ebenfalls in einer Reportage. Damals ging es, wenn ich mich recht erinnere, um alte Arbeitersiedlungen im Bergischen Land. Alter. Architektur. Landschaft. War's derselbe Autor, zumindest der Redakteur, der ihm gesagt hat: Hier muß Musik drunter, das wird sonst zu trocken. Nun gut, Köln ist ja nicht weit weg ... Die Tage nun, in der TV-befreiten und nur dem Fernblick dienenden Landschaft fast ein bißchen übermäßig mit deutschem Lied aus französischem Radio überspielt, lese ich, fast schon seltsam anmutend anläßlich meiner musikalischen Gedanken: «Welch wunderbare Koppelung von Musik und Handlung. Auch wenn so was an und für sich unanständig, qualitativ beschneidend und fast schon zynisch gegenüber der absoluten Musik ist — es gibt Fälle, in denen das Zusammenspiel von Handlung in bewegten Bildern und Musik Gutes hervorbringt. Alleine das Setting: in einem Friseursalon; an einem Ort, der dem Putz dient, der Politur der Oberfläche, wird er mit seiner ganzen inneren Hässlichkeit konfrontiert.» Genelon beschreibt den musikalischen Strang einer filmischen Einheit. «Man vernachlässige den Film, den man einmal ansehen kann und adieu.» Er begründet das in Worten, die unsereins gerne öfter mal läse: «[...] Krankheit der Filmindustrie, die den Wunsch eines wachsenden halbweltlerischen Zielpublikums erkannt hat, sich mit dem erlesen-verruchten Geiste scheinbar scheinbar konventionsbrechender Einen-Schritt-Weiter-Denker besonders verwandt zu fühlen, der in Wahrheit nichts als intellektuelles Halbstarkentum ist, Schlausein für geistige Goldgräbertypen, die aus der innerfilmischen Logik auszutreten nicht imstande sind, aber mit Vorliebe und Kontinuität aus allen Filmen herausfischen, was sich besonders verwegen angehört hat, um es bei der nächsten sozialen Gelegenheit so beiläufig wie möglich als Marke Eigenbau wiederzuverkaufen.» Dann jedoch geht er auf den Kernpunkt ein, die Musik. Er beschreibt minutiös, was da vonstatten geht und schließt: «Man soll sowas nicht machen — der Musik Treibladungen unterschieben, etwa durch dabei vorgetragene Geschichten oder bewegte Bilder, dadurch verkümmert langfristig die reine musikalische Phantasie. Musik muss für sich selbst stehen [...].» Nun ja, vielleicht ist das ein wenig viel verlangt, derart zugesoßt, wie wir nunmal sind. Bei den vielen einheitlichen Stimmungen, die da ständig erzeugt werden wollen. Von der Werbung soll hier nichtmal unbedingt die Rede sein. Gleichwohl es sicherlich einen gleichbleibenden Eindruck auf den Konsumenten macht, wenn Edvard Grieg auch über die sanfte thüringische Bratwurstlandschaft streicht. Es muß ja nicht gerade Ases Tod oder Solvejgs Lied sein, die sind schon zu bekannt geworden via KlassikRadio oder NDR-Kultur (als Literatur verschwindet sowas allerdings eher in der Stunde, die man krank war). Irgendwas aus der Mitte, das gut und gern auch ein bißchen Kalevala sein könnte, das macht sich auch ganz gut, denn irgendein irgendwie leicht rätselhafter Wiedererkennungseffekt möchte schon sein. Und richtig, Sibelius' Bläser hörte ich so manches Mal über die Wälder um die Villa Hügel tröten oder dessen Streicher den Schwarzwald einfärben. Sogar in Frankreichs Haute-Provence sind sie mir schon widerfahren, als es darum ging, den Mistral zu untermalen, auch wenn der dorthin gar nicht kommt, sondern kerzengerade die Rhône hinunterfegt. Solche lautmalerische Illustration geben die beiden Skandinavier eben am besten her. Auch wenn sie als Komponisten so grundverschieden sind, die vielzitierte «späte Romantik» hin oder her. Aber woher sollen die Rundfunk- und Fernsehautoren auch wissen, welche Musik wo einsetzbar ist? Für sowas ist doch keine Zeit. Schon an der Uni müssen sie sehen, daß sie den Lernstoff bewältigt bekommen. So ein Bachelor geht schnell vorüber. Die Journalistenschule oder ein BWL- oder Jurastudium mit Volontariat sind dabei auch nicht eben hilfreich. Und in der Penne haben sie gerade gepennt oder mußten zum Ohrenarzt. Im Deutschunterricht ging das ja mit Kempowski los, «eingeschränkte Halbwertzeit» eben. In Musik gab's nur Bach oder Beethoven oder diese Kunstlieder von diesem Schubert oder so'n Kram, in die hauptstädtische Oper mußten sie auch mal mit diesem gekreischfanatischen Lehrer, was aber allesamt schlecht einsetzbar ist für sowas. Es will aber produziert werden. Reportagen, Features, Dokumentationen. Sie alle benötigen Illustration. Mit dem zuhause gehörten Techno oder Punk oder Udo Jürgens oder «James Galway, diesem André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler) ist das irgendwie nicht so günstig für das eigene Ansehen im Bekanntenkreis. Also greift man in die unverfängliche Kiste mit den immergleichen fünf Musiken. Wie die Werbeindustrie. Bei der wehte eine Zeitlang ohn' Onterlaß ein molliger primavera über die fröhlich trocknende weiße Wäsche. Es spielt aber auch weiter keine Rolle, denn die geneigten Hörer oder Zuschauer beziehungsweise -seher können's ohnehin nicht unterscheiden. Die Zeit der aufklärerischen Enzyklopädisten ist unwiderruflich vorbei. Das Fernsehpublikum sehnt sich nach dem Schlichten, dem Wiedererkennbaren, nach der inszenierten biblia pauperum. Aber wenn man's doch wenigstens erkennen könnte. * Wilhelm Busch: Der Maulwurf. Sämtliche Werke I, Und die Moral von der Geschicht, Rolf Hochhuth (Hrsg.), München 1982
