Einer Genußeckendame sind Sie also angeleinet worden, werter Nnier. Das setzt bei mir sofort wieder die Erinnerungsmaschinerie ingang (weshalb ich's viehmäßig auch von den Kommentaren hierher auf die Titelseite verlagere). Genußecke nenne ich's, weil dieser Südwestzipfel wohl die paar Deutschen beherbergt, die wirklich genießen und es auch können. (Wie hält Ihre Frau das bloß aus in Bremen?! Nun gut, Sie kochen selbst, na, das vielleicht nicht, aber immerhin betreiben Sie die hohe Kunst des «Zuckerbäckerns». Zum essen müssen Sie [deshalb wohl so oft] in die Ortenau.) Längst fahren ja viele Franzosen zur anderen Rheinseite, weil seit den Achtzigern auf der ihren die besserverdienenden Deutschen die Futterpreise kaputtgemacht haben, und die der Kfz.-Werkstätten gleich mit: die ewigen Spätzle mit Linsen fliehen, also fein essen und gleichzeitig «sparen» bei der Wartung des Heilix Blechle, das bleibt nicht ohne Folgen für die Einheimischen, die dann eben ein paar Kilometer fahren müssen, um wieder zum Normalpreis einkaufen zu können. Nicht nur vor Supermärkten französischerseits sieht man eigentlich nur noch deutsche Kennzeichen. Aber vielleicht liegt's ja tatsächlich an gehobeneren Bedürfnissen der Anrheiner (und einiger Pfälzer)? Doch in den Adler-Horst dieses Hochkulturfreßtheaters — würde die deutsche Eßkultur endlich wirklich, also nicht nur im Fernsehen, nach oben nivelliert, wäre das guter (elsässisch-französischer) Durchschnitt, und der Rummel nähme ab — fliegen die meisten wohl, deutsch oder französisch, eher seltener, nicht nur, weil's Kapazitätsprobleme mit den ganzen Adebeis gibt. Manch einem dürfte der Inhalt des Portemonnaies nicht ganz ausreichen. Der eine oder andere Elsässer nimmt gleich die Kantine oder das Casino des Südwestfunks (ich weigere mich nach wie vor, Südwestrundfunk zu schreiben, da ich diese Fusion, die mit den Schwaben, noch immer nicht überwunden habe) in Baden-Baden und hält sich rächend gütlich an den deutschen Rundfunk- und Fernsehgebühren. Zugegebenermaßen fehlen mir Informationen darüber, ob die Pforte zur dortigen Funkspeisung nach wie vor ohne weiteres durchschritten werden darf. Nach Nineeleven war ich nicht mehr da. In die Gegend komme ich immer wieder mal, wenn ich die Überfahrt via Europabrücke auch eigentlich so gar nicht mag, da der Kulturschock, zumindest wenn man aus dem Süden kommt, jedesmal ein heftiger ist mit den vielen haushohen Schilderwäldern auf der Kehler Seite des Rheins und den dann folgenden blankgeputzten und viel zu befahrenen Straßen, die ja auch sehr gerne von linksrheinischen Formule 1-Piloten (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Hotelbilligheimer mit seinen Abortements) genutzt werden, da die Bußgelder zur Geschwindigkeitsübertretung dort wesentlich kostengünstiger sind als zuhause; auch eine Möglichkeit des Länderfinanzausgleichs. In südlicher Richtung fahre ich ohnehin lieber auf der französischen Seite, auch wenn ich das fachwerkliebliche Elsaß mit den vielen weinseligen und souvenirschleppenden Deutschen nicht eben umarmen möchte, aber es geht eben wesentlich gemütlicher zu, und unterhalb von Belfort wird's dann ja auch, trotz der nahenden Burgunder, gallischer, runter über St Louis (mein Aufenhaltsort zur Art Basel) via Schweiz hinein in deutsche Lande (wo man dann, das hatten wir ja schon ausgiebig besprochen, gar niemanden und nichts mehr versteht). Freunde gibt es einiges unterhalb von Offenburg, unten auf der Karte etwas weiter rechts, und zwei Tote aus der Verwandtschaft, die ich allerdings eher wegen derer wunderschönen Ruhestätte manchmal besuche. Und die Leine. Ja, schon wieder Genuß (den ich bereits hatte, als ich im September die Connoisseure [Connaisseure?] des Knalls las). Oberhalb Ihrer unterweltlerischen Wurzeln hatte mich auch mal eine an der Leine. Das ist zwar schon ein paar Tage her, doch die Erinnerung hellwach: Aus Hibbeligkeitsgründen ständig in den Flieger nach Langenhagen, dann in den Leih-Käfer, der damals fürs Wochenende fünfundzwanzig Mark kostete, und den Fuß in den Kofferraum, egal, der Liter der fünfzehn, die er per hundert soff, kostete fünfzig Pfennige (der Hin- und Rückflug dasselbe in Mark), um runterzubrettern ins schöne Städtchen mit den schönen Studentinnen in den schönen Kneipen. Es waren wohl zuviele der Schönheiten dieses universitären Lebens, denn diese eine verschmähte mich dann irgendwann, vermutlich, weil ich immerfort andere Blicke suchte, weshalb wohl ich seither auch seltener hingekommen bin. Einmal noch war ich dort, aber weniger sinnlich-leiblicher Genüsse, sondern der geistigen wegen (um ein Haar wäre mir was geistliches rausgerutscht). Dem persönlich und beruflich hochgeschätzten schönen Julian gehörte da Aug' und Ohr, vielleicht doch eher letzteres, als er dort noch lehrte. Dann zog's ihn nach Berlin und wieder zurück in die Heimatstadt — und mich nie wieder an den südlicheren Leine-Ort. Aber hin und wieder liefern Sie ja Nachrichten des dortigen Tageblatts. So bleibe ich in der Erinnerung immer auch noch ein bißchen angeleinet.
