Grüne Irrtümer

Der Kalender schrieb das Jahr 2000. Zu Gast war ich beim Freund in Bourguignon, in dessen filmkulissenartigen Vierkanthof, als ob gleich Eric Rohmer samt seinen bürgerlich plaudernden Damen Einzug halten wollten. Auf dem Rennrasenmähertrekker durfte ich herumtoben (damals kannte ich solche Männerlust noch nicht, heutzutage bekomme ich diesen Geschwindigkeitsrausch fast täglich vorgeführt) und bei dieser Gelegenheit Töchterleins eigens gesetzte und sorgsam gehütete Lieblingseselsdisteln plattmachen (so ein nichtsnutziger Städter hält das für Unkraut). Überhaupt die Campagne genießen, als wär' ich ein rechter Pariser.

Nach einer Woche erhielt ich zum Abschied fünf zwar kümmerliche, aber auch wundervolle Winzlinge, die ich in meiner acht Meter langen Südloggia an der Münchner Wohnung großziehen wollte. Die Lage war ideal, da gab's alles mögliche, bis hin zu Tomaten und gar Kartoffeln. Die Sonne hielt sich wahrlich nicht zurück da oben. Auch im Oktober, manchmal noch im November, wenn sie aus ihrer föhnigen Schräglage direkt daraufschien, waren fünfzig, sechzig Grad keine Seltenheit. Aber zunächst durften die Hibiskus-Pflänzchen im gewächshausartigen Doppelfenster Wurzeln ziehen. Später dann, als sie genug davon hatten, kamen sie in allerbeste Erde; vorsichtshalber hatte ich welche aus ihrer Heimat mitgebracht. Und sie wuchsen, wenn auch noch hinter Glas. Dann durften sie ins Freie. Das nahm mir das offensichtlich an die gute Stube gewöhnte eigentliche Freilandgemüse übel. Es erschlaffte. Wahrscheinlich war's ihm zu nördlich. Alles Hinterglasstellen nutzte nichts. Vier der Zöglinge schieden dahin im frühen Kindstod. Nur einer hielt sich gerade so. Ich redete ihm gut zu, gab ihm nur allerbeste Nahrung samt Beratung aus dem im Haus unten befindlichen Blumenladen, nahm in mit ins Bett, umturtelte und liebkoste ihn. Er dankte, indem er wenigstens am Leben blieb und winzig weiterwuchs. Als ich ans Mediteranée zog, blieb er am gewohnten Ort, da die Kleinen das nunmal lieber mögen als ständig herumziehen und da's dort unten zwar auch viel Höhe, aber keine südliche und zudem hinterglasgeschützte Loggia gab.

Geschützten Topf in frischer Luft bot dann jedoch kurz darauf der wohnortlich noch hinzugekommene Norden, dem ohnehin die Auflösung des deutschen Südens folgen sollte. Doch was auch immer ich ihm an Pflege angedeihen ließ, er blieb mickrig und ließ sich zwischendurch auch noch von Läusen überfallen. 2003 zog's mich dann in das Büro mit ganz viel Land drumherum. Daraufhin sagte ich zu ihm: Wenn du weiter so herumzickst, kommst du dort hinein, wo ich dich herausgegraben habe: in die tiefe Erde, du bist schließlich ein Freiland-Hibiskus. Gesagt, getan. Und er fing mit einem Mal tatsächlich wie wild an zu wachsen. Als ob es seine Bestimmung wäre. Irgendwann fragte der Nachbar, ob er denn nicht irgendwann auch mal zu blühen anfangen wolle, der Hibiskus? Man müsse ihm wohl noch ein wenig Zeit geben, entgegnete ich, schließlich habe er viel durchgemacht. Und er wuchs. Nur blühen wollte er nicht. Eines Tages kam der Gutsverwalter und meinte, einen hübschen Ahorn hätte ich da eingepflanzt. Wutentbrannt brüllte ich ihm die mühevolle, fast tragische Lebensgeschichte des Hibiskusses und seiner Geschwister aus der Bourgogne entgegen. Schulterzuckend zog er ab, der Herrscher über Baum, Bäumchen und Rasenracing. Ein wenig Gegrinse meinte ich in seinem Gesicht gesehen zu haben. Zweieinhalb Meter hoch ist er mittlerweile, mein Hibiskus burgundischer Provenienz. Aber blühen mag er noch immer nicht.