Musikalisches Sgraffito Prangt über der Eingangstür zu einer gastronomischen Lokalität ein Warnhinweis wie Achtung, hier werden Sie nicht nur musiktechnisch zugedröhnt! dann betrete ich diesen Laden erst gar nicht. Ich werde die Tür nicht einmal einen Spalt breit öffnen, da ich meine eigenen Vorstellungen von Rausch durch Geräusch habe und ich mir mein Restgehör erhalten möchte. Steht dort geschrieben, es könne in diesen Räumen unter Umständen optisch eigenartig zugehen, dann ist das nicht allzu risikoreich. Die Augen kann ich schließen, die Ohren hingegen lassen sich, im Gegensatz zum umgangssprachlichen Bild, nicht eben mal runterklappen. Ein neues Virus breitet sich zusehends aus: Den individualreisenden Wanderer, der auf seinen Entdeckungsreisen durchs unendlich weite Bloggerland ohne Tunnelblick unterwegs ist, sofort vom eigenen Musikgeschmack überzeugen zu wollen. Allerdings: ein Klick — die kurz geöffnete Tür —, und schon ist man überzeugt: weniger von der brachialen Klangwolke als vielmehr vom Wissen, daß man hier mit Sicherheit nicht mehr reinwill. Mal unabhängig von dieser Variante der Penetration: Diese Art von horror vacui, diese Angst vorm leeren Ohr nimmt mittlerweile seltsame, skurrile und/oder absurde Züge an. Dann lieber die Furcht vorm unbeschriebenen Blatt, der unschuldigen Seite. Die macht nicht soviel Krach. Nun denn, vielleicht ist das ja eine prophylaktische Abwehrmaßnahme: Möge hier bloß niemand wieder reinkommen wollen, der nicht gemeint ist. Etwa so: Meine Seite ist meine persönliche No-go-area! Na gut. Dann gehe ich eben woanders spielen. Auf jeden Fall dort, wo's nicht so laut ist. Aber an dieser Seuche ändert's nichts.
Wilde Weiber Besançon. Nochmal. Ist ja auch nett dort. Eine Universität gibt es, eine Musikhochschule, eine Kunsthochschule. Und das berühmte Dolmetscher-Institut. Aber vermutlich gehört das zur Universität. Das bringt viele Menschen dorthin. Junge eben, und manche bleiben hängen. Das ist ja sehr oft so in diesen gemütlichen Städten, die letztendlich einen dörflichen Charakter haben. Wie in Heidelberg, wo so manch einer seine siebzig Semester Sinologie abgerissen hat. Jeder kennt jeden, zumindest in den künstlerisch angehauchten Kreisen. Da gibt es eben keine Unterschiede, und schon gar keine der Nationalitäten, geschweige denn Hautfarben. Ja, und die Musikfestspiele haben einen sehr guten, internationalen Ruf. Viel los ist ansonsten nicht. Vor allem in den Semesterferien, in der Sommerzeit, wenn die Einheimischen alle in der spanischen Sonne braten. Na gut, das Museum der schönen Künste und Victor Hugo, der ständig hochgehaltene Sohn der Stadt. Und dann der Tourismus, der zur Citadelle aus dem 17. Jahrundert hinaufdrängt und überhaupt die Stadt und deren Kasse äußerst belebt und es geschafft hat, die Glas- und Papiercontainer in die Erde zu versenken, weil sie das Stadtbild stören könnten. Das Laub wird auch ständig entfernt, selbst dann, wenn es noch gar nicht vom Baum gefallen ist. Der übliche, von der nahen Schweiz beeinflußte (Einkaufs-)Rummel eben. Aber das auf der anderen Seite des Doubs gelegene Quartier Battand hinter der Kirche La Madelaine (nebendran die Bar, an der Manou gescheitert ist), das alte Besançon wohl, ist schon sehr heimelig. Vor allem in eine Kneipe, pardon, Bar heißt das en France, zieht es mich immer wieder (seit es das Le Diga-Diga-Doo nicht mehr gibt): Le Comptoir. Da sitzt das wirklich angenehme Besançon drinnen. Theater, Musik et cetera. Alle Altersgruppen. Wobei das natürlich überall so ist, wo kulturell, also am Pastis interessierte Menschen zusammenkommen. Und doch habe ich eben in Besançon das als besonders angenehm empfunden. Als ich mal dort saß, im Le Comptoir, und nach einer bestimmten Musik fragte — diese zwei köstlich durchgeknallten Frauen aus Toulouse —, da hat der Wirt aus Freude über meine Freude die CD mir zuliebe dreimal hintereinander abgespielt. Und der zweite Gast im Raum (neinnein: die anderen saßen alle draußen und warteten, bis die Mademoiselles aus dem gegenüberliegenden Lycée rauskamen) hat sie gerne immer wieder mitgehört: Femmouzes T (Rita Macedo et Françoise Chapuis) arte hatte 2005 eine kleine Reportage über die beiden gesendet. Leider hat man in Strasbourg das bemerkenswerte Video aus dem Archiv entfernt. Aus welchem Grund auch immer. Wahrscheinlich auf Druck der deutschen privaten Medienwirtschaft. Und das Video, das ich heute früh hier eingesetzt hatte, habe ich nach den Botschaften zu YouToube wieder gelöscht. Und heute, am 1. Dezember 2009, habe ich beschlossen, daß mir das alles wurscht ist.