DDR-Aufkauf Als die DDR aufbrach, um sich im Westen güldene Bananen hinter die Scheibenwischer ihrer Trabanten klemmen zu lassen und im Anschluß daran die Zufahrten zu Neuschwanstein und anderen Sehenswürdigkeiten wie städtische Bahnhöfe oder Kaufhäuser et cetera zu blockieren, hatte man dort viel Platz für das eigene Statussymbol. Aber es fiel nicht weiter auf unter den vielen Edelkarossen vor dem Erfurter Bahnhof. Mir ist bis heute nicht klar (oder vielleicht habe ich auch nie darüber nachgedacht), weshalb dort so viele höherpreisige Autos geparkt waren. Meinte manch einer, er könnte sie dort leichter verkaufen? Was dann doch etwas verfrüht schien, war die Währungsunion doch noch nicht vollzogen. Oder waren es diejenigen, die angereist waren, um nach dem zu schauen, was man bald günstig erwerben konnte? Nun, ich für meinen Teil war ja auch zum Zweck des Einkaufs gekommen. Ein Bekannter hatte mir gesagt: Rasch hinfahren, solange es noch DDR-Bücher gibt. Und tatsächlich hatte man bereits begonnen, selbige nach hinten ins Kämmerlein zu verlagern, während vorne im Verkaufsraum und vor allem in den Schaufenstern der bahnhofsnahen Buchhandlung überwiegend buntbebilderte BRD-Verlagsproduktionen präsentiert worden waren. Und es sollte ja auch nicht allzu lange dauern, bis «der ganze Schrott» tatsächlich auf der Müllhalde landete. Ein ganz vifer, wenn ich mich recht erinnere, kirchlicher Bewahrer des Guten hatte im Anschluß an die drohende Bücherverbrennung Lagerhäuser angemietet, wo man für billiges Geld jene Klassiker kaufen konnte, für die im goldenen Westen ein vielfaches bezahlt werden mußte. Drei, vier, möglicherweise gar fünf Stunden stöberte ich in den lieblos beiseitegeschobenen Stapeln und packte ein und packte ein. (Später sollte ich dann nicht mehr wissen, wohin damit. Aber Hauptsache erstmal: haben. Kulturgut retten. Ja, beispielsweise die zweisprachige Villon-Ausgabe aus der DDR ist zwar nicht so «schön» in seiner Holzigkeit, und auch der Druck erinnert mich bisweilen an Frankreich, aber die Übersetzung samt Kommentar ist um ein vielfaches besser als das, was bis heute im Kulturstaat BRD angeboten wird.) Derweil die Freundin im Lädchen nebenan einer anderen Art von Konsumrausch verfallen war. Mit sich fast überschlagender Stimme war sie zwischendrin zu mir reingerannt gekommen, ein tiegelartiges Gebilde wie eine Siegestrophäe über dem Kopf schwenkend, irgendwas von Irrsinn krächzend, um dann wieder nach nebenan zu rasen. Einige Zeit später sollte ich dann erfahren, was sie da an Beute in dem mittelgroßen Karton herangeschleppt hatte: Für diese Abschminke made in the German Democratic Republic, produziert für das fahrende Volk europa- oder gar weltweit, müsse sie in Paris das Zehn- bis zwanzigfache hinlegen, wenn nicht mehr. Eine Bratwurst haben wir dann auch noch genommen. Jeder eine. Dabei mochte ich schon damals keine dieser Brätereien. Aber in Bahnhofsnähe hatte ein schneller Händler einen Stand aufgeschlagen, um das global begehrte Bratgut anzubieten. Wir armen Wessis sollten doch wissen, wie eine gute Thüringer schmecke. Solange es sie noch gebe, meinte der Verkäufer verschmitzt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Propheterie oder ein Witzchen war. Auf jeden Fall sollte er recht behalten. Wie auch immer, wir meinten, eine derart rasche Anpassung an das kapitalistische System sollte dann doch belohnt werden. Zwar gab es gegenüber in der HO-Gaststätte auch Broiler, mit oder ohne Sättigungsbeilage. Aber den kannte ich ja bereits von meinen vielen Transitreisen. Einmal pro Strecke Aufenthalt in einer Raststätte war sozusagen Tradition und brachte der DDR Devisen, irgendwas um eine Mark fünfundneunzig West. Außerdem wußte ich zu diesem Zeitpunkt bereits, daß es in nächster Zeit noch viele Gelegenheiten geben würde, diese schmackhaften Hähnchen oder Hühnchen zu essen. In Bergen auf Rügen zum Beispiel. Aber dazu später. Vielleicht.
West-Ost-West-Bahn «Wenn 'se nach Novosibirsk, Swerdlowsk oder nach Wladiwostok fahn wolln», sprach die leicht uniformierte Mittfünfzigerin, «dann können se hier abfahn. Hier jibt et nur Russn. Dette hier heißt nich mehr Bahnhof Zoo, det is jetzt der KdW-Bahnhof.» Ich sei zwar auch gerne ein wenig Russe, gab ich zu bedenken, und wolle durchaus in den Osten, aber in den des ehemaligen Westens, und der läge nunmal westlich ... «Wir sin hia zwa im Westen», setzte die Dame am erstaunlicherweise noch erhaltenen Dienstleistungspunkt ihre Suada ohne hörbare Interpunktion fort, «aba wenn se nach Westen wolln, da müssen se erstma nach Spandau. Det is Westen. Aber wia ham ja ohch noch'n Hauptbahnhof Richtung Osten, naja, Mitte, aba is ja ohch Osten. Den können se ohch nehm'n. Da fahn se erstma hin, mit die S-Bahn. Dann kommen se zwa wieda hia durch, durch den kleenen Zoo im Westen, aber der hält hia nich, erst wieda in Spandau, der Eurocity von Prag nach Aarhus üba Hamburg.» Irgendwie hat mich das dann doch ein wenig irritiert. Nicht nur, daß das genau der Zug war, in den ich einsteigen wollte und für den ich nun eine Rundreise antreten sollte. Mehr noch das: In München hält der Intercity Expreß sogar in Pasing, wohin doch eigentlich niemand wirklich möchte. Hamburg bietet gleich drei Fernbahnhöfe. Von Paris oder ähnlichen Städten gar nicht zu schreiben. Aber in der europäischen Metropole Berlin wird der Bahnhof, in dem jahrzehntelang die Welt ankam und von dem sie dann auch wieder abfuhr, zum S-Bahnhof degradiert. Und das, obwohl der gesamte Provinztourismus zum Ku'damm will, weil hier Kunst und Kultur der guten alten Zeit angesiedelt sind. Aber die heißt ja jetzt KadeWeh, ebent. Aber so ist es mit dem Gedächtnis: Er höhlt sich aus, der Zahn der Erinnerung.
