Fluch(t) der Mathematik

Ein Teil meiner Traumwelt ist hier ja ausgebreitet, von schön bis lustig und auch schonmal lustvoll bis hin zur Alpbesteigung. Deren Gipfel allerdings war heute in den Morgenstunden erklommen. Die Sonne hatte sich, entgegen ihrer Gewohnheit, ebenfalls aufgemacht, (hier Schleswig-Holsteins) Berge zu besiegen. Ich war Teil einer Gruppe von Abiturienten. Etwas genauer vielleicht: als ziemlich ältlicher, aber durchaus akzeptierter Bestandteil dieser fröhlichen und ausgelassenen Gruppe europäischer Schüler sollte ich, wie einer, der wegen zu vieler altersbedingten Fahrfehler wie beispielsweise das Einhalten von Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Führerscheinprüfung noch einmal zu absolvieren hatte, gemeinsam mit den jungen anderen in die Europäische Schule Bruxelles einziehen, um mich den Prüfungen zu unterziehen. Einigermaßen unangestrengt und eigentlich auch sorglos ging ich die einzelnen zu prüfenden Fächer sozusagen im Schlaf durch und wollte bereits siegesgewiß inmitten der Jugend die Pforten zur Prüfung durchschreiten, als ein Stich in meinen Körper fuhr, ganz zum Schluß hin, als wollte die Qual sich mir bis zum Ende hin aufheben: Mathematik. In einer geradezu unglaubwürdigen Geschwindigkeit, als wäre mein Hirn dieser auch für Wirtschaftskrisen und andere Fehlleistungen zuständige Großrechner, errechnete er mir eine Übelkeit und den Weg aus ihr. Mit einem Mal saß ich an meinem Zufluchtsort, an dem ich auch recht gerne mal die seelische Versorgung trauriger und trauernder Bordsteinschwalben belausche und Nachrichten aus dem Mikrokosmos lese, die ein paar Schritte nur entfernt produziert werden, wo die Welt zwar ein wenig grau ist, als wäre sie morgens um sieben noch in Dortmund, aber insgesamt friedlich, da der imigrierte und assimilierte Ungar sich nicht allzu oft blicken läßt, da er weiß, daß die Kanonen da unten immer eher gegen das Festland gerichtet sind.

Da saß ich nun in meiner Pastisserie und sinnierte darüber, wie ich diese Schmach der Flucht vor der Verantwortung wieder wettmachen könnte und ob man mich noch einmal zur Prüfung zuließe und wenn ja, wie ich die immerzu Richtung Meer des Vergessens fluchtbereite Mathematik dann an die Ankerkette legen könnte, als eine an dieser für Bahnen aus südlicher Richtung vorgesehene Haltestelle und somit offensichtlich völlig fehlgeleitete Tram vorfuhr, die nämlich die aus dem hohen Norden angereiste Abiturientengruppe entließ. Ich bezog deren Frohsinn auf mein Versagen, es verstärkte meine Scham. Doch nachdem sie allesamt das französische, sich mittlerweile auf ganz Europa ausbreitende französische Nationalgetränk, im Plastikverbund sogar weltweit, vor sich stehen hatten, teilten sie mir beiläufig mit, meine per Briefwahl eingereichten und vom Europarat gesichteten beziehungsweise bewerteten Mathematikprüfungsunterlagen hätten zu einem bemerkenswerten Resultat geführt. Mir stockte der Atem vor Furcht. Meine Anspannung ignorierend fuhr die Sprecherin der Gruppe fort und teilte mir mit, ihnen selbst als allesamt mit besten Noten Ausgestatteten sei nicht unbedingt der erwünschte Erfolg beschert worden, aber meine Dreisatzrechnungen — die alleine mir immerzu einen höchsten Schwierigkeitsgrad bescheren — seien im Plenum mit stehendem Applaus begrüßt worden, mit dem Ergebnis, mich einstimmig zum Kommissar für Wirtschaft und Finanzen zu ernennen. Und schließlich, fügte sie noch an, die attraktive, sicherlich für einen ebensolchen Posten prädestinierte junge Frau, schätze man sich glücklich, zu meinem Freundeskreis zu gehören. Denn nun würde sich Arbeit sicherlich wieder lohnen.


La donna e mobile
 
Mi, 24.06.2009 |  link | (3471) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Traeumereien


hanno erdwein   (25.06.09, 09:16)   (link)  
Die Seltsamkeit
in der Schule, welche ich ab 1950 besuchte, war die, daß wer gute Noten im Rechnen hatte, vom Turnunterricht befreit war und zum Englischkurs zugelassen wurde. Leider ist mir diese Gunst nie zuteil geworden. Dennoch darf ich mich als ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft betrachten. Ich kann überschlägig meine Rente in den monatlichen Bedarf einkalkulieren und verstehe auch ein wenig, was das Internet an Anglizismen so bietet. Reicht doch, oder? Personen, die mich meiner "Volksschulbildung" minder achten, dürfen gern eine Tür weiter gehen. Dort wohnt ein Studierter ...


damenwahl   (25.06.09, 11:43)   (link)  
Prädestiniert für solche Posten scheinen mir die beiden jungen Damen beide nicht zu sein - die eine hat ja offenbar schon Probleme mit der Prozentrechnung.

