«Du mußt das nicht verstehen.» «Freundlicher Jean», sprach und schrieb mich in jüngeren, noch ein wenig unbeholfenen Jahren ein mir gegenüber alterstechnisch eigentlich unbedeutend fortgeschrittener, aber geistestechnologisch um einiges vor mir das Feld vorhutender, also erkundender Herr an, ich ein immer noch von der Bettwärme des elterlichen 19. Jahrhunderts, von der Religion der reinen Aufklärung Gehüteter und damit auch einer gewissen Bildferne Geprägter, er ein gelernter Soziologe mit ausgeprägt «moderner» Neigung zum Dadaismus und auch zu dessen Verständlichmachung, der mir später im Lauf brotarbeitlichen Zusammentuns zum Freund wurde, eine eigenwillige Anrede, die ich bis heute sehr mag und schätze wie seine Weise oder Art der Kunstvermittlung. Fast blind war er, ohne Brille sah er nichts, aber auch mit ihr rumpelte er in fremder Umgebung ständig gegen Schränke oder unnütz in der Gegend herumstehende Immobilitäten, seine Wohnung bestand nahezu ausschließlich aus an Wände beseitigte Regale mit Büchern von A wie Alchimie oder Albertus Magnus bis Z wie Zarathustra oder Zinsrechnung, sah er sich etwa in einem Museum oder einer Galerie, wie diese Kunsträume früher genannt wurden, als sie noch nicht alleine dem Verkauf zugedacht waren, Gemälde an, war er gezwungen ganz nahe an sie heranzutreten, fast in sie hineinzukriechen oder hinter die Sache an sich zu kommen, um dann schier unglaubliche Erkenntnisse zum besten zu geben, die mit Ich sehe was, was du nicht siehst nur unzureichend bschrieben sind. Ich müsse das nicht verstehen, meinte er. Soweit ich mich recht erinnere, ging es damals um Schrift- beziehungsweise Sprechstücke von Schwitters, von dessen Bildern ich mich andererseits bereits verstanden zu wissen meinte. Ich solle mich einfach auf sie einlassen, dann kämen sie schon zu mir, quasi wie die Katze oder das Kind. Wenn ich bereits eine Nähe zu den Abbildungen der schwitterschen Wirklichkeitswahrnehmung festgestellt hätte, dann läge es nahe, daß auch sie bald auf mich zukämen. Das wesentliche aber sei überhaupt, solch ein Stück Kunst sei mir gewissermaßen sympathisch, dann gefiele es oder dessen Worte mir auch. Irgendwie, dieses Wissen war mir bereits vorher bekannt, gehörten immer zwei dazu, das Zusammen und der Hang. Die Liebe käme dann im Lauf der Zeit. Und wenn nicht, dann hemme es den Lauf dieses schönen Triebes auch nicht, sie hätte nicht einmal einen Interruptus, denn alles flösse, wie man es schon diesem Herrn Heraklit untergejubelt hätte, obwohl dessen Sinn dabei nach anderem stand, die Kunst als Leben lasse sich nicht verhüten, dieser Schoß sei immer fruchtbar, sie gebäre fröhlich vor sich hin, auch wenn manche der Meinung seien, er sei furchtbar und deshalb keine Kunst. Eigentlich sollte es hier ja einen nächsten Absatz geben und sogenannt f. oder gar ff. weitergehen. Anlaß war und ist mir das Schreiben einer freundlichen, also einer lieben Dame, die mir mitteilte, sie verstünde nichts von Kunst, nicht zu vergessen das eines mich mittels seines auf der Tastatur recht weit nach oben zeigenden Fingers belehrenden Herrn, dem ich folglich folgen muß in der Meinung, Kunst habe gefälligst von Können zu kommen. Aber ich wurde beziehungsweise werde kurzfristig und -zeitig am weiteren assoziativen Flanieren gehindert. Deshalb interruptiere ich erst einmal und lasse es zur vorgerückten Stunde weiter pantha-reisieren, nehme später den gedanklichen Pfad wieder auf, haue mir mit Hilfe des kleinen Machetchens logischer oder wirrer Erinnerung den Weg frei durch den Chaos-Dschungel meines nach dem scheinbar picabiaschen Prinzip mittlerweile offenbar völlig postmodernisierten, also absolut nichts mehr verstehenden Kopfes. Ich bummle, also bin ich. Also eventuell ff. Falsche Bewegung Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Das Banner der zeitgenössischen Weltkunst weht in Kürze wieder, bald sind die Automobile erneut geflaggt wie bei einem Fußballevent, welchem auch immer. Fürs erste habe ich mal eine Erinnerung ausgegraben. Die Photographie zeigt die angeregt spirituelle Erschöpfung auf dem Kasseler Tahrir-Platz