Am vergangenen Dienstag half mir die urlaubende Büddenwarderin beim Gärtchenaufräumen; ja, es war mal wieder nötig, bei diesem ständigen Müßiggang macht die Natur zügellos, was sie will. Und dann sprach sie aus, was ich dem Hausherrn so übelgenommen hatte: Das sei aber kein Hibiskus, sondern ein Ahorn. — Nun ja, ein Ahorn blüht nicht so prächtig wie ein Hibiskus. Aber er ist aus der Bourgogne. Und er fühlt sich vermutlich deshalb so wohl in diesem französischen Exterritorium hoch oben im eigentlich ja etwas kühleren Norden der (deutschen) Republik.
 
Fr, 31.07.2009 |  link | (598) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Immerfort kafkaiert's ...

Immer öfter lese ich den Begriff kafkaesk. Ich will das nun nicht unbedingt mit dem ebenfalls plattgeschriebenen oder -gequasselten Faschismus vergleichen, dem so die ureigene Bedeutung und auch schonmal Tragweite abhanden kommt, aber kafkaesk wird so oft in Zusammenhängen verwendet, gerne damit auch die Werbung illustrierend, daß ich mich fragen muß, ob die Benutzer oder auch Verunstalter des Wörtchens überhaupt schonmal wenigstens ein Stück Klappentext zu Kafkas Büchern gelesen haben. «Unmöglichkeit zu schlafen, Unmöglichkeit, zu wachen, Unmöglichkeit, das Leben, genauer die Aufeinanderfolge des Lebens, zu ertragen. Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang.» Das in etwa be- oder umschreibt einen Teil des Kafkaesken von Franz Kafka. Er tat dies selbst in seinem Tagebuch. Es ließe sich auch sehen, wie Jürgen König das tat: «Man findet sich in einen Käfer verwandelt morgens.»

Wer mehr über den Schriftsteller aus dem Prag des frühen 20. Jahrhunderts erfahren möchte — es ist soviel über ihn geschrieben worden, daß bald der Meister aus California nicht mehr hinterhergescannt kommt. Die «dienstälteste Witwe Franz Kafkas»* wäre wohl an allererster Stelle zu nennen. Man könnte allerdings auch seine Bücher lesen. Vielleicht immer und immer wieder, so lange, bis man das Kafkaeske verstanden hat (bevor man es irgendwo verb[l]ockt).

Götz Kohlmann, der mir schon einmal angenehm aufgefallen ist, hat seit einiger Zeit aufs neue Kafka im Kopf, einmal mehr in SchönerDenken (dem Magazin aus Mainz, das bereits im Titel das Schöne [wieder] an die ästhetische Bedeutung heranrückt, die ihm gebührt, also nicht nur die hohle Form zeigt).

* Da sich das nicht direkt verhyperlinken läßt (was ich, liebes DeutschlandRadio, für etwas halte, dem ich ein mit Verlaub anzufügen hätte; kafkaesk ist damit nicht gemeint):
Ein genialer Schilderer der Macht
Der Verleger Klaus Wagenbach würdigt Franz Kafka anläßlich seines 125. Geburtstages

 
Fr, 17.07.2009 |  link | (2995) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Abnehmender Mond

Sätze, die mich seit gestern arg beschäftigen:

«Vor zwei Wochen wusste ich noch nicht mal, dass die Wissenschaft, die sich mit bösartigen Tumoren im weitesten Sinne befasst, Onkologie heißt. Inzwischen habe ich auch noch dazugelernt, dass man von Palliativmedizin spricht, wenn es darum geht, Schwerstkranken das Leben (und den Abschied von selbigem) etwas zu erleichtern (gestern habe ich noch gedacht, es heißt «pallitativ» ...). Worauf ich hinaus will: Auf einer Website zum Thema Speiseröhrenkrebs habe ich gelesen, Chemotherapie fällt im so weit fortgeschrittenen Stadium wie bei mir bereits unter Palliativmedizin.

