Eingepiekste Verblendungen Gibt es eigentlich noch nicht tätowierte Zeitgenossen? Ich komme nicht nur deshalb darauf, da innerhalb der Bestenliste meiner blutigen wie geistigen Verwandschaft die Die Windrose • Rose des vents nicht nur die einsame Spitze behauptet, sondern unaufhörlich höher klettert im Geäst des allgemeinen Gefallens und Stubenzweig einige Male in die Berichterstattung über den Klickerklamauk hinaus hineingesehen hat. Kaum ein Arm zeigt sich noch undekoriert. Mir scheint, die jungen Leutchens haben allesamt Angst vor der puren Nacktheit, als ob sie sich rasch etwas überziehen möchten, wenn die überzeugende Postbotin vor der Tür steht. In den fünfziger Jahren und eine ganze Weile noch ff. der hiesigen Aufklärungsbreiten war das der Fall, wenn es zu dieser Zeit auch noch ein Bote und keine dieser heutigen gehetzten Elfen war, wie eine bei mir immer wieder mal läutet und ich mich gezwungen sehe, meine Nacktheit zu verbergen. Auch in mir als einem, der eigentlich froh darüber sein müßte, daß mit dem Heranwachsen seiner Generation die blanke Haut kein protestantisches Schreckgespenst mehr war, steckt offenbar noch immer die Sittlichkeitsmethoderie des Gestern. Aus einer anderen Perspektive betrachtet könnte ich auch zu dem Schluß kommen, die sogenannte Moderne sei wieder im Abmarsch, bevor sie überhaupt angekommen ist. Und richtig, mit der hat der Mensch an sich es nicht. Beton brut zum Beispiel ist etwas unsäglich Häßliches, das kommt seinem äthetischen Empfinden nicht gleich. Also hängt er den Zement zu. Verblendung wird das genannt. Halb Einfamlienhaus-Norddeutschland ist auf diese Art künstl(er)isch euphemismusisiert. Erträgt die Menschheit es nicht, ungeschönt durch die Welt zu gehen? Erst stopft sie sich die Behausungen voll mit allem erdenklichen Tinnef. Doch nun paßt nichts mehr hinein in die Wohnungen an diesem chinesischen Plastik-Müll oder, bei bioökogefördertem Bewußtsein, zu Tode verurteiltem Hölzernen aus dem Regenwald oder tibetanischen Gebirgsbachsbetmühlen. Also wird die eigene Haut zu Galerie erklärt. Weil die Epidermis ohne Illustration so leblos ist. Bei den vielen Fußballlartisten aus Polynesien verstünde ich das noch, schließlich gehört die ornamentierte Haut zu deren geisterreichen Kultur, es ist sozusagen ihr personaler Ausweis, zeigt ihre Herkunft, neuerdings Identität genannt. Bei Dunklerhäutigen ist's mir noch eher erklärlich, nicht nur wegen der entfernteren Verwandschaft, sondern auch, weil man's nicht ganz so arg sieht. Als ich noch jünger war, ordnete man diese gepiekste Haut der Kategorie Knast zu, allenfalls der unseres Jüngsten, der weniger zu den Piraten als vielmehr zu Störtebeker gehört, seinem (mittlerweile) einstigen Vorbild. Dessen Schwester denkt seit einiger Zeit darüber nach, sich das Arschgeweih entfernen zu lassen, das ihr als Siebzehnjähriger unbedingt unter die Haut gehen mußte (und Mutti erst bei Volljährigkeit gewährt wurde), weil es eine Mode war. Ich vermute, sie läßt niemanden an sich heran, weil sie an die Schleifmaschine denkt, die dabei an ihren Leib soll. Oder vielleicht an die Kosten, die das Laserschwert verursacht beim Weghauen der Törichtheit eines Backfischs. Ein unbedingtes Muß scheint es offensichtlich dennoch geworden. Wird demnächst öffentlich geschaßt, wer keine Freunde bei Asbook hat und ungekennzeichnet durch die Straßen geht?