Sie hingegen als Kommissar für Wirtschaft und Finanzen - das fände ich gar nicht so schlimm. Dann würden vielleicht weniger Banken gerettet und mehr von den schönen Dingen im Leben?


jean stubenzweig   (25.06.09, 14:08)   (link)  
Welche Ehre einer Damenwahl
für ein solches Amt! Gleichwohl ich einwenden muß: Was ich da retten würde an «schönen Dingen», empfände der eine oder andere Europäer aber vermutlich gar nicht so schön. Aber wir wissen ja, wie das funktioniert: Hauptsache erstmal im Amt. Alles andere ergibt sich dann schon.

Vielleicht sollte ich die Wahl tatsächlich annehmen. Ich solle endlich mal Verantwortung annehmen, dazu wurde ich ohnehin vor einiger Zeit mal aufgefordert. Die Gelegenheit wäre günstig. Zwar kann ich nicht rechnen – was bei Banken ohnehin nicht vonnöten zu sein scheint, vor allem, wenn man einige von ihnen, versehen mit sich abzeichnender europäischer Allmacht, dorthin rutschen lassen wird, wo sie hingehören –, aber das Delegieren habe ich recht gut im Griff. Demnach könnte ich gut in meiner Pastisserie sitzenbleiben und in aller Gelassenheit über die schönen Dinge des Lebens nachdenken, die erhaltenswert sind – durchaus, weil es manchmal auch Vergangenheit ist.


damenwahl   (26.06.09, 12:42)   (link)  
Delegieren können ist der Anfang jeder Führungspersönlichkeit... finde ich. Meine derzeitige Vorgesetzte, zum Beispiel, hat ihre Stärken wohl in anderen Bereichen. Also bitte: meine Stimme haben Sie! Und vielleicht werde ich sogar aus Neugier und dank Ihrer Beharrlichkeit mal einen Pastis probieren - damit ich nächstens mitreden kann. Mais Gitanes habe ich noch nicht auftreiben können...


jean stubenzweig   (26.06.09, 15:56)   (link)  
Noch nie Pastis?
Ich kann es nicht glauben. Aber Sie sind ja willig. Und papier maïs müßte es in Tunis doch geben. Da dürften doch noch einige übriggebliebene echte Franzosen oder rübergemachte pied noirs herumtaumeln. Doch ziehen Sie nicht zu heftig beim ersten Zug. Es sei denn, Sie sind starken Toback gewohnt.

Wer nicht delegieren kann, arbeitet zuviel und, vor allem, verliert deshalb den Überblick.


tropfkerze   (25.06.09, 22:02)   (link)  
e^(i * pi) = -1
Und wieder kann ich nur ein kleines Wort aufgreifen, das Zauberwort Mathematik. Auf meinem blass-türkisenen Küchenschrank der wilden 50er Jahre (von den Eltern geerbt) hatte ich als Student die Zauberformel gemalt, die Eulersche Identität, in großen Lettern, damit es niemand übersehen konnte. Eingerahmt von Bildern, die damit wenig zu tun hatten. Für mich hatte diese Identität eine mystische Bedeutung, diese Beziehung zwischen
der natürlichen,
der imaginären,
der Kreis- und
der negativen Einheit
und mir erschien es immer, als lüftete diese Gleichung einen Spalt hinter der sichtbaren Welt. Wahrscheinlich bloßer Schein, aber ich bin nun mal Romantiker^^.


jean stubenzweig   (26.06.09, 00:12)   (link)  
Zauberwort Mathematik?
Alleine beim Anschauen dieses Formelgebildes verliere ich Herrn Eulers und alle meine eigenen Identitäten. Wäre ich nicht demnächst Kommissar für und so, Sie wissen schon, ich würde meine Höllenängste eingestehen.

Bleiben Sie bitte bei Ihrem «blass-türkisenen Küchenschrank» da drüben. Da steckt eine Menge drinnen, das ich nachvollziehen und, bei aller Problematik, in ihrem kritischen Ansatz auch mit genießen kann. Denn Ihr Romantik-Verständnis ähnelt ja zumindest teilweise dem dieser Tage mit Jochen Gerz erwähnten: «Ich schätze die Hoffnungslosigkeit der Romantiker, die Politisiertheit der Romantiker. Ich halte Novalis für einen ausgesprochen scharfen Denker. [...] Das ist auch politisch. Das entspricht einem fast französischen Begriff des Politisierten [...]. Das allerwichtigste: daß sie eine relativ würdige, unexpressive Haltung eingehalten haben des totalen Fehlens von Anlaß zu Hoffnung. Die Romantiker waren total getrennt von ihrer Liebe, ihrer Sehnsucht, ihrem Verlangen nach Ursprung oder Zukunft, [...] und ohne zu klagen und zu lamentieren und ohne sich zu verbohémisieren haben sie das ausgehalten.»


tropfkerze   (26.06.09, 09:36)   (link)  
Oh. Diese Romantiker meine ich weniger. Immerhin stand am Eingang der Akademie: "Ohne Kenntnis in der Mathematik kommst du hier nicht herein." Zwar stand dort 1. Geometrie und ist 2. diese Inschrift nicht bezeugt, sondern eher Spekulation, dennoch glaube ich fest daran ;)















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