So sieht's aus, und der Mond nimmt gerade ab.»

Was möchte man da noch, und sei sie noch so klein, an (Mehr-oder-minder-)Weisheit der Welt verkünden? Gedichte? Allenfalls ein Maldoror, ein direkter Zusammenhang ist nichtmal schlüssig, ich kann es nicht erklären, aber er zieht mir unablässig durch den Kopf. Einen moderaten Maldoror gibt's nicht. Auch wenn er manchmal in den Satzänfängen (hier bei der Übersetzerin Ré Soupault auf Seite 18) so klingen mag.

«Beim Schein des Mondes, nahe am Meer, sieht man, an einsamen Stellen der Landschaft, in bittere Gedanken versunken, alle Dinge gelbe, verschwommene, phantastische Gestalt annehmen. Der Schatten der Bäume gleitet, bald schnell, bald langsam, kommend und gehend in wechselnden Formen, sich flach an den Erdboden pressend. Einst, als ich auf den Flügeln der Jugend davonflog, schien mir dies seltsam und ließ mich träumen; jetzt bin ich daran gewöhnt. Der Wind seufzt durch die Blätter sein sehnendes Lied und die Erde klagt ihr tiefes Weh, so daß sie dem, der sie hört, die Haare sträuben.»

Die Gesänge des Maldoror
 
Mi, 15.07.2009 |  link | (1759) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Tit(t)elei

Mit den Titeln steht und fällt alles, das weiß die ein- oder auch mehrschlägige Branche. Das dürfte mit der Grund dafür sein, daß die Inhalte häufig nicht mit dem übereinstimmen, was drinnen zu sehen (fleischlos), zu hören (saftlos) oder zu lesen (kraftlos) ist; je nach Gusto. Besonders zeichnet sich dabei die Abteilung aus, die für Übersetzungen zuständig ist — hier wird längst nichts mehr von Fachleuten erledigt, sondern von den PR-Windmachern (wenn sie's doch mal täten im sonnenglühenden Holstein, schließlich will ja auch die Wäsche trocknen).

Dabei ist nichts anderes passiert als das bei mir ansatzweise übliche, daß (m)ein Textlein inhaltlich bestätigt worden wäre: Natur haben sie gelesen, vermutlich in der Großausschlachtungsapparatur mit dem Guglhupf im Banner, und dann auch noch irre, was ja gemeinhin als eine positive Wertung erkannt wird, worauf sie alle losgerannt sind in der Hoffnung, das letzte freie Stück, das der Herr Gott nur für sie übriggelassen haben könnte, zu ergattern. Möglicherweise auch noch als irres Schnäppchen. Man ist ja schließlich nicht blöd. Irre. Vor allem die Zahl, die meine Hochrechungsmaschine ausgespuckt hat: die für meine Kleinauflagenpublikation von geradezu unheimlich vielen Guckern. Die gestrige Zahl entspricht in etwa dem vier- bis fünffachen Wert gegenüber meinem sonstigen kleinen Alltag; manch einer würde ihn trist nennen, aber er ist lediglich ein stiller, da mir diejenigen angenehmer sind, die bei ihren Besuchen ein wenig verweilen, da sie eben nicht die Irre Natur suchen, sondern sich bei mir auch schonmal in die Hängematte legen.

Und auch stetig wiederkommen wie die- oder derjenige aus Mountain View im sonnigen California (als ob sie eine andere, vielleicht weniger grelle Beleuchtung suchten als die dortige) und von denen ich nur zu gerne wüßte, wer sie sind — vielleicht gibt man sich ja mal zu erkennen, und sei es anonym. Meine Presseabteilung will ja auch mal was anderes tun als immer nur Wäsche waschen.

