Nicht nur die Kreide!

Hiermit die erweiternde Entgegnung auf Kommentar zwei als kalter Spaltenfüller auf Seite eins.

Der ausgeprägte französische Hang zur gleichmacherischen Klassenlosigkeit, der ja letztlich mittels europäischer, gesetzesähnlicher Vorgaben diese übriggebliebene radikale Äußerungssmöglichkeit von Antiordnung eliminiert hat (ist jetzt endlich klar, weshalb eine europäische Verfassung französischerseits abgelehnt wurde?!), zeigte sich ja auch in den vielen Beulen und Dellen und Kratzern an und in den Beförderungsmitteln; jedenfalls im Gegensatz zu den rechtsrheinischen Heilix Blechles. Doch auch hierbei scheint sich Herr Gott mit Grausen abzuwenden, ist doch seit der Jahrtausendwende mit der großen Entrostlaubung durch staatlich geförderte und damit extrem günstige Kredite die Hinwendung zu glänzendem Lack unübersehbar (Madame Kanzler: übernehmen Sie!). Auch hier sind allerdings die Unterschiede zwischen Stadt und Land enorm. Während der ausgetragene Bauer seinen vierzig Jahre alten R 4 oder noch älteren 2 CV einfach gegen ein neues Fahrzeug ausgetauscht hat, weil er es beinahe kostenlos gekriegt hat und er schließlich auch mal zum Eierkauf auf die grüne Wiese fahren muß, gewinnt der automobile Status im (größer)städtischen Bereich zunehmend an Bedeutung.

Andererseits hat es bei aller Égalité immer auch Bestrebungen zu Höherem, zur höfischen Nähe gegeben im Land. Napoleon hatte schließlich aufgezeigt, daß es nicht ewig bei dieser Revolutioniererei bleiben kann und die Grande Nation über eine glanzvolle Geschichte verfügt. Zum einen wird das sichtbar am unverkennbaren Hang der Franzosen zu dem, wie es sogar in der französischen Sprache zutreffend benannt wird und von Kundera so eindrücklich ausformuliert wurde: Kitsch, die Verneinung von Scheiße. (Gleichwohl scheinen hierbei die rechts- und linksrheinischen Völker nachgerade verwandt.) Aber: Wo die Deutschen ihren zweihundert Quadratmeter großen Vorgarten betonieren und grün anstreichen und lediglich ein paar Plastikbömmelchen draufmontieren, neigen die Franzosen dazu, diesen mit bux- oder anderen bäumchenbegrenzten blühenden Rabatten nach dem Vorbild von Versailles zu verzieren. In diese Kategorie gehört auch das besondere Kfz.-Kennzeichen, das sich aus dem Durcheinander der Plaques d'immatriculation hervorhob: bizarre, edlen Handschriften nachempfundene Schilder, bevorzugt von den nordafrikanischstämmigen, gerne rasant pilotierenden Landsleuten, was sicherlich mit deren arabesken und orientornamentalen Wurzeln zusammenhängt. (Was sind das bloß für lexikalische Hilfen mit ihrer zehnjährigen Halbwertzeit im Internet?! Nirgendwo ein Bildbeispiel zu finden.)

Doch auch die Reste — die, «wenn vorhandenen», warm-«sentimentalen» gelben Lichter sind ja schon lange ausgeknipst — der Identifikationsmöglichkeiten werden mit Brüsseler Ordnungshilfe (um nicht Strasbourg zu schreiben) eingegebnet. Ist bislang anhand der Nummern noch ersichtlich, aus welchem Département das Fahrzeug kommt (etwa 13 für Bouches-du-Rhône mit Marseille als «Hauptstadt», alleine Paris hat als Stadt mit der 75 eine eigene Nummer), ändert sich auch das: Ab 1. Januar 2009 kriegt ein Auto einen Stempel aufgedrückt, den es sein Leben lang behalten wird, er bleibt ihm bis zur Verschrottung haften, wohin auch immer es umzieht. Aber (nein, das ist mir jetzt kein bißchen peinlich) und immer wieder gerne:

«Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.»

(Heimoto von Doderer: Tangenten, 1940 – 1950)
 
So, 23.11.2008 |  link | (2843) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Herr Gott (flieht) Frankreich

In Frankreich mit dem PKW unterwegs sein und Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Überholverbote einhalten, sei es inner- oder außerorts, das heißt: den Verkehr behindern. Wer beispielsweise in Lyon an der Rhône entlangfährt und dabei die vorgeschriebenen achtzig Stundenkilometer einhält, kann sich böse Blicke nicht nur der anderen Autofahrer, sondern durchaus auch den der Polizisten einhandeln. Alles hat zu fließen. Die Blitze donnern auf einen ein, wo's eng ist (und wo man zugleich einfacher sofort zur Ader gelassen werden kann). Das war und ist so im Land der Automobile mit Kennzeichen, die bis vor gar nicht so langer Zeit noch mit Kreide beschriftet werden durften — auch nach verstärkten Kontrollen und seit Beginn des Jahrtausends der schrittweisen Einführung von TÜV (durch DEKRA) oder des Strafpunktesystems nach gut deutschem Flensburger Beispiel.

Eines der kuriosesten Beispiele aus den Vorzeiten französischer exekutiver Disziplinierungsversuche gab im Sommer 2002 die Landpolizei zum besten: den nationweiten Versuch der Gendarmerie, rücksichtsvolle Autofahrer mit Benzingutscheinen zu belohnen. Da es den Uniformierten trotz tagelanger, landesweiter Beobachtung des Individualverkehrs nicht gelingen wollte, einen höflichen Autofahrer oder eine mitdenkende -fahrerin zu ermitteln, reduzierten die Behörden die Versuchsanordnung erheblich: Mit teurem Essence beschenkt werden sollten dann nur noch diejenigen, die sich im wesentlichen an die Straßenverkehrsordnung hielten.