Sein oder Nichtsein Wir wechseln den Aufführungsort des Geschehens. Wir gehen ans Theater, zur darstellenden Kunst Deshalb tritt die Kopfschüttlerin wiederum auf Seite 1 auf. Ich mißbrauche sie quasi als Avantgarde für mein sperrfeuriges Gemotze. Den von Lubitsch als running gag inszenierten Hamlet habe ich als Symbol herangezogen, da er das statuarische Darstellungsverhältnis der Kunst seiner Zeit abruft. Allerdings hat Lubitsch den spielerischen Bruch mit der (Un-)Vergänglichkeit allen Seins oder auch nicht gleich ein wenig mit eingebaut, indem er den polnischen Offizier immer dann aufstehen, die Reihe beunruhigen und gehen läßt, wenn dieses philosophische geflügelte Wort vom Hiersein oder lieber im Dasein der Garderobe der Dame ertönt. Überhaupt hat dieser großartige Regisseur in diesem grandiosen, von intellektuellem Witz beinahe überbordendem Film vieles abgefordert, das für die Künste schlechthin erforderlich ist: Erkennen durch genaues Hinschauen, durch Wissen. Gerade an diesem Film habe ich in besonderem Maß erfahren, wie bedeutsam Bildung, also Geschmacksbildung — Geschmackssache sagte der Affe ... — ist, will man die Seife schmecken, hinter diese vielen Anspielungen steigen, die nicht erkennbar werden, hat man seinerzeit nicht täglich Zeitung und davor alle die Bücher gelesen, die zu einem Unterscheidungsvermögen verhelfen. Sein oder Nichtsein hatte ich in den Siebzigern auf Video aufgenommen. Ein Freund selig, der ein paar Jahre später regelmäßig nach München kam, um dort vor Studenten zu reden und auch mit ihnen zu sprechen, bevorzugte meine Wohnung als Schlafstätte, und nach der einen oder anderen Flasche Wein forderte er mich ebenso regelmäßig auf, eben diese Kassette einzulegen. Alleine durch diese Tatsache ward ich so gezwungen, den Film zigmal anzuschauen. Das eher Unangenehme für mich war dabei, daß er ihn bereits hundertmal gesehen hatte und immer dann, wenn seiner Meinung nach sich besonders erwähnenswerte Passagen ankündigten, er dem Flüsterer in seinem kleinen Bühnenkuckloch von unten gleich ganze Sätze vorwegsprach. Das hatte zur Folge, daß ich Sein oder Nichtsein in Abwesenheit des Freundes noch mehrere Male sehen beziehungsweise hören mußte. Der vorteilhafte Begleiteffekt war der, aber auch die letzte Anspielung, nahezu jeden Nebenton dann wirklich verstanden zu haben, der mir ansonsten vermutlich verborgen geblieben wäre. So gesehen hat das nach heutiger Didaktik verwerfliche oder auch längst wieder aufgenommene Prinzip des einpaukerischen Drei-drei-drei, Issos Keilerei manchmal durchaus Vorteile. Ohne diesen penetranten Souffleur wäre ich möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen, mir das bis zur letzten Erinnerlichkeit immer wieder anzusehen und zu -hören und dann tatsächlich, exact im altertümlichen Sinn des Begriffes, zu hinterfragen. Es geht einher mit Cyrano de Bergerac. Als ich noch aus Berufung am und später dann über das Theater tätig war, habe ich das Stück von Rostand einige Male auf der Bühne gesehen. Nie hat es mich wirklich berauscht. Meistens empfand ich es sogar als langweilig, als eine dramatische, eine durchweg dramaturgische Banalität. Dann schleppte mich eine Dame ins Kino, in Le Schmachtfetzen. Das riß mich hin, weniger die Dame, die mehr nach Liebe strebte als der Film. Er war es, der in mir das Verlangen auslöste, mehr über den von Bergerac, über dessen Aufklärung in der Zeit des siècle de la lumiere zu erfahren, von dem ich meinte, es via Studium bereits kennengelernt zu haben. Ein anderes Tor öffnete sich. Ein neues Medium half mir beim Öffnen der Augen, die eigene Schläfrigkeit gewohnten Wissens zu vertreiben. Den oben erwähnten Hamlet wollen viele, die sich gebildet nennen, nach wie vor so sehen. Sie schauen am liebsten zurück. Das tut am wenigsten weh. Es ist so gemütlich. Bloß nicht das schöne alte Bild zerstören. In ihm muß man sich nicht bewegen. Kunst benötigt aber Bewegung, nur so können neue Sichtweisen entstehen. Hin und wieder wurde deshalb etwas zerstört, um es neu darzustellen. Dabei ist es unerheblich, ob der Inhalt bestehen bleibt und er von einer neuen Form, einem neuen Bild umgeben wird. Das Regietheater der siebziger und achtziger Jahre wird von vielen heutzutage so niedergebrüllt wie die Achtundsechziger. Viel Mist wurde gebaut. Doch es lohnt sich, in diesem pauschalisierten Scheißhaufen herumzuwühlen. Als Beispiel genannt sei der Hamlet von Peter Zadek mit dem unvergleichlichen Ulrich Wildgruber und der von mir nicht unbedingt übermäßig geschätzten, bis heute auf mich recht fade wirkenden Eva Matthes, die damals für (Jago-)Othello in Hamburg ihre Brüste über die Balustrade baumeln ließ. «Wider die Theaterverhunzer» schrien sie zu der Zeit auf, die Verhunzer der Gedanken und Ideen anderer. Als ob Herr Shakespeare oder seine von ihm geruf'nen schreibenden Geister oder auch nicht diesen Schloßspuk selber erdacht und nicht aus altnordischen Sagen abgeschrieben hätten. Der Gedanke all dieser Versteher von Alles-ist-Kunst oder Kunst-für-alle ist offenbar und bleibt unverrückbare Geschichte: Nie sollst du mich befragen,Von gestern. Aber nur ins Morgen zu blicken, ohne zu wissen, was hinter einem steht, zusammengepulkt worden ist, das ist nicht minder fahrlässig. Man wird, vor allem als Expertin mit Herz für Kunst, mit dieser Halbwertzeit des Wissens leicht zum Gespött der halben, sogenannt kultivierten Welt.
Die Kunst, deren Herz. Ich weiß nicht so recht, beste Kopfschüttlerin. Nachdem Carolyn Christov-Bakagiev, die Kuratorin der diesjährigen documenta irgendwie alles zur Kunst erklärt hat, ausgenommen das von Stephan Balkenhol und Gregor Schneider, das bezüglich des Erstgenannten nicht zu ihrer christnahen (?) Programmatik am Rand des Geschehens gehört, muß ich wohl nicht eigens nach Kassel fahren, um die Kunst der Welt zu erkunden. Das, was die Dame da zum Teil gar zensorisch verkündet, ist alles längst dagewesen auf dieser Dokumentation der Weltkunst. Angefangen sei mit der mittlerweile sogar im Flugsand des Allgemeinsprachguts, allem voran wirtschaftlicher Prosperität, fast so ein bißchen falsch verstandener Prosperos' Traum, aufgegangenen Begriffsblümchens revolutionär: die ganze Stadt zum Kunstwerk zu erklären. Ein wenig klingt das so alttönend wie das Gesamtkunstwerk wagnerscher Prägung. Auf jeden jeden Fall ist es so alt, wie Joseph Beuys tot ist. An seinen mittlerweile hochgewachsenen 7000 Eichen der bereits 1982 hunderttägigen documenta 7 reiben sich selbst ältere Kunstsäue, und auch danach waren beileibe nicht nur das Fridericianum oder die Orangerie beziehungsweise die Karlsaue Standorte der zeitgenössischen bildenden Künste. Das ist so erkenntnisreich alt wie der Ball rund ist oder der Mensch altert. Aber die Frau erklärt es zur Novität wie etwa die Dame aus Asien, die sich mit einem Hund einsperren läßt wie weiland Joseph Beuys mit seinem Coyoten. Es ist schon ein bißchen arg: eine Kuratorin, Museumsdirektorin und, allem voran, Kunsthistorikerin, die sich in selbst der jüngsten Geschichte ihres Bereichs nicht auskennt. Zwangsläufig fällt mir der duchampssche Flaschentrockner ein, der in den Achtzigern quasi als Multiple-Rad neu erfunden wurde, da die jungen Leutchen offenbar nicht nicht einmal Spuren der Historie kannten, Ein Student einer Lehranstalt darf das, wie einst zu mir, vielleicht gerade noch sagen: Ich lese nicht, ich mache Kunst. Jemand, der hauptamtlich einen Blick über das künstlerische Geschehen der