Zu erkennen gegeben hat sich auf jeden Fall Radio France. Es schickt mir mittlerweile deutschsprachige Publicité auf den Schirm. Na ja, jedenfalls das, was die französische Generation Praktikum in Paris für deutschsprachig hält. Aber sonderlich von Bedeutung ist's ohnehin nicht, da sie sich zum einen geradezu vornehm zurückhaltend gibt und nur einmal kurz aufblitzt, wenn ich sie einschalte, die france musique, denn anschließend verschwindet sie sofort wieder unter meinem tittelfreien Schutzumschlag. Die Publicité, nicht der Wohlklang.

Nehmen Sie der Todestest
Preisgekrönte Wirtschaftssimulation (unter écouter le direct – neudeutsch: live hearing)

 
Fr, 03.07.2009 |  link | (2340) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Die wirklichen Könner

Kerzengerade auf dem Weg zur Vollbeschäftigung sei das Land, ließen die eigens für den Wahlkampfvorlauf eingesetzten Verlautbarungsfunktionäre vor noch gar nicht so langer Zeit verkünden. Man muß es dem Unwissenden nur oft genug sagen. Denn dem da für einen Euro Werkelnden oder für einen Lohn weit unter Tarif Schuftenden mangelt es ja an ausreichender Bildung, um die Zusammenhänge zu verstehen. Deswegen wird er ja auch in entsprechende sogenannte Maßnahmen entsandt. Nicht nur, daß man ihn damit aus den Arbeitslosenstatistiken herauseuphemisiert hat, er lernt dabei auch so etwas wie den Umgang mit Computern, mit dem er dann Programme erarbeiten kann, die ihm dabei helfen, mit einem Etat zu jonglieren, der unter dem Existenzminimum liegt. So schafft man sich Fachkräfte. Denn die seien schließlich knapp, heißt es nicht erst seit gestern.

Dabei müssen die wahren Könner auch noch ins Gefängnis. Früher war das jedenfalls so. Am 3. März 1981 erzählte uns cs in der Süddeutschen Zeitung diese Geschichte: «Zum Beispiel der hochbegabte Sonderling (so der medizinische Gutachter), der in der Nähe von Traunstein 5.000 Fünf-Mark-Stücke nachbaute und während fünf Jahren in Umlauf setzte. Sie waren so gut gemacht, daß ein Bankexperte sie von echten Münzen nicht unterscheiden konnte. Eineinhalb Jahre lang hat der Mann allein am Prägestempel gearbeitet; die Herstellung eines Fünf-Mark-Stückes dauerte eineinhalb Stunden, sein In-Verkehr-Bringen (so heißt das) mindestens noch eine weitere Stunde, denn der Falschmünzer fuhr mit dem Rad durch den ganzen Landkreis, um seine Metallblüten einzeln abzusetzen.

Das harte Wort Falschmünzer tut diesem Arbeitslosen, der von ständiger Existenzangst geplagt sein soll, eigentlich unrecht. Bei einem Stundenlohn von weit unter dem eines Hilfsarbeiters hat er sein wunderbares Talent nur in kleiner Münze spielen lassen; er hat es im Zaum gehalten, um den Unrechtsgehalt seines Tuns (auch ein Fachbegriff) so gering wie möglich zu halten. Wenn man es recht bedenkt, so hat dieser Mensch einen so bewundernswürdigen Mangel an krimineller Energie bewiesen, an Standfestigkeit gegenüber den Verführungen, die seine Kunstfertigkeit für ihn bedeutet haben muß, daß er dafür in die Schulbücher gehörte, wenigstens aber in einen Roman, keinesfalls ins vergitterte Loch.

Das Landgericht hat es nicht ganz so gesehen — und ihn zu Gefängnis verurteilt. Es hatte wohl die uns allen geläufige Strafandrohung vor Augen: ‹[...] nachmacht oder verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft oder in Verkehr [...], nicht unter zwei Jahren.› Bekommen hat er aber drei, und das ist eines zuviel. Denn was wird in der Haft geschehen, falls sie nicht zur Bewährung ausgesetzt wird? Ein wirklicher Ganove wird den Meisterfälscher, der schon früher an Rabattmarken und Briefmarken geübt hat, in Dienst nehmen und noch vom Knast aus den Vertriebsapparat für die künftigen falschen Tausender aufbauen. Die hartringende Wirtschaft und das ehrbare Handwerk warten auf diese Spitzenkraft vergebens.»

