Leicht löchriger Schirm

Mit großem Dank für die von mir wegen sich einstellender Assoziationen leicht taillierte Photographie von iFancheZ. Die alte Leichtfüßigkeit geht dahn. — Merci beaucoup pour l’magnefique image !

Auf der Suche nach einem (zu verlinkenden) Artikel über Cahiers du Sud geriet ich an einen in der Seite parapluie. Grundsätzlich würde ich nichts gegen ihn einzuwenden haben, wären da nicht diese Sätze, die mir ein wenig das lokalpatriotische Blut hat hochköcheln lassen. Aber auch scheinbare Präzision ist es, die mich immer wieder mal aus dem gelassenen Tritt bringt.

«Le Panier: herumstreunende Hunde, offene Mülltonnen, es riecht durchdringend nach Meer und Urin, Schreie von Möwen und spielenden Kindern; fragt man am Alten Hafen nach dem Weg durch dieses Viertel, bekommt man den Rat, sich dort als Frau auch tagsüber nicht ohne männliche Begleitung zu bewegen.»

War die Autorin Krüger mit Joseph Roth unterwegs, dem Angsthasen? Hat sie sich bei ihm den Rat geholt, aus den genannten Gründen dort nicht hinzugehen? Oder woher hat sie das? Denn das Marseille, von dem er, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen, dem flanierenden Kurt Tucholsky, schrieb, stank tatsächlich und war gewalttätig. Wenn er die Atmosphäre in seinen Weißen Städten des Südens schilderte, das ist bis heute spürbar bei vielen Besuchern dieser nordafrikanischen Exklave, die ihr angelesenes pessimistisches (Vor-)Urteil bestätigt wissen wollen, daß einem die Stadt nicht ganz geheuer zu sein hat. Eine entsprechende Geisteshaltung bewahrt diesen tragischen Odem dauerhaft.

«[...] hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.»

Ich stelle Vermutungen an: War die Autorin Krüger ohnehin allein zur Ausstellung in der Vieille Charité, ist nicht von unten her durchs Quartier gestiegen, sondern von «oben», von der (be-)schön(t)en Seite her eingetreten ins ehemalige Armenkrankenhaus, das von den gebildeten Ständen vor einigen Jahren zur Pilger-Immobilie hochgeheiligt wurde, hat nur vorgegeben, im Panier gewesen zu sein? Aus Angst, irgendeiner könnte ihr dort an die hübsch geblümte Bluse wollen. Denn sie erwähnt außer dieser Kult(ur)stätte kein weitere Besonderheit des Viertels. Hat sie bereits während des Studiums im dreißig Kilometer entfernten Aix-en-Provence der richtigen Stadt lediglich hin und wieder mal ein zentrales Besüchlein abgestattet und ist ansonsten über die Gegend um den Alten Hafen nicht weiter hinausgekommen? Aber selbst dort scheint ihr entgangen zu sein, daß nach dem verdienstvollen Jean Ballard eine Straße benannt ist (an der ich, vom Vieux Port kommend, rechtsseitig gerne meinen Pastis nehme und von der aus es nur ein paar Schritte zu den putains sind direkt neben dem Opernhaus). Und nebenbei frage ich: Was hat Les Cahiers du Sud überhaupt mit dem Panier zu tun, wo es zwar ebenfalls Pastis, aber öffentlich weitaus weniger dieser wohl vor allem vom gebildeten Reisenden gefürchteten Schwälblein des Bordsteins gibt? Ist sie doch eher Benjamin, Roth und anderen lesend nachgeschlichen bei deren Blick in «blinde Fenster»? Stutzig macht dann allerdings der nicht als Zitat ausgewiesene «Rat, sich dort als Frau auch tagsüber nicht ohne männliche Begleitung zu bewegen». Weil mit einem Mann an der Seite der Gestank erträglicher wird?