Tückisches Dampfbad Zum Aufwärmen: ein Sommermärchen Im Viertel um den Kottbusser Damm betreibt der malende Künstler etwa seit 1990 ein Atelier, im vierten Hinterhof. Die Miete ist alles andere als preisgünstig, für ein solches Geld lassen sich im ruhigen Teil (andere würden es als verschnarcht bezeichnen) von Charlottenburg fünf Zimmer bewohnen. Mit Bad und Toilette, nicht zwischen den Treppen; die dafür in hoher und weiter Jugendstilpracht. Doch damals war ein Atelierumzug notwendig geworden, aber auch in dieser Gegend, vor allem zur Zeit des von Ost nach West gewendeten Berlin meinte offenbar jeder Hausbesitzer, auch nur jeden erdenklichen Reibach machen zu können. So war auch Kreuzberg von den (Erb-)Raubrittern genommen worden. Nun ist der Vermieter pleite, so kaputt wie das Dach. Aber die Miete ist immer noch so hoch wie das Atelier: in der obersten Etage. Kassiert wird sie, nicht wie früher mit dem Revolver, aber dafür vom Insolvenzverwalter. Es bahnt sich ein erneuter Atelierumzug an. Wir hatten vor, uns neue Bilder anzuschauen und darüber miteinander zu sprechen. Doch zuvor mußte der hungrige (nicht Hunger-)Künstler unbedingt noch eine der, wie er meinte, besten Pansensuppen in ganz Berlin essen. Und tatsächlich haben die zahlreichen Gäste des türkischen Imbiß allesamt jeweils eine Schale mit Suppe vor sich auf den Tischen stehen. Nicht, daß Stubenzweig keine Pansensuppe mag, sie roch lecker und sah auch so aus, aber das Frühstück im Hotel war, entgegen aller Gewohnheit von Café et Gitanes au petit-déjeuner, derart rühreiundschinkenhaltig, daß es vermutlich bis zum nächsttägigen reichhaltigen Frühstück im Hotel ausreichen würde. Aber so darf der Fußkranke wenigstens nochmal sitzen, bevor er sich die sechs Stockwerke zum Atelier hinaufquälen muß. Gezielt setzt er sich in die Nähe einer geöffneten Tür, um etwas Luft zu bekommen, denn die Stadt ist seit seiner Ankunft unerträglich drückend, und die Suppentöpfe heizen zusätzlich auf. Kaum sitzt er, das leichte Lüftchen genießend, raunzt die mit einem Mann gegenüber sitzende Türkin, eingehüllt in mehrere Schichten zur Abwehr von winterlichen dreißig Grad, ihren vis-à-vis sitzenden Gatten an. Daß es sich dabei um den ihr seit langem Angetrauten handeln muß, wird an der Reaktion auf den blaffenden Tonfall deutlich. Der schaut Stubenzweig — als ob der Türkisch versteht, aber das versteht in der Gegend wohl jeder — leicht verlegen an, zuckt, nicht nur mit den Schultern, steht dann dennoch auf und schließt, offenbar befehlsgewohnt, die Tür. Unsereins verkneift sich einen Kommentar. Er will sich nicht der Fremdenfeindlichkeit bezichtigen lassen, nur weil ihm heiß ist, ihm die Atemluft fehlt. Zudem hat er es immer grundsätzlich so gehalten, sich den Gepflogenheiten des Landes anzupassen, in dem er sich aufhält. Und daß der Fall eines fremden Landes vorliegt, ist hier im überwiegend anatolisch geprägten Quartier überall ersichtlich. Auch als Habitant in seinem Zuhause Marseille käme er nicht auf den Gedanken, die Büddenwarderin um das Schließen aller Türen und Fenster am Alten Hafen zu bitten, weil der Ostwind von den Inseln herüberpfeift oder der Mistral den Kellnern gar die gefüllten Wasserflaschen von den Tabletts hinunterbläst. Aber schwül wird's da auch so gut wie nie. Heiß ja, sehr heiß sogar (aber nie so muffig oder stickig wie in Berlin). Trotzdem sind immer alle Fenster geöffnet. Jedenfalls im Sommer. Nach einigen Stunden Gespräch einigt man sich, wieder zurückzufahren in den guten alten Kiez Charlottenburg. Man wolle die U- beziehungsweise S-Bahn nehmen. Einstieg Schönleinstraße, Umstieg Alexanderplatz, dann via Lehrter Bahnhof, auch Hauptbahnhof genannt, zum doch um einiges ruhigeren, Erholung verheißenden Savignyplatz. Das sind Wege zu und vor allem in den neuen Bahnhöfen! Aber die schlechte, stinkig-stickige Luft der alten haben auch die vereinzelt installierten Rolltreppen und zusätzlichen Currywurst-, Döner- und Pappbrötchenbuden nicht vertreiben können. Der mitleidende Künstler rennt sogar für den durch die Schwüle zusätzlich Gehgeschwächten los, da es schon spät ist, aber der entzugsbedrohte Stubenzweig unbedingt noch seine Nachtdroge Schokolade benötigt. Es dauert, denn, wie erwähnt, die Wege sind lang im neumodernen Berlin, und der Schokoladenbote muß um sehr viel Tinnef- und sonstige Läden herumsprinten, in denen es all das zu kaufen gibt, das man garantiert nicht benötigt. Nach einer ganzen Weile kommt er schließlich zurück zu Stubenzweigs Wartestandort, triumphierend mit der quadratierten Marzipanschokolade winkend. Endlich ist es geschafft, die S-Bahn erreicht, der Wagen nur mit ein paar wenigen Menschen belegt, man setzt sich an einen vermeintlich luftigeren Platz, da an beiden Seiten die Fenster geöffnet sind. Dennoch ist es unangenehm schwül. Kaum hat man Platz genommen, ist die Bahn losgefahren, stürzt sich eine ebenfalls