Das Handwerk schon. Denn sie hat viel gelernt während dieser Zeit, die Spitzenkraft, vor allem Sublimationstheorie und damit eben, wie man's nicht macht. Die Wirtschaft hingegen hatte ihn gerne genommen, den ehemaligen Fälscher, er wurde ein Meister des Bankwesens. Selbstredend arbeitete er im Hintergrund, ein wenig Kosmetik möchte schon sein; das Siegeszeichen ließ er andere darstellen. Lange Zeit hat er sie selber ausgebildet: die vielen falschen Fuffziger. Und so wird er, wie seine Lehrlinge auch, nie mehr hinter Gitter wandern. Da seien unsere gesetzgeberischen negativen Musen vor. Mittlerweile mit einer ordentlichen Pension versorgt, bringt er seine handwerklichen Fähigkeiten, von der Muse Justitia geküßt, längst anderswo ein.


Die Original-Photographie des Fünf-Mark-Stücks zeigt eigentlich die beiden Seiten der Medaille, angesichts deren Schönheit man zu weinen geneigt ist. Um einer verklärenden Erinnerung, heutzutage gemeinhin Nostalgie genannt, etwas entgegenzuwirken, denn Lebbe gehd weider, habe ich auf den Bundesadler verzichtet. Wer ihn dennoch bewundern möchte, muß nur draufklicken hier bei Joachim S. Müller und seinem unter CC lizensierten Bild.
 
Fr, 06.03.2009 |  link | (4860) | 21 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Kein Entenlatein

In der Entenkleintierpraxis war'n wir mal wieder. Nein, hier ist nicht die Rede von der dörflichen Unfallklinik, in der der letzte Veterinär gerade noch überlebt, weil des Bauern letzte Lisa mittlerweile in einer eigens dafür eingerichteten Landkreisinstitution vom Industrieroboter einer runtergeholt wird; wo dem Federvieh in einer stundenlangen Notoperation die Füße wieder aus der Bauchhöhle geholt wurden, nachdem die mit ihrer Familie aufs ruhige und friedliche Land gezogene mittlere Abteilungsleitersgattin vergessen hatte, das Feierabendbier zu kaufen und deshalb mit ihrem koreanischen Rennpanzer zwangsläufig etwas zu flott unterwegs war in der Dreißiger-Dörpstraat; wo Mimi ins Irdische zurückgeholt wird, nachdem sie den Mut aufgebracht hatte, einer ganzen Marderfamilie das Rattenragout streitig machen zu wollen; wo der kugelige Mops der Nachbarin seine tägliche Vitaminspritze erhält, da die Inhaltsstoffe der Döschen mit dem Petersilienbildchen und auch die Sahnestückchen nicht mehr ausreichen und er so gar nicht mehr so recht aus seinem Körbchen nahe Frauchens Bettchen herausgekrochen kommt. Nein, nebenan bei Herrn Berlenbach waren wir, in dessen elegantem, wellem Reanimationsetablissement.

Sie hatte mal wieder das Licht gelöscht. Nicht wie damals, «das eigene Kraftwerk abgeschaltet. Mit einem ziemlich lauten Kreischen. Entenkreischen. Es klingt, als ob man ihr das noch ungelegte Ei aus dem Hinterteil raubt.» Dieses Mal ohne jede Theatralik. Es war irgendwie dunkel geworden um uns im winterlich ohnehin nicht eben lichten Kurz-vor-hinter-Sibirien, auch Holstein genannt, auf der Fahrt vom Alsterdorf ins Landbüro. Der immer freundliche und hilfsbereite Herr Osterhoff in Sandesneben war ratlos. Er ist aber auch zu jung für so ein altes Entenvieh. Und wo keine Elektronik drinnen ist, kann man sie auch nicht einsetzen, die Analysetechnik. Doch immerhin sollten wir erfahren, daß die Sicherungen intakt waren. Also erstmal weiter ins Dorfbüro, soviel Sicht war noch vorhanden. Kaum losgefahren, illuminierte sie sich wieder, die Gute. Sie mag eben nur Herren, die wissen, wo sie zart berührt werden will.