Sicher glänzt und glittert es dort nicht derart, wie es diejenigen bevorzugen, die die Elle an die Perspektive der Burg legen. Tatsächlich gibt es nicht ganz so schmuckvolle Ecken in den hinteren Höfen, gleichwohl die sich bereits am Rand des Viertels befinden, dort, wo Monsieur Haussmann architektonisch walten durfte. Doch den Panier als Abfall-Viertel zu bezeichen, das ist dann vielleicht doch eine leicht mißratende Wortwahl, möglicherweise auch eine erhobene Nase, die den Geruch eigenen Nicht-Wissens nicht wahrnehmen mag, die lieber hineingesteckt wird in ungeprüfte Absonderungen derjenigen, die es ebenfalls anderswo abgeschrieben haben. Da wundert es mich nicht weiter, daß ich immer wieder, auch Jahrzehnte nach Ab- und Auslauf der vielen schlechten meinungsbildenden Filme, gefragt werde, ob ich keine Ängste hätte in dieser Stadt (die ohnehin wie kaum eine andere Frankreichs europäisch aufgebügelt wurde und wird). Das nährt dieses uralte, offenbar nicht auszumerzende Cliché. Autorinnen wie sie tragen dazu bei, daß nicht nur der trotz oder wegen seiner seltsam anmutenden Vorstellung von Schönheit etwas zu kurz gekommene Mensch sich dort immerzu fürchtet, ja, sich nachgerade ängstigen will. Und sie fördert mit solchen Äußerungen obendrein, daß dieser wunderbaren Metropole der Bastardisierung die alten Ecken und Kanten abgeschlagen werden, die sie so liebenswert machen, marschiert letztendlich mit dem Konsumentenheer, das von Paris aus die Stadt weltmenschlich veredelt, wie weiland die Römer alles in ihr ästhetisches Lot gebracht haben.

Ich kenne keine Einheimischen — und ich kenne einige! —, die solchen Äußerungen auch nur annähernd folgen könnten. Im Gegenteil, die meisten fühlen sich wohl im Panier. Sogar nachts. Und sie sitzen auch noch herum, mitten auf den Plätzen und Plätzchen. Und wenn's schlecht riecht, dann allenfalls wegen der fürchterlichen Global-Pizza, die sich die dort (noch!) lebenden, nicht eben zu den Wohlhabenden gehörenden im Supermarché kaufen, weil sie meinen, sich verkriechen zu müssen oder sich das — gleichwohl immer noch preisgünstige — Essen der umliegenden Restaurants nicht leisten können. Im Panier leben noch Menschen. Und nicht nur Araber, überhaupt Afrikaner (die allerdings auch solche sein sollen, wie ich's vom Hörensagen kenne)! Im sogenannten neuen Marseille wird es die allerdings bald nicht mehr geben, wenn sich das so weiterentwickelt — nur noch Marseillais, die so gerne Pariser sein möchten.

Literarische «Führungskräftekommunikation ...»?


Ürsprünglich war das mal für die vor nunmehr seit über zwei Jahren eingestellte Seite gedacht. Aber nun bin ich wieder über das Thema gestolpert. Und so habe ich es mir in aller Ungerechtigkeit des Wütenden über die Ecke Cahiers du Sud geradegebogen, da ich ständig diesen geradezu frenetischen Jubel lesen muß über die (typisch französische) Modernisierung «meiner» Stadt, vor allem immer wieder verfaßt von denen, die zum Günstigtarif für ein Wochenende dorthin fliegen und die prompt die «kulturellen» Trampelpfade entlangschleichen, ohne auch nur einmal hinter die historischen Fassaden zu schauen.


Ein kleine Auswahl zu La Marseillaise (nicht nur für Klickverweigerer): La Déesse. Cul.Unterschiedliche AnsichtenBelsunce tristesseIzzos PolarsHoch obenGefangen im Tour PomèguesBoubouHafenromantischesLiebesgeschichte(n)L'ÈstaqueAngekommenWie im KinoStrahlende SchönheitRestefisch und Rustikales

 
Mo, 05.07.2010 |  link | (1894) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


famille   (06.07.10, 15:24)   (link)  
Information
Walter Benjamin


jean stubenzweig   (06.07.10, 20:59)   (link)  
Es ist verwunderlich,
daß ich auf diese Seite nicht gestoßen bin während meiner Suche?! Passage-Gründerin Sabine Günther hat einen außerordentlichen Ruf, alleine durch ihre literarischen Rundgänge* durch Marseille. Auf sie wurde ich bereits Ende der Neunziger von einem ebenfalls dort lebenden schweizerischen Fernsehoberen aufmerksam gemacht, als ich vorhatte, einen Essayband über die Stadt herausbringen zu wollen. Das habe ich dann sein lassen, vor soviel Wissen kapitulierend, in dem das meine völlig untergeht. Aber wenigstens werde ich nord-sud-passage jetzt in meine Leseempfehlungen aufnehmen.