zugestiegene Türkin Mitte zwanzig, eingehüllt in etwa zehn Schichten zur Abwehr von winterlichen, nordpolaren Temperaturen, in einer Geschwindigkeit, die man ihr bei ihrer Leibesfülle kaum zugetraut hätte, auf die Fenster rechts und links und schmeißt sie lautstark zu. «Also, das ist doch ...» begehrt der mitreisende Künstler auf. Es fehlen ihm die Worte angesichts dieses Anschlags. «... die Höhe», ergänzt unsereiner die Entrüstung, die ihm alles andere als schwerfällt, in Richtung der Luftabweiserin. Es ziehe, meint sie lapidar, wirft in nahezu perfektem Knappdeutsch Stubenzweig noch ein wütendes Was-Dich-angehen!? an den schwitzenden Kopf und wendet sich sofort trotzig-ostentativ wieder der Verschlossenheit ihrer Innenwelt zu. «Und weil es Ihnen zieht», entgegnet unsereins, sich wieder außerhalb Anatoliens und ein klein wenig in seinen Rechten zuhause fühlend, «dürfen die anderen hier ein türkisches Dampfbad nehmen?!» Im hinteren, leeren Teil des Wagens könnte sie alle Fenster aller Berliner S-Bahnen schließen, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Doch sie bleibt demonstrativ mit hermetisch verriegeltem und nach unten gedrücktem Gesicht auf ihren breiten Gast-Rechten sitzen. Den Gesichtern der anderen Sauna-Mitreisenden ist deutlich anzusehen, wie unangenehm sie sich in dieser Situation fühlen. Den einen wäre es vermutlich lieber gewesen, irgendein anderer Mensch als ein deutlich sichtbar türkischer hätte uns allen die Sauna beschert. Am besten einer, dem man eine andere Art von Anderssein angesehen hätte, auf jeden Fall irgendwie keine sonderlich wehrhafte Erscheinung, also eine, bei der man eben so gut nach unten austeilen kann. Dem hätten sie dann vermutlich zumindest verbal ein gewaltiges Sperrfeuer unter dem Hintern entzündet. Aber etwas, aus welchen, am Ende gar berechtigten Gründen auch immer, gegen einen türkischen Gastmitbürger äußern, sei er nun gerade eingereist oder bereits in der dritten Generation hier «beheimatet», vor Menschen, die nicht ihrem Stammtisch angehören, das ist ihnen dann doch zu gefährlich. Es könnte ja ein allzeit bereiter Pfadfinder auf dem Weg des toleranten Miteinanders darunter sein, der die Profremdenpolizei ruft, die ihnen dann eine Strafanzeige wegen Diskriminierung aufbrummt. Auch die anderen, in deren Köpfen es anzunehmenderweise weniger martialisch zugeht, schweigen lieber betreten. Nichtmal duckmäuserisch, aber es macht sich nunmal nicht gut, gegen Frechheiten aufzubegehren, die von unseren türkischen Mitbürgern kommen. Jedem anderen, ob Mitberliner oder Anderswodahergelaufenen, aus Spandau oder Saskatchuan, würden sie ihre Meinung drastisch ins Gästegesangbuch geigen. Aber die immerwährend und ausgeprägten türkischen Integrationsbemühungen, so dreht sich die Politikergebetsmühle, zu unterlaufen, das schickt sich nicht. Also sind sie lieber politisch korrekt und halten die Klappe. Lediglich ein in der Nähe sitzendes Paar hat wegen des «türkischen Dampfbades» geschmunzelt. Aber wohl eher wegen des Witzchens und weniger der Ungehaltenheitsäußerung wegen. An der nächsten Station ist's dann auch ausgestiegen. Vorm Zwiebelfisch am Savignyplatz gab's dann ein verdientes kühles Bier. Und niemand beklagte sich, als von Südosten her ein Lüftchen aufkam und es zu tröpfeln begann. Die drei jungen Polinnen nahmen einfach ihre Plünnen und gingen nach drinnen. Zum Schluß, aber nicht zuletzt: Der legendäre, dennoch uneitle Zwiebelfisch hat zum zweiten Mal Geburtstag gefeiert. Der erste, der dreißigste, fand 1997 statt. Und nun hatte Hartmut Volmerhaus die fünfundzwanzig Jahre zu bejubeln, in denen er die immerwährende Freund- und Herzlichkeit dirigiert, die hier die Atmosphäre ausmacht (sieht man von der Eitelkeit des absolut uneitlen Dauergastes ab, der schonmal ein wenig fremdelt), nicht nur Stammgästen gegenüber, die hier seit vierzig Jahren morgens um drei noch vier Bier und fünf Schnäpse ordern. Darüber freue ich mich jedesmal.
Le Parking Im schönen, geschätzten, bisweilen geradezu liebreizenden Hamburg, sei es, um mal wieder die Tuben und Döschen mit dem anthroposophischen Hautbalsam des schwäbischen Produzenten mit dem Vertriebenennamen einzukaufen oder auf dem Weg über den Jungfrauensteig in andere Konsumfallen zu stolpern und vielleicht auch noch ein bißchen Kähnchen zu fahren, steure ich in der Regel das Parkhaus am Fischmarkt an. Wenn anderswo alles dicht ist, gibt's dort meist noch ein Plätzchen für die Landeierbeförderungskiste. Zudem liegt es für uns via Großensee und Wandsbek einreisende Ossis ideal. Einmal zwischen Deichtorhallen und Kunstverein geradeaus durch, die gute alte Zeit mit ihrem hanseatisch-telegenen Dachrundgang für Alt- und Neuherausgeber links hinter mir und die Wissenschaftliches im Namen führende Sekte rechts liegen lassen und hinein. Für die Büddenwarderin ist das jedesmal so eine Art Dom-Erlebnis. Zwar würde sie