Im überdachten Heimathafen eingeflogen, tat sie ihren Protest gegen die unwürdige Behandlung kund, indem sie ihr Herz einfach weiterschlagen ließ, obwohl die Blutzufuhr unterbrochen war; die Pumpe pumpte trotz ausgeschalteter Zündung einfach weiter, als ob es keine Ende geben wolle. Oder das Stroh ein letztes Mal lodern sollte? Das Licht bekam ich zwar immerhin wieder gelöscht, aber wie ich den Schlüssel auch drehte, die Reaktion war lediglich eine kreischende Anlasserklage, der Motor lief weiter. Was tun? Die Helferlein anrufen, ihnen mehrfach wiederholen, nein, man benötige keine Start-, sondern eine Ausschalthilfe. Die benötigen ja zur Anlaßhilfe schon Stunden bis zu ihrer Ankunft. Wie lange würden sie in diesem Fall brauchen? Was will der denn, der Motor läuft doch, also braucht er keine Starthilfe, fürs Abschalten, fürs Zerstören gar sind wie nicht zuständig, wir haben auch unsere Ehre. Ach.

Nun gut. Ich wackelte und zerrte wie wild an Adern und Venen der Landente herum. Als ob ich sie schlachten wollte. Tatsächlich war sie dann irgendwann so gnädig und beendete mit einem mehrmaligen blubbernden und nachrülpsenden Gluckser ihren Lauf. Anruf bei Johann Berlenbach. Ich hörte ihn grinsen am Telephon, wenn auch, wie immer, sehr höflich und zurückhaltend. Einfach herkommen, meinte er, er kriege das Tier im Zweifelsfall schon ausgeschaltet. Gesagt, getan, wenn auch unter schlimmen Vorahnungen. Wer je einen Blick auf die Verkabelungssymmetrie einer gut dreißig Jahre alten Entenelektrik getan hat, weiß, wovon hier die Rede ist. Stundenlange Suche nach einem blankgescheuerten Fädchen, nach einem leichten Knick? Die Fahrt nach Sirksfelde verlief wie beim Gang zum Zahnarzt. Mit einem Mal sind alle noch so üblen Schmerzen dahin. Fröhlich tuckerte und leuchtete sie. Gestern nun die Nachricht aus der Geriatrie: alles wieder in Ordnung. Und dann meinerseits die unheilvolle und unvermeidliche Frage nach den Kosten. Zehn Euro und achtundachtzig Centimes.

Nein. Kein Entenlatein. So etwas gibt's wirklich (noch). Das kann einem ja fast peinlich sein.
 
Fr, 16.01.2009 |  link | (3852) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Gedankenverfertigung

Ein wenig meinte ich mich verhört zu haben, als ich hörte, ich habe mich «altersweise» geäußert. Doch als ich mich dann in einer weiteren Passage nochmal gehört hatte in der Sendung über die Kunst und die Menschen, die sie zu verwalten versuchen, mußte ich dem Autor rechtgeben. Derjenige, den ich da hörte, der war durchaus ich: bedächtig und einigermaßen gelassen mit ihm unter anderem darüber sprechend, daß künstlerische Autonomie und auch Autarkie sich nunmal nicht verwalten ließen. Da war ich inhaltlich wie formal Stimme gewordenes Argument gegen diese Schnellrederei, die einem allüberall entgegenschallt, die so tut, als sei sie Dynamik. Häufig frage ich beim Zuhören: Weshalb redet der so schnell? Wovor rennt die weg? Haben die Angst, man würde am Ende gar verstehen, was sie von sich gegeben haben, und sei es auch nur die Hälfte?

In den Siebzigern, zu Beginn meiner Tätigkeit beim Rundfunk saß ich dem Irrtum auf, ich könnte durch schnelleres Reden mehr hineinpacken von dem, vom dem ich meinte, es hineinpacken zu müssen. Also schrieb ich immer ein paar Zeilen pro Manuskriptseite mehr und versuchte, durch schnelleres Reden im vorgegebenen zeitlichen Rahmen zu bleiben. Lächelnd wies mich der erfahrene Redakteur beim zweiten oder dritten Versuch, die Zeit niederzureden, darauf hin, ich solle es bleibenlassen, ich könne rattern wie ein Maschinengewehr, ich würde allenfalls die Hörer damit abschießen. Dreißig Zeilen à sechzig, also insgesamt eintausendachthundert (inclusive Leer-)Zeichen ergeben exakt zwei Minuten, plus minus fünf, allenfalls zehn Sekunden, wobei letztere verlangsamt Luft zum Atmen und Lust zum Hören bringen, in beschleunigtem Tempo bereits Unverstehen und damit Unverständnis ergeben. Jede Zeile mehr bringt somit Verwirrung, im ärgsten Fall schaltet der Adressat ab, im Kopf oder das Gerät. Also lieber streichen. Jedenfalls, wenn's über den Äther soll.

Der Vortrag als solcher, ob vorm Mikrophon oder in den Saal hinein, ist etwas künstliches, er will gebaut, rhythmisiert sein, Tempiwechsel weisen den (Zu-)Hörer auf bestimmte Aspekte hin, die zusätzliche Verlangsamung bestimmter Passagen will die Aufmerksamkeit erhöhen, die (gleichwohl erforderliche) Redundanz verträgt etwas mehr Rasanz. Aber in der Plauderei unterläßt man diese dramaturgische Selbstkontrolle, ob da nun ein Tonbandgerät (oder Sauger von Nullen plus Einsen) mitläuft oder nicht. Reden und sprechen sind ohnehin zweierlei. Die Menschen im Off des Radio- oder Fernsehstudios sind, anders als ihre Bezeichnung, keineswegs Sprecher, sondern Reder.

Zwar bin ich seit langem nicht mehr aktiv; bereits Mitte der Achtziger habe ich dem attraktiveren Druck nachgegeben, meine Eitelkeit in Holtz gespiegelt zu sehen, und habe nur noch sporadisch reingefunkt. Aber ich habe das Äther-Wissen mitgenommen in den anderen Alltag, es dann auch privat umgesetzt. Seit langem spreche ich als der, der ich bin, wie ich auch denke und schreibe: langsam. Und am liebsten sage ich auch nur dann etwas, wenn es (vermeintlich) was zu sagen gibt, ohnehin nur dann, wenn's nicht bereits gesagt ist. Auch, mit Kleist: «Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst.»

Das Gequassle um des Quasselns willen war ohnehin meine Sache gar nie nicht. Als Alleinunterhalter in der nächtlichen An- und Absage mehr oder minder melancholischer Lieder oder Wörteraustauscher in einer immerfröhlichen Magazinsendung zur Erweckung anderer wäre ich eine absolute Fehlbesetzung. Zur Talg*-Show am Abend würde man mich einmal einladen und dann nicht wieder. Sie hätten Angst, ich spräche sowohl die Gesprächsrunde als auch das zu unterhaltende Publikum drinnen und draußen in den Schlaf. Unsere Kinnings verdrehen so manches Mal die Augen, weil es ein Weilchen dauert, bis ich auf ihre Fragen antworte. Es dauert eben immer eine Zeit, da ich nunmal lieber vorher das Gehirn einschalte. Aber sicherlich kommt zu deren Leidwesen auch das vor (um nochmal Kleist zu bemühen): «Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.»**

Irgendwann muß ich wohl die kleistsche Rezeptur verinnerlicht haben: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Vielleicht sollte ich mal mit jemandem darüber sprechen, woran es liegen könnte, weshalb ich schon als Kind immer gerne lieber älter gewesen wäre. Aber ich nehme nicht an, daß ich, auch bei diesem Thema, zum Schnelldenker oder gar -sprecher würde.


* «... Talg-Shows (so spricht's der Franke aus, korrekt, wie ich meine) ...», meint Hans Pfitzinger, nicht nur in Blickrichtung auf seinen fränkischen Landsmann Jean Paul.

** Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Werke in einem Band. Kleine Schriften. Carl Hanser Verlag, München 1966, S. 810ff.

 
Mo, 24.11.2008 |  link | (1893) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Unter Schmerzen

verfasse ich dies hier, quasi als Vorletzte Worte, mit dem Zeigefinger der rechten Hand, die restlichen sowie das Innere schmerzhaft blau, die linke vernachlässigbar wegen ohnehin schwächelnder Leistung nicht nur beim Schreiben, diesmal das andere Auge nahezu funktionslos, da farblich unterschiedlich schillernd und verquollen wie bei Bolle jüngst zu Pfingsten in Richtung Pankow, so daß ich (wie immer?) einäugig (nein! nicht unter Blinden) dichte beziehungsweise berichte, die Nase von einem brettharten Haken verbogen, aufgequollen und -geplatzt, die Nackenwirbel verrenkt, nun in einer gegenüber dem Normalzustand noch gesteigerten Halsstarrigkeit — meiner einzigen Werkzeuge beraubt: ein Häufchen, Schreiberleins Elend.

Die Büddenwarderin wird bei diesem Aussehen mit mir nicht auf den Wochenendmarkt, überhaupt nicht zum Einkaufen gehen. Sie würde sich schämen. Weniger wegen meines Aussehens, sondern weil es zu offensichtlich wäre: Aha, der ist von seiner Alten verdroschen worden. So denkt man auf dem Land, wo die Welt eben noch in Ordnung ist.

Nein, ich habe nicht die Legende zu überprüfen versucht, ein Döschewoh könne auch beim Ententest nicht umkippen. Auch wollte ich mit ihm nicht wildern auf Holsteins Straßen. Und der Koppelkaten hat nur am Wochenende geöffnet, so daß eine Beteiligung an einer zünftigen Wirtshausschlägerei ebenso ausscheidet. Ich wollte einfach nur telephonieren. Nein, auch keine Prügelei mit einem unwilligen Techniker war's. Frau Magenta erledigt solche Auseinandersetzungen mit drastischeren Mitteln wie im Anschluß an eine Fehlersuchaktion versandten exorbitanten Rechnungen.

Mein Kommunikationsgerät läutete mich aus meiner Lieblingsbeschäftigung: dem Nickerchen. In rudimentärer Erinnerung an einstige Zeiten, als das Telephon nach viermaligem Klingeln die Leitung auf die vorsintflutliche Telefaxmaschine umschaltete, wollte ich dem Anrufer den sich dann einstellenden unangenehmen Pfeifton ersparen und sprang hoch vom Canapé, um im letzten Moment den Anruf entgegenzunehmen. Dabei verhedderte ich mich in der meinen Schlaf behütenden leichten Decke, stolperte, begab mich in eine raketenartige Flughorizontale und knallte schließlich zwischen zwei Macintoshs auf die Kante der eigens dafür angefertigten Schreibtischplatte, prallte zurück, ging rücklings auf den Teppich und dachte, wieder zu mir kommend, blutend und einen schmerzerfüllten Augenblick lang, das müsse es jetzt wohl gewesen sein (mein einstmaliger Sturz von der etwa drei Meter hohen Galerie meines Bürokathedrälchens nahm sich dagegen aus wie der Flug von Yves Klein) und gab mich ihm hin, meinem zwar ersehnten, allerdings unter anderen Konditionen zu vollziehenden Schicksal, eines Tages von Hypnos exekutiert zu werden.

Ein Leben lang war ich der Meinung, das Telephonieren bringe nur Unheil. Ich sollte recht behalten. Also gehe ich jetzt wieder ins Bett und kuschle mich an Hypnos' Sohn. Und nie mehr fasse ich dieses Gerät an.
 
Do, 16.10.2008 |  link | (2654) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 







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