*Wie ich soeben entdeckt habe, befindet sich ein Hinweis auf die LiteraturTouren ebenfalls im Netz.


jean stubenzweig   (06.07.10, 22:03)   (link)  
Überhaupt bin ich
im nachhinein geradezu erschreckt – es war ja längst alles kompetent gesagt, was ich mir über die Jahre hin abgerungen habe. Die gedruckte Revue war mir ja bekannt, aber offenbar befindet sich die Seite noch nicht allzu lange im Internet. Oder ich habe nicht genau genug hingeschaut. Oder es geflissentlich übersehen, um mich nicht zu desillusionieren, alle Schreiberei zum Thema dahinfahren zu lassen? – Aber wegschmeißen tue ich es nicht.


aubertin   (06.07.10, 23:53)   (link)  
Warum questionierst
Du uns nicht? Wir sind doch aller Weisheiten mächtig!

Bises

Anne (et Yves)


jean stubenzweig   (07.07.10, 10:25)   (link)  
Ich bin eindeutig
zu unaufmerksam. Ich scheine mich allgemeinen Gewohnheiten im Internet anzupassen. So etwas darf mir nicht entgehen. Zumal ich von Passage wußte. Enttäuscht – von mir.


prieditis   (07.07.10, 10:44)   (link)  
Enttäuscht?
Ohne Ihren Hinweis wäre ich vermutlich bis ans Ende meiner Tage nicht darauf gestoßen (worden). Weil etwas "im Netz" steht, also, quasi, an einem schwarzen Brett mit vielfach überlagerten Zetteln hängt, muss man es doch erswt einmal finden (können)...
Vielen Dank dafür!

Ist es nicht befriedigend, wenn man sich selbst eine Meinung gebildet hat, zu der man durch intensive Recherche und Auseinandersetzung mit einem Thema gelangte und dann feststellt: "Schau an, der/die sieht das ähnlich, wie ich"?

Ich finde, sie müssen nicht enttäuscht sein. Und was die "allgemeinen Gewohnheiten" belangt: Da sind Sie nun gewarnt... ;o)


jean stubenzweig   (07.07.10, 12:09)   (link)  
Ein Besänftiger
sind Sie auch noch, ein mutmachender zudem!

Enttäuscht bin ich weniger von mir als jemandem, der sich eine Meinung gebildet hat, indem er selber seine Nase seit langen Jahren in die hinterste Ecke abseits der Trampelpfade steckte, sondern mehr von meiner, wie Sie's beschreiben, «intensiven Recherche» – die dann eben doch bedürftiger war. Zumal mir die Aktivitäten und Verdienste Frau Günthers um die Stadt bekannt waren, wenn auch nur in gedruckter Form bzw. in der Stadt selbst. Ich ärgere mich darüber, daß ich nicht noch genauer hingeschaut habe. Wer weiß, wie Recherche funktioniert – und auch noch ständig mahnend darauf hinweist –, sollte die Elle zunächst an sich selber legen. Oben habe ich noch andere deswegen polemisierend kritisiert (wenn es in der Sache um das Quartier Panier auch richtig ist), aber nun hat es einen faden Beigeschmack, da die eigentliche Kompetenz als Sekundärliteratur daherkommt. Ich hätte einfach öfter mal mal ins Netz schauen müssen, vor allem, da ich weiß, daß ständig neue Seiten ins Internet gestellt werden.

Aber nun habe ich mich genug gegeißelt. Jetzt freue ich mich nur noch darüber, daß sich hier tatsächlich jemand für dieses Land und gar für dessen unfranzösischste Stadt interessiert (von außerhalb sind es ja glücklicherweise ein paar mehr). Und, ja, ich habe dazugelernt. Dieses schwarze Brett birgt enorme, quasi verborgene Gefahren – die des Übersehens von Gewichtigem. Auch dreißig Seiten einer Suchmaschine reichen nicht aus.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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