nie in so ein Gerät einsteigen, das anderen Fahrvergnügen bereitet, aber hier muß sie in der Spirale mit hinauf in die fünfte Etage oder weiter. Dem sich ankündigenden Jahrmarktjuchzen anderer ähnlich gibt sie auch jedesmal bereits bei der Einfahrt diese tiefen Einatmungsgeräusche von sich, die den kommenden Streßprozeß erleichtern sollen, aber letztlich doch eher nach einem Seufzen klingen, das das bevorstehende Ende alles Irdischen ankündigt. Von der späteren Ab- beziehungsweise Höllenfahrt ganz zu schweigen. Ein wenig fehlt mir dann doch immer wieder das Verständnis, gehört diese An- und Abreisearchitektur dieses insgesamt ausgesprochen übersichtlichen Parkhauses doch zur großzügigeren ihrer Art. In deutschen Landen ward dem Automobil ohnehin immer ausreichend Raum eingeräumt. Das erklärt auch die Farbpaletten an den Wänden der Ein- und Ausfahrten französischer Parkhäuser. Hier dürften sämtliche, in den letzten Jahrzehnten für den deutschen Markt zusammengemischten Lackierungen dokumentiert sein. Nun gut, französische befinden sich schon auch darunter, aber um so einen kleinen Schrammer am nicht so heiligen Blechle wird hier eben nicht so ein Gewese gemacht. Das hat jedoch sicherlich auch damit zu tun, daß es in Frankreich immer schon andere Vorstellungen von Repräsentation bestehender oder vermeintlicher Vermögensverhältnisse gegeben hat. Wie der eine oder andere Sehrvielbesserverdienende seine Behausung hinter einer mindestens zweimannshohen Hecke versteckt, hält er sich mit dem Hinweis auf Verdienste auch im Straßenverkehr zurück. Zumindest läßt er den etwas größeren Hubraum hinter seiner dichten Flora stehen und fährt mit dem handlicheren Gefährt vom Saône-Tal nach Lyon hinein. Großstädtisch sieht man eigentlich ohnehin vor allem in Paris die ausladenderen Kutschen. Aber das ist ja auch nicht Frankreich. Hier gab's schon zu Zeiten, als landesweit ganz wenige der Sindelfinger Vertretungen ihren Service anboten — Lille, Bordeaux, Lyon, Paris, Marseille und, wie anders, Cannes beziehungsweise Nizza —, ein wesentlich größeres Angebot an Fahrzeugen, in deren Fond ein zeitungslesender Herr saß. Manchmal steuerte er auch selber, wenn auch nicht zeitungslesend. Aber in der Regel gab und gibt es für die etwas längere Voiture auch einen eigenen Parkplatz. Wenn nicht, dann klemmt eben grundsätzlich einer dieser Papillons zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe. Wer tatsächlich einen Platz ergattert hat, für den nicht der Stundenautomat zu bedienen ist, läßt seinen Wagen am besten für alle Zeiten dort stehen. Wobei er es es höflicherweise unterläßt, die Handbremse anzuziehen. Denn wie anders soll sonst der andere in den vor oder hinter dem Dauergeparkten freigewordenen Parkraum rein- oder wieder rauskommen? Wer gar mit einer Stuttgarter L-Version aus dem Rechtsrheinischen kommt, der fragt bei der Hotelbuchung am besten und vorsichtshalber zunächst mal nach der Größe der Tiefgarageneinfahrt. Sonst kann es ihm wie an der Place d'Italie passieren, daß er mit Hilfe eines PKW-Fahrstuhls ins unterweltliche Le Parking einreisen muß, bei dem rechts und links der Außenspiegel gerademal je zwei oder auch drei Zentimeter frei sind. So er heil angelangt ist im Totenreich für Automobile, läßt er die für das Land zu lang geratene Limousine am besten bis zur Abreise stehen und bewegt sich mittels Metro oder lernt, wenn er über viel Zeit verfügt, die Stadt via Autobus kennen. Einer der anregendsten Plätze auf solchen Entdeckungsreisen ist der vorn, mit Fahrerblick. Wer dort gesessen hat, der wird sich nie wieder eines dieser Computerspiele zulegen, mit dem Autorennen simuliert werden. Auch wird er zukünftig darauf verzichten, sich Formel 1-Rasereien anzuschauen. Denn die Fahrkünste der Pariser Buspiloten sind nicht zu überbieten, jedenfalls innerhalb der Metropolen Europas. Wobei nicht vergessen werden darf, daß dem Riesengefährt auch absolute Priorität eingeräumt wird (was indessen auch für andere Städte gilt). Fährt dieses Gerät los, tritt jeder andere mächtig auf die Bremse. Aber auch anderswo ist es, schon aus Entspannungsgründen, angeraten, das Auto im Parkloch verschwinden und es dort stehen zu lassen. Eine Büddenwarderin läßt man vorsichtshalber vorher aussteigen und sie im salle de réception ein Gläschen nehmen. Das hat zum einen den Vorteil, eine eventuelle Hyperventilation zu vemeiden — oder zum anderen deren Lachanfall, der die Rangierbemühungen (hier mit dem Kleinwagen) des versierten Tiefgaragenpiloten auslösen könnte, der seine eigenen Warnungen nicht ernst genug genommen hat. Sei es im Hotel direkt neben der imposanten Cathedrale von Rouen oder dem am Cours Palmarole, ein paar Schritte von Perpignans knuddeliger Altstadt entfernt. Ein Vivat! auf die deutsche Parkhausarchitektur. — Aber mit der nächsten Generation dürfte eine Anpassung an die linksrheinische wohl ihren Lauf nehmen.
Wohl gastlich Daß der Deutsche seinen Wald über alle Maßen liebt, wird vor allem dort sichtbar, wo man nichts mehr sieht (beispielsweise vom nahen Meer). Ich hatte ja bereits darauf hingewiesen: Der (unfreiwillige K.u.K.-)Deutsche Joseph Roth wollte sogar die Provence bewalden; ihm war's zu hell dort ohne die das Licht verbergenden Bäume. Und man erlebt die deutsche Sehnsucht nach dem Dunkel ja auch immer wieder in der hiesigen Gastronomie: Sobald der letzte Tageslichtrest sich aufbäumt gegen den Untergang und unsereins noch einmal beglückt von dieser Art petit mort aus dem Fenster schaut, kommt von irgendwo ein Händlein her, stellt die unvermeidliche Kerze auf den Tisch und läßt sie aufflackern, während das andere das Licht ausmacht. Deutsche Romantik, nein, das alltägliche Allerweltsverständnis davon: dein Name lautet Verdunklung. Dabei hat der luzide Geist Novalis 1798 geschrieben: «Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.»* Also Licht an! Nicht aus. Heller Schein! Nicht trübe Funzel. Das ist nichtmal Ansichtssache. Unsereins zieht den freien Blick übers freie Land aufs freie Meer vor. Das mag in der nach Süden auslaufenden Haute Provence sein, in der Vendée, der Charente Maritime, aber auch an der Nordseeküste. Auf der gewiß nicht kleinen Il de Ré meint unsereins, vom Anfang bis zum Ende, von der einen Seite bis zur anderen über die Weinstöcke blicken zu können. Ähnlich verhält es sich auf den west-, ost- und nordfriesischen Inseln inmitten von niederländischen beziehungsweise deutschen Wassern. Doch durchfährt man Usedom vom Süden in den Norden, geht's durch den (Wald-)Tunnel. Und erblickt man am Ende dieser schier endlos erscheinenden Röhre das Licht, ist das Meer, hier die Ostsee, auch schon wieder verschwunden, verdrängt vom binnenländischen Süßwasser, das unter der Wolgaster Brücke Peene heißt. Wolgast. Der wohle oder sich wohlfühlende Gast? Der im kleinen Reiseführer, der sich «wie einige der berühmten Herzöge gleichen Namens, die fast 400 Jahre von unserer Stadt aus das Pommernland regierten», Bogislaw nennt, weiß es auch nicht so genau: «Unter den Slawen soll es etwa ‹gastlicher Ort› geheißen haben.» Wie auch immer — es sitzt sich angenehm dort in dem kleinen (Musik?-)Café seitlich des Rathauses, dessen ältestes Gestein aus der Gründungszeit der Stadt stammt: dem 13. Jahrhundert. Davon sieht man nichts mehr, und auch von der folgenden Bauepoche sind nur noch ein paar Rudimente erkennbar: etwa die Fensterummauerungen der Gotik. Auf die einstigen seitlichen Laubengänge weist Bogislaw hin, doch darauf — wo die Architekten sich die Mühe gemacht haben, den richtigen Ansatz zu finden — muß der bauhistorisch Unkundige tatsächlich hingewiesen werden. Denn dort, wo einst die Laube ging, stehen sie nun, glasüberdacht, die Fahrräder, vermutlich der Rathausbediensteten. Vom Café aus hat man den Blick frei über den Platz. Ein paar Touristen nur wie wir, die vermutlich auf einen Ausflug von der Insel rübergehüpft sind. Ansonsten schaut das friedlich, ja heimelig aus. Es sprengt kaum das Vorstellungsvermögen, hier als Städtchenbewohner im wesentlichen in Ruhe seinem Tagwerk und ansonsten gelassen zu werden. Auch hat man sich mehr als bemüht, das alte Stadtbild derart wieder herzustellen, ohne daß es, wie im Westen der Republik geradezu desaströs unvermeidlich, japanische oder sonstige Reisegruppen magisch anzieht, für die Deutschland nunmal auszusehen hat wie Rothenburg ob der Tauber oder ähnlich «romantisch» fachgewerkten Puppenstuben. Kein aufgeblähtes Altes also, im großen und ganzen wohlfühliger architektonischer Burgfriede. Ein Gebäude allerdings steht da, das einen verblüfften Blick abnötigt: Entweder ein Meister der fünfziger Jahre — oder gar feinfühliges Wagnis der neuzeitlicheren Stadtoberen, denkt sich unsereins. Doch zu Zeiten der sozialistischen Banalarchitektur in der DDR dürfte das wohl kaum möglich gewesen sein. Also doch Nachwendezeit. In jedem Fall formalästhetisch gelungen, diese Verwandtschaft zum Bauhaus, denkt man so für sich hin, auch der Mut der (sachkundigen!) Verantwortlichen, dieses Nebeneinander von Alt und Neu zuzulassen, so gänzlich ohne Ängste vor der Fremdenverkehrsdirektion. Die Büddenwarderin sieht das rätseldurchfurchte Gesicht des Architekturratsuchenden. «Moment» grinst sie laut an ihn hin und entschwindet durch die Pforte des mittlerweile eher barockigen Rathauses. Kurze Zeit später schwenkt sie Papier: Das historische Wolgast. Wißbegierig wird das handliche Ringbüchlein durchforstet. Und dann — schon wieder Verdunklung. In meinen Gesicht auf jeden Fall. «Aber», heißt es bei Bogislaw alias Barbara Roggow, Leiterin des Museums von Wolgast, «ups» — das ups hätte fett und kursiv gedruckt gehört, g'nä Frau! — ups also, «was ist das — ein Gebäude scheint überhaupt nicht in dieses Ensemble zu passen. Das Bankgebäude scheint ein architektonischer Fehlgriff jüngerer Zeit ...». Fehlgriff. Vielleicht der nach dem Büchlein? Gar nicht mehr weiterlesen mag man, tut's dann aber doch — und es ist ja auch rasch vorbei, denn Bogislaw meint kurz, nach dreieinhalb engen Zeilen, «wenden wir uns wieder den noch älteren Gebäuden auf dem Marktplatz zu». Das nenne ich touristenfreundlich. Bloß keine Geschmacksver(w)irrung, um des lieben Bildungshimmels willen nichts Neues in der Guten Alten Welt! Poelzig heißt der Stadtverhunzer, das gibt Bogislaw noch preis. Hans Poelzig hat das Haus entworfen, der große Sachliche, der kurz nach der Errichtung dieses Gebäudes 1934, noch bevor er vor den Nationalsozialisten in die Türkei, wo man ihm einen Lehrstuhl angeboten hatte, entfliehen konnte, 1936 