In der Folge war unter den pilotierenden Galliern dann das Chaos endgültig ausgebrochen. Denn als die einigermaßen Gesetzes-Treuen zur Belobigung beziehungsweise Prämierung an den Straßenrand gewunken werden sollten, waren die sich sicher, zumindest einen Regelverstoß begangen zu haben — und gaben Gas.

So erfolgte eine abermalige Reduktion der verkehrserzieherischen Maßnahmen. Bei den mittlerweile normalen Verkehrskontrollen verteilten die gewohnt bestimmten, wenn auch immer freundlichen Gendarmen, Benzingutscheine an diejenigen, die einen gültigen Führerschein besaßen und weniger als 1,2 Promille intus hatten.

Seither sind die Alkoholkontrollen durch die Polizei beziehungsweise die verhängten Strafen in Frankreich allerdings in dem Maß exorbitant gestiegen wie die Preise für Tabakwaren, um ein Sehrvielfaches. So hat die Anpassung an Europa und damit der Welt den Franzosen zwar den Rohmilchkäse gelassen, ihnen dafür jedoch die (all-)tägliche Dröhnung ebenso genommen wie, zumindest in den größeren Städten, die zweistündige Mittagspause. Das hatte zehntausende Schließungen von Bistrots zur Folge.

Gott scheint seinem eigenen Land mit Grausen den Rücken zuzudrehen.
 
Sa, 22.11.2008 |  link | (3971) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Älterwerden

Daß er sich «manchmal gar nicht so drauf» freue, las ich dieser Tage beim Herrn über Mumien, Analphabeten und Diebe, «alt zu werden». Froh sei ich, sagte ich gestern zu der schönen jungen Frau, die mir von ihren etwas über vierzig Jahren viele wunderschöne geschenkt hatte, ähnliches nun seit längerem einem anderen sympathischen Herrn gegenüber tut, was sich in einem schon sehr, sehr dicken Bauch quasi ausdrückt, der demnächst sozusagen plumpsartig wieder verschwinden wird, alt, na ja, älter zu sein.* Das habe ich nicht zum erstenmal, sondern des öfteren und auch schon vor vielen Jahren geäußert. Nicht so sehr, weil ich es nicht erwarten konnte, endlich von der Jugend unbeäugt der Alterslust («essen ist der sex des alters.») frönen zu können. Aus dieser Brille betrachtet wäre ich schon sehr lange und obendrein steinalt. Die erwähnte schöne junge Frau und der werdende Papa an ihrer Seite im übrigen ebenso, übersetzen doch auch sie (und glücklicherweise noch ein paar andere) das französische Wort Restauration ins Deutsche nicht unbedingt mit Hauptsache sattwerden oder (wenngleich im beschriebenen Fall allerdings berechtigt) mit «nicht schön, aber sättigend». Sicher doch, wie anders, der Auslöser meines relativen Frohseins über meinen Status war, mal wieder, das Essen.

Wir hatten über unseren gemeinsamen mittäglichen Restaurantbesuch in Uhlenhorst gesprochen, und ich hatte rekapituliert: Drei Gänge inclusive Apfel- oder Rebensaft, ein feines Süßkartoffelsüppchen, der Fisch war aus der Nordsee in die Pfanne geschwommen und wurde in Butter gebraten, das Parfait an sich und auch die Spritzer des leicht süßenden Sößchens darüber perfekt, alles zusammen zu einem Preis, der mit seinen siebzehn Euro beinahe an das kleine Mittagsmenu in Frankreich heranreicht, nicht ganz an den der Ärmerenspeisung, aber die Revolution ist in Deutschland ja ohnehin nie angekommen, jedenfalls nicht in der Form, die einschneidende Verbesserungen fürs Volk erbracht hätte. Am Schluß, aber nicht zuletzt stand da die Bemerkung zur natürlich-freundlichen, eben nicht servilen oder auch hochnäsigen Bedienung, die, wäre sie nicht so jung gewesen, durchaus an Madame hätte erinnern können, die sich trotz der Geschäftigkeit noch Zeit nimmt für ein Schwätzchen, wie ein jeweiliger plauschiger Gaumenkitzler zwischen den Gängen.

Warum denn das nicht geschätzt würde im Land der wie so vieles so gerne von unseren überseeischen Freunden übernommenen Selbstbedienung, fragten wir uns. Tagaus, tagein nehmen die Besucher der Wiederherstellungsstationen den Besitzern dieser Schnellfreßläden die Arbeit ab, ob bei Bratklops zwischen zwei Pappbrötchenhälften in Tristesse oder irgendwo baltisch gewickelten original japanischen Fischreisröllchen inmitten edler Hölzer, vermeiden dringend benötigte Geldverdienplätze, maximieren den Ketteninhabern die Gewinne, indem sie ihr Essen nicht nur selbst abholen am Tresen, sich das durch Zusatz von Kohlensäure vom Leitungs- zum Tafelwasser Aufgehübschte am Automaten abfüllen, Flaschen selber öffnen, Besteck nachpolieren et cetera, erstmal den Tisch säubern und am Ende alles auf-, also brav abräumen sowie beinahe auch noch die Spülmaschine bestücken. Nur so sei das günstige Preisleistungsverhältnis zu halten, heißt es da. Ach ja, die Lohn(neben)kosten.

Dieselben Schnellrestaurantbesucher bedienen dann im Bahnhof beziehungsweise Flