Falsche Bewegung

Annäherung an f.



Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Das Banner der zeitgenössischen Weltkunst weht in Kürze wieder, bald sind die Automobile erneut geflaggt wie bei einem Fußballevent, welchem auch immer. Fürs erste habe ich mal eine Erinnerung ausgegraben. Die Photographie zeigt die angeregt spirituelle Erschöpfung auf dem Kasseler Tahrir-Platz im Jahr 2007, als der künstlerische Fundamentalismus noch nicht so ausgeprägt mit dem Szepter radaute. Die Säulenheiligen rechts oben stammen übrigens von Stephan Balkenhol. Burkhard Müller-Ulrich meint:
Die Kunst ist nämlich unterdessen zur neuen Religion geworden. Künstler werden wie Heilige verehrt, ihr Schaffen verweist auf einen letzten Rest Mystik in unserer durchrationalisierten Welt, der Umgang damit ist von liturgischer Andacht und Ehrfurcht geprägt, wie man sie aus Klöstern und Kathedralen kennt. Ja, die heutige Kunst erhebt nicht selten den Anspruch einer gewissen Göttlichkeit — selten allerdings so explizit wie jetzt in Kassel.
Beim Gespräch über die Lebenden halte ich mich am besten raus. Als nurmehr Bekucker vom Rand des Geschehens aus habe ich meine fast selige Ruhe. Diese Lebendigkeit neuerer Kunstdiskussion würde ohnehin meinen Blutdruck über die balkenholsche Höhe hinausschießen lassen, und diese Gefährdung meiner Gesundheit hat mir mein Onkel Dorfdoktor strikt untersagt. Burkhard Müller-Ulrich hat das Wesentliche angerissen. Ich kehre zu dem zurück, das da lautet: «Du mußt das nicht verstehen.»

Es gab eine Zeitspanne in meinem Leben, in der ich drauf und dran war, die Züge eines Puristen anzunehmen. Das ist eine Art Religionsersatz für Atheisten. Die vor tausenden an Jahren verfaßten, auch sie in den Stein der Historie gemeißelt, zehn Gebote des Bauhauses galten mir als Katechismus, gegen die Verunreiniger nahm ich einst das Kreuz auf und folgte dem Zug. Es ist seit längerem vorbei. Völlig entfernt habe ich mich nicht von diese Bildgeboten, sie bestimmen nach wie vor meinen Blick, diesen berühmten schicksalhaften ersten, der über Begegnungen entscheidet. ich schätze sie in ihrer Klarheit der Formensprache weiterhin. Aber ich bete sie nicht mehr runter wie einen Rosenkranz. Irgendwann hatte ich nämlich tatsächlich den Eindruck, Alexander Tzonis könnte recht haben mit seiner Aussage, die Jünger, ja diese und nicht die Urheber oder auch Schöpfer des Bauhauses, machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Heute verbuche ich es unter Geschmack, der eine oder die andere wird es als einen guten bezeichnen. Doch mittlerweile ist es eine Mode geworden. Ach was, das war vor dreißig Jahren schon so. Ich war häufig zu Besuch in Häusern, in denen mich das Gefühl überkam, mich in Kathedralen zu befinden. Als Museen ließen sie sich auch bezeichnen. Was nach heutigem Wertmaßstab des modernen Konservativimus aufs gleiche hinausläuft. Siehe oben. Genaugenommen hat die in den Neunzigern endgültig eingesetzte Appleritis exakt diesen Ursprung, sowohl in der Formgebung als auch in der Anbetung dieser Reliquen. Wer der Chose auf den Grund geht, wird möglicherweise herausfinden, daß die im Prinzip nichts anderes darstellen, nicht anders zu beurteilen sind als der vielzitierte röhrende Hirsch. Lediglich die Geschmäcker haben sich ein wenig gewandelt. Die eine Masse will sich von der anderen mithilfe von Masse absetzen. An der Marke dieser neuen Masse soll man ihre Glaubenszugehörigkeit erkennen. Meine Vorlieben eben auch. Sie reduzieren sich wie einer guter Fond. Essen ist der Sex des Alters. Ich habe das Glück oder, nenne ich's mal so: das Schicksal ist lieb zu mir, indem es mich nach meiner Privatisierung nicht dem «Angenagelten», wie ihn mein auch schon Federn lassender Adler Henri II kürzlich nannte, zuführt und auch keinen anderen samt Gemeinde anbeten läßt, sondern mich zusehends von dieser Last des Glaubens befreit, die mich in dem stärkt, das da lautet: Kunst ist, was gefällt.

Ich mach's heute nicht so lang. Es steht noch anderes auf meiner «Agenda». Morgen mache ich weiter in meiner Meinungsmache gegen alles Religiöse. Auf Kon- sowie auf Destruktion, auf Bilden sei schwieriger als zerstören, diese kürzlich an mich gesandte, mich gemahnende Botschaft, werde ich möglicherweise eingehen. Denn meinen Kopf schüttelt es immer heftiger. Aber wer weiß, vielleicht ist es eine Art Veitstanz, dieser faux mouvement, der ja bekanntlich erst mit fortgeschrittenem Alter Bewegung in einen bringt.
 
Mi, 06.06.2012 |  link | (2573) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn















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