gestorben war. Wenden wir uns eben wieder den älteren Gebäuden zu, wie Bogislaw Barbara Roggow empfiehlt, ihrer Westentasche, wie's in der Hauptbildungssendung des NDR-Fernsehens heißt, der Aktuellen Schaubude. In der sieht's dann etwas unaufgeräumter aus als in der (von durch Neuheiten verschandelten) guten Stube Wolgasts. Ein paar Schritte nur runter vom kopfsteingepflasterten Touristenparadeplätzchen, und schon fordert die jüngere Geschichte ihren Tribut. Ein winziges Stückchen mangelnden Aufbaus Ost lugt noch hinein in den Platz des wohlen Gastseins. Und weiter unten? Quasi bei Wolgasts unterm, besser hinterm Sofa? Dort, wie sollte es hier anders sein als vergleichbar anderenorts, wo der Geiz so geil ist. Oder die Nachbarn der Kirche so arm sind wie deren Mäuse oder noch genügend vorhanden sind? Gefallen hat's unsereins dort, vor allem (ohne jede Ironie) hintenraus. Dort ist's weitaus erhellender als unterwegs zu diesem Licht am Ende des Tunnels, Usedom geheißen, das nichts anderes bedeutet, als daß die Schönfärberei sich fortsetzt, mit der Geschichte übertüncht werden soll. * Novalis, Schriften, hrsg. v. Richard Samuel, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 545, in: Notizen zu den Fragmentsammlungen
Alle(s) Testamente Es gibt Menschen, die halten mich für einen Glaubenden, zumindest für einen verkappten, denn primär hören sie ja eher protestierende, gleichwohl weniger protestantische Töne aus meinem (ohnehin) unberufenen Munde. Nicht nur diejenigen, die dafür den Begriff Gläubiger einsetzen (der ich auch nicht bin). Leicht sanftmütig wie ich mich (manchmal) gebe, könnte man mich für einen christlich geprägten halten, stehen sie doch bei mir vor mehreren Ausgaben der Heiligen Schrift, dem Alten sowie dem Neuen Testament, unterstrichen noch von den ausgewählten Schriften des Salomon (Softpornos würden sie ohnehin nicht vermuten in meinen Reihen). Doch dann durchzuckt sie es leicht, als hätten sie schon immer gewußt, daß mit mir was nicht stimmt, als sie hinter dem alten Apothekerschrankglas nebendran mehrbändig den Talmud aufgereiht sehen, ebenfalls flankiert von Kommentaren, als ob ich mich auf eine Missionspredigt vorbereiten wollte (denn sie wissen nicht, daß es eine solche Abseitigkeit nicht gibt in dieser Religion). Alsbald tritt ihr Blick leicht über die Ufer ihrer allgemeinen Verunsicherung, da ihr ungläubiges Auge Bücher zum Buddhismus und sonstiges Transzendentales erfaßt, gar eine Mao-Bibel. Nun gut, solches soll ja bereits andere Prominente erfaßt haben, nicht erst seit der aktuellen China-Diskussion. Vollends verwirrt scheinen sie dann, mit Blick zum Telephon mit einprogrammierter Notrufnummer, da sie gleich drei Bände des Koran erblicken. Zwar wußten sie, daß ich für mein Leben gerne ein Großteil meines Lebens verschlafe. Aber ein Schläfer in diesem unserem beschaulichen Lande ...? Geplagt sind diejenigen, die mit mir unterwegs sind, allen voran jene, die alle zwanzig Minuten was Warmes in den Bauch brauchen, und sei es eine verhärmte Bratwurst. Kaum gerät irgendein Kirchlein in irgendeinem trou perdu ins Blickfeld, wird die Voiture auch schon langsamer, um dann möglichst direkt vor dem Gebäude vollends abgebremst zu werden. Zuhause im Nordosten des Westens ist die Gefahr des ständigen Anhaltens nicht so groß, da es dort mehr Bratwurststände als Kirchen gibt (über die Ursachen muß noch geforscht werden). Aber in diesem Land, das sicherlich gelobt werden will, da es außer Frosch und Fisch noch anderes an Restauration reichlich anbietet, haben diese früheren Katholiken an wirklich jeder Ecke das Bein gehoben. Sogar einen eigenen Papst haben sie sich hinsetzen lassen, dazu ein Gebäude, gegen das die Architekturgelüste eines schweizerischen teilcalvinistischen Oberpopen im Rechtsrheinischen sich ausnähmen wie die neuzeitliche massenkonfektionelle Ortsrandbebauung einer holsteinischen Gemeinde. Hier stehen diese Glaubenssekrete herum wie die Auswirkungen pubertärer Hormonumstellung oder allzu einseitiger Hungerbeseitigung eines des elektronisch-digitalen Spielens Verfallenen durch US-amerikanische Schnellnahrung. Seltsam, klagt die Büddenwarderin, kaum ein paar Meterchen Einkaufssträßlein kriegt man ihn entlang, immer aufs fußlahme Gebein verweisend, aber kein noch so riesiger gotischer Auswurf großkirchlichen Machtgehabes, das nicht stundenlang begutachtet sein möchte. Die ganzen romanischen Gebetsstättenvorläufer nicht nur nicht berücksichtigt, sondern bei denen bekommt die Kondition gleich Höhenflüge. Angesichts derer könnte man gar glauben, er würde an irgendwas in dieser Richtung glauben. Genau. Die zur Touristenperversität verkommene Notre-Dame mit ihren nichts als die Devotionalie anbetenden Schlangenmassen lassen wir links liegen und gehen ein paar Schritte hinüber zum 5., zu Saint Séverin. Das entzückende Architekturgeschöpf mit seinem stillen Garten samt Gebeinhaus ist zwar auch gotisch, aber man spürt, daß hier zuvor in der Romanik gepriesen wurde, daß dort noch weit vor dieser Zeit Séverin le Solitaire eingesiedelt war, dessen Zeitgenossen ein Christentum nach Frankreich brachten, das mit einem Billigheimerjahrmarkt wie dem von gegenüber wahrlich nicht gerechnet haben kann. Stille inmitten des Brodems der Metropole. Still erzählende Geschichte. Anschließend gehen wir die paar Schritte durchs Juden- und Schwulenguckviertel Marais. Aber hindurch! Außenherum würden die müden Knochen dann doch nicht mehr mitmachen, und außerdem stehen da zu viele Bouquinistes herum. Am Rande der île Saint Louis gibt's dann auch was ohne Fischschenkel und Froschköpfe. Extra für Büddenwarderinnen.