Le Diga-Diga-Doo Ich war damals zufällig in eine Kneipe geraten, weil ich abends vom Hotel aus noch einen Spaziergang gemacht und von weitem Jan Garbarek gehört hatte und meinem Gehör gefolgt war. Jan Garbareks Saxophon ist immer herauszuhören. Bisweilen führt das zu schmerzenden Ohren und verwunderten Blicken, vor allem dann, wenn Autoren oder Redakteure ihn zur Untermalung ihrer Reportagen oder Dokumentationen einsetzen, indem sie ihn unter Weltmusik einordnen. Das paßt ja immer irgendwie und überall. Da löst Jan Garbarek dann auch schonmal seinen Landsmann Edvard Grieg als Landschaftsmaler ab, und es bläst vor Ort afrikanisch inspirierter saxophonischer Wind durch triste Über-Tage-Siedlungen des Ruhrgebiets. Aus der einen Nacht, die ich in Besançon bleiben wollte, wurden fast zwei Wochen. Aber es lag nicht alleine an Fadila, sondern auch an diesem Kreis um sie herum — Menschen aus allen möglichen Ländern —, die mich herzlich aufgenommen hatten. Das wirkt nach. Und deshalb wohl fahre ich auch immer wieder mal hin, nehme in Richtung Süden die östliche Route via Franche-Comté. Es ist wirklich eine lebenswerte, vielleicht auch liebenswerte kleine — na ja, etwa hundertzwanzigtausend Einwohner hat sie auch — alte Stadt. Manou hatte ich dort kennengelernt. Er war der Besitzer der kleinen Bar, wo ich all die pied-noirs kennengelernt hatte. Später hatte er eine sehr große Bar übernommen, direkt neben La Madeleine. Kurz, nachdem ich ihn dort gesehen und gesprochen hatte, hat er aufgegeben. Es war zu groß, vermutlich zuviel Arbeit. Da dürfte er sich überhoben haben. Er hat auch besser in seinen kleinen Laden mit dem bezeichnenden Namen Le Diga-Diga-Doo gepaßt. Le Diga-Diga-Doo. Irgendwas aus dem Jazz, ich glaube eine Sentenz — wenn man das so nennen kann, also eher ein gesprochener Rhythmus aus dem Jazz der fünfziger, sechziger Jahre, dem Be-Bop.. Das war — unter anderem, unter vielen — die Musik von Manou. Jazz überhaupt. Ihm ist ja auch damals mein Gehör nachgegangen. Und in dieser kleinen Bar am Quai Vauban stand er lieber nichtstuend rum und hat beobachtet. Zum Beispiel damals mich, der ich wie gebannt auf die Sammlung an Platten und Cassetten und, damals schon, in den Neunzigern, CDs gestarrt hatte, und hinter seinem Standorttischchen hervorkam. So kamen wir ins Gespräch. Über die Musik. Ein Band hat er mir damals geschenkt. Fürs Auto. Ich hab's mir dann später auch als CD gekauft: <i>I took up the runes von Jan Garbarek. Es war die Musik, der ich damals gefolgt war. Auch heute noch höre ich sie ungeheuer gern. Besonders, wenn ich durch französische Lande kurve. Na ja, im Döschwoh hört man das nicht so richtig. Der Mercedes früher war eben Konzertsaal, während die Ente eher originären Krach produziert. Heute höre ich Jan Garbarek eben in geschlossenen Räumen, und nicht nur I took up the runes.
Lang, lang ist's her, daß NDR-Kultur keinen Lang Lang mehr gespielt hat. Dabei ist er doch gar nicht gestorben. Nun ja. Nur wer's nicht lang hat, läßt Lang Langs Längen.
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