Welt vermitteln soll, zu dem eigens dafür Hunderttausende anreisen, muß für solche Handlungsweisen eigentlich mit Platzverweis bestraft werden. Da wäre die Stadt als solche eher noch ein Grund, denn sie hat durchaus ihre Reize, wenn man nur genau genug auch in die Seitenwege zu schauen bereit ist und, wie das bei mir der Fall ist, obendrein noch zu Gast bei Freunden sein darf, die diese Stadt glücklicherweise leicht ver-, wenn auch nicht überfremdet haben. Der geistigen Gundhaltung dieses am Rand des ehemaligen Zonenrandgebietes erwachsenen Menschenschlags muß man ja nicht unbedingt Gehör schenken, denn dann erführe man möglicherweise zu eindrücklich Kunst von allen. Ich merkte zwar an, Kunst sei, was gefiele. Aber ich war nie und bin auch nach wie vor nicht der Meinung, jedwedes Geschehen sei darunter zu verstehen. Solches Denken macht selbst die Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Da verblassen gar Regungen wie während einer der vergangenen Documenten, zu der Kunst und deren Verbindung zum Markt, die heilige Sponsorität ausgerufen worden waren, die Künstler selbst sich dem entgegentreten gezwungen sahen. Schon wieder so ein alter Hut wie der des großen Fußballphilosophen mit dessen Weisheit vom runden Ball. Du Runder, der das Warme aus zwei HändenFußball ist keine Kunst. Jedenfalls nicht in der Form, die meistens gezeigt, dargestellt wird wie etwa durch den Sein oder Nichtsein verkündenden Hamlet an der Rampe der vierziger Jahre, nahezu ohne jede Bewegung. Kunst, wie sie seit einiger Zeit verstanden wird, aus der Tradition des den Machthabern entfernten Handwerks, setzt eine originäre Idee voraus beziehungsweise deren Umsetzung, meinethalben Kreativität. Das zu erkennen, dazu gehört Unterscheidungsvermögen. Das sei Geschmackssache, sagte der Affe und biß in die Seife. Es bedarf also eines einmal erworbenen Geschmacks, um zwischen Currywurst und Labskaus unterscheiden zu können. Im gestern eröffneten Kassel wird offensichtlich Alles-ist-Kunst, globalisiertes Allerlei gezeigt, alles in einen Topf, Kultureintopf, wie mir seit einiger Zeit sich aus dem Umlauf dieser Kunst entfernenden Privatier noch in Betrieb befindliche Sachverständige erklärt haben. Das halte ich für geschmacklos wie einen nach altbekanntem, nichts wirklich Originäres zulassenden Geschmack, etwa den eines eingedeutschen Espressos, so etwas Verlahmtes wie ein Currygericht extra scharf aus Thailand, das in der mitteleuropäischen Großtiefkühlküche des Supermarktes für den Geschmack zusammengerührt wird, der einen anderen nicht kennt. Kunst ist, was gefällt, habe ich geschrieben. Da muß ich etwas zurechtrücken: Sie ist keinesfalls etwas Beliebiges, das jedem gefallen muß und deshalb kulturpolitisch vereinheitlicht gehört. Es existieren immer noch eigenständige Gegenden mit Menschen unterschiedlicher Auffassungen von dem, was Kunst sei oder auch nicht. Ein wenig Bereitschaft zur Bewegung an andere Denk- oder Nicht-Orte möchte durchaus weiterhin sein. Doch da die mir dieses Jahr in Nordhessen nicht geboten zu sein scheinen, sich keine Erkenntnisse anbieten, die mein Denken erneuern könnten, bleibe ich an Ort und Stelle im Schaukelstuhl sitzen. Sicher, ich könnte ihn gleich vor den Ägypter stellen (lassen) wie all die Jahre, nach der Erschöpfung von den schier endlosen Rundgängen durch Kunst in Kassel, und mich vom immer herzlichen und flinken Schicklgruber quasi globalisiert bedienern lassen. Aber ich muß wirklich nicht, wie Frau Braggelmann das gerne nennt, mit der Sackkarre auf die Bühne transportiert werden. Ich bin nicht Bazon Brock. Bei dem alten Kunst-Rock'n'Roller geht's nämlich noch, da sieht sogar Mick Jagger alt aus.
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