im Jahr 2007, als der künstlerische Fundamentalismus noch nicht so ausgeprägt mit dem Szepter radaute. Die Säulenheiligen rechts oben stammen übrigens von Stephan Balkenhol. Burkhard Müller-Ulrich meint: Die Kunst ist nämlich unterdessen zur neuen Religion geworden. Künstler werden wie Heilige verehrt, ihr Schaffen verweist auf einen letzten Rest Mystik in unserer durchrationalisierten Welt, der Umgang damit ist von liturgischer Andacht und Ehrfurcht geprägt, wie man sie aus Klöstern und Kathedralen kennt. Ja, die heutige Kunst erhebt nicht selten den Anspruch einer gewissen Göttlichkeit — selten allerdings so explizit wie jetzt in Kassel.Beim Gespräch über die Lebenden halte ich mich am besten raus. Als nurmehr Bekucker vom Rand des Geschehens aus habe ich meine fast selige Ruhe. Diese Lebendigkeit neuerer Kunstdiskussion würde ohnehin meinen Blutdruck über die balkenholsche Höhe hinausschießen lassen, und diese Gefährdung meiner Gesundheit hat mir mein Onkel Dorfdoktor strikt untersagt. Burkhard Müller-Ulrich hat das Wesentliche angerissen. Ich kehre zu dem zurück, das da lautet: «Du mußt das nicht verstehen.» Es gab eine Zeitspanne in meinem Leben, in der ich drauf und dran war, die Züge eines Puristen anzunehmen. Das ist eine Art Religionsersatz für Atheisten. Die vor tausenden an Jahren verfaßten, auch sie in den Stein der Historie gemeißelt, zehn Gebote des Bauhauses galten mir als Katechismus, gegen die Verunreiniger nahm ich einst das Kreuz auf und folgte dem Zug. Es ist seit längerem vorbei. Völlig entfernt habe ich mich nicht von diese Bildgeboten, sie bestimmen nach wie vor meinen Blick, diesen berühmten schicksalhaften ersten, der über Begegnungen entscheidet. ich schätze sie in ihrer Klarheit der Formensprache weiterhin. Aber ich bete sie nicht mehr runter wie einen Rosenkranz. Irgendwann hatte ich nämlich tatsächlich den Eindruck, Alexander Tzonis könnte recht haben mit seiner Aussage, die Jünger, ja diese und nicht die Urheber oder auch Schöpfer des Bauhauses, machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Heute verbuche ich es unter Geschmack, der eine oder die andere wird es als einen guten bezeichnen. Doch mittlerweile ist es eine Mode geworden. Ach was, das war vor dreißig Jahren schon so. Ich war häufig zu Besuch in Häusern, in denen mich das Gefühl überkam, mich in Kathedralen zu befinden. Als Museen ließen sie sich auch bezeichnen. Was nach heutigem Wertmaßstab des modernen Konservativimus aufs gleiche hinausläuft. Siehe oben. Genaugenommen hat die in den Neunzigern endgültig eingesetzte Appleritis exakt diesen Ursprung, sowohl in der Formgebung als auch in der Anbetung dieser Reliquen. Wer der Chose auf den Grund geht, wird möglicherweise herausfinden, daß die im Prinzip nichts anderes darstellen, nicht anders zu beurteilen sind als der vielzitierte röhrende Hirsch. Lediglich die Geschmäcker haben sich ein wenig gewandelt. Die eine Masse will sich von der anderen mithilfe von Masse absetzen. An der Marke soll man ihre Glaubenszugehörigkeit erkennen. Meine Vorlieben eben auch. Sie reduzieren sich wie einer guter Fond. Essen ist der Sex des Alters. Ich habe das Glück oder, nenne ich's mal so: das Schicksal ist lieb zu mir, indem es mich nach meiner Privatisierung nicht dem «Angenagelten», wie ihn mein auch schon Federn lassender Adler Henri II kürzlich nannte, zuführt und auch keinen anderen samt Gemeinde anbeten läßt, sondern mich zusehends von dieser Last des Glaubens befreit, die mich in dem stärkt, das da lautet: Kunst ist, was gefällt. Ich mach's heute nicht so lang. Es steht noch anderes auf meiner «Agenda». Morgen mache ich weiter in meiner Meinungsmache gegen alles Religiöse. Auf Kon- sowie auf Destruktion, auf Bilden sei schwieriger als zerstören, diese kürzlich an mich gesandte, mich gemahnende Botschaft, werde ich möglicherweise eingehen. Denn meinen Kopf schüttelt es immer heftiger. Aber wer weiß, vielleicht ist es eine Art Veitstanz, dieser faux mouvement, der ja bekanntlich erst mit fortgeschrittenem Alter Bewegung in einen bringt.
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