Wunder runder Punkt Die Idee kam 1982 einem Straßenbauingenieur im äußersten Nordwestzipfel der Bretagne, im Département Finistère. In Quimper hatte er gleich fünfunddreißig Kreuzungen zum fließen gebracht. Daraufhin befahl Paris, ganz Frankreich rundzumachen. Aber anderswo hat man's nicht so mit dem Fließen, mit dem Runden. Dort huldigt man eher dem zackigen (Recht-)Eckigen. Noch zu den Zeiten, als der kleine François den großen Helmut am Händchen nahm, um gemeinsam mit ihm nicht nur elf blühende Landschaften zu schmieren, lachte das Gefolge des Preßsacks gerne über eine weitere dieser typischen linksrheinischen Rundmilchkäsearten. Nahezu alle Rechtsrheinischen bis hin an die Oder und die Neiße hielten die von der anderen Seite für durchgedreht mit ihrer Kreiselei, als geradezu lächerlich empfanden sie diese Rundstreckenrennen allüberall. Vielleicht auch ein wenig den Ängsten geschuldet, die über sie gekommen waren nach dem 139. Versuch, aus der Rotation um den Arc de Triomphe oder der abendlichen Place d'Italie zur heure d'affluence wieder zu entfliehen. Manch einer soll da ja heute noch darin rotieren, derjenige, der sich zu weit nach innen hatte drängen lassen. Denn niemand wollte ihm die gewohnte Vorfahrt gewähren in seiner guten deutschen Wertarbeit. Nahezu alle waren mit einer Regelung nicht klargekommen, die ihnen eigentlich sehr viel besser liegen müßte: rechts vor links. Und nun baut sich mittlerweile jeder deutsche Kleindorfbürgermeister solch ein eigenes Unikum vor die Eingangstür. Allerdings so eng, daß nicht einmal mehr der Schulbusfahrer reinfahren mag in sein stilles Örtchen. Aber sie kriegen den rond-point ohnehin nicht auf die Reihe. Deshalb stehen sie nun da und warten, bis sie reingelassen werden in den welschen Kreis. Wenigstens eine Kreiseinfahrtsampel möchte schon sein. So schimpfen sie, fluchen auf diese ordnungsunliebenden Froschfresser und wünschen sich den guten alten Kreuzungsstau zurück. Wie bei der Polizeikontrolle nach dem Prinzip der deutschen Mausefalle: alle rein, vorne dicht und dann hinten zugemacht von einem Bataillon, zumindest einer Compagnie strammstehender Uniformierter. Da weiß man, woran man ist. Nicht so halt- und haltungungslos herumstehen wie diese ein, zwei Männekes samt Dame, oftmals angelehnt an ihre kleine blauen Minna am Rand von diesem unaussprechlichen rond, diesem truc, diesem Dingsbums eben und so teilnahmslos in der Gegend herumgucken, besonders gerne am späten Sonntagvormittag. Dabei wissen die doch vermutlich ganz genau, wen die meinen, vermutlich diese ganzen Kirchgänger, die katholischen zumindest, die evangelischen nehmen ja vor dem Abend keinen heiligen Geist zu sich, und schon gar nicht so ein gelblich-grünliches Gift. Trotzalledem ist es zutiefst verunsichernd, wenn sie einen dann doch mal eben so anschauen, so beiläufig, als ob sie das alles nicht interessierte, wenn man da ankommt mit seinem Wochenendhaus auf Rädern und ohnehin nicht weiß, wie man sein mehrpferdriges und deshalb postkutschenlanges Gespann um diesen wunden runden Punkt herumkriegen soll.
Warmes Wünscherot Danke für die warmen Wünsche. Warm? Wegen des warmen Rots. Ja. Schnuckeliges warmes Rot, mit einem kleinen Schuß Blau darunter, wie sauerkirschiger Kir vielleicht. Aber doch so leuchtend, daß einen die Rennpiloten in ihrem neuen Unschuldsweiß sehen, wenn unsereiner durch die Gegend rollt. Und es rollt sich angenehm. Auch überhaupt nicht unbequemer als im alten Twungo, wie der automobilallwissende Herr von der FAZ behauptete. Eher wieder französischer, besser: altfranzösischer, wie früher bei den kleinen Franzosen, sitzend wie auf einem Stuhl, wie bei RönoltR4 und ZweiCV anno 1970, gleichwohl um einiges bequemer und bei weitaus besserer Sicht, nicht so suchschlitzartig wie bei einem Panzerfahrzeug ohne Panzer (?). Wie beim alten Twängo eben: Nieder mit den Bergen, freier Blick aufs Mittelmeer. Und die paar (zwanzig) Pferde weniger gegenüber dem Vorgänger, die Madame Raison aus dem Geschirr genommen hat, die spürt man kaum. Man rollt ja, fließt so dahin. Zumal Beschleunigung unsereinem ohnehin ein eher unappetitlicher Begriff ist. Aber andererseits hat er äußerlich dann wieder etwas von diesem Sportivfranzösischen, was gegenüber dem Deux Chevaux den Vorteil hat, ernstgenommener zu werden. Denn alle Autowelt meint, daß eine Änte ohnehin nicht schneller ist als ein elektromotorisierter Gemüsekorb, weshalb man ja eben mal schnell noch aus der Einfahrt, in die Einfahrt oder vorher über die Kreuzung, aus der Kreuzung et cetera rennen darf, denn diese olle Landkartoffel ... Nein, der Neue sieht, oups, respektheischender aus, tut so, als könne er bei Paris-Dakar aufs Treppchen steigen. Es wird kein Ende einer Dienstfahrt geben, Herr nnier. Ich bin doch kein Soldat. Es wäre auch eher unvorstellbar. Die sinnlosen Meter im Kilo müssen wir auch nicht schrubben. Das Autochen ist ohnehin, wie oben beschrieben, wieder eher fürs Fäßchen Wein und den Sack Kartoffeln gedacht. Es wird nicht von dienstfahrenden Pferden, sondern von Eseln gezogen, so alten wie wir. Mal schau'n, in welche Richtung.
|
Jean Stubenzweig motzt hier seit 6024 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
Zum Kommentieren bitte anmelden.
AnderenortsSuche: Letzte Kommentare: / Echt jetzt, geht noch? (einemaria) / Migräne (julians) / Oder etwa nicht? (jagothello) / Und last but not least ...... (einemaria) / und eigentlich, (einemaria) / Der gute Hades (einemaria) / Aus der Alten Welt (jean stubenzweig) / Bordeaux (jean stubenzweig) / Nicht mal die Hölle ist... (einemaria) / Ach, (if bergher) / Ahoi! (jean stubenzweig) / Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut. (einemaria) / Sechs mal sechs (jean stubenzweig) / Küstennebel (if bergher) / Stümperhafter Kolonialismus (if bergher) / Mir fehlen die Worte (jean stubenzweig) / Wer wird schon wissen, (jean stubenzweig) / Die Reste von Griechenland (if bergher) / Richtig, keine Vorhänge, (jean stubenzweig) / Die kleine Schwester (prieditis) / Inselsommer (jean stubenzweig) / An einem derart vom Nichts (jean stubenzweig) / Schosseh und Portmoneh (if bergher) / Mit Joseph Roth (jean stubenzweig) / Vielleicht (jagothello) «Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.» Suche: Andere Worte Anderswo Beobachtung Cinèmatographisches + und TV Fundsachen und Liebhaberstücke Kunst kommt von Kunst La Musica Regales Leben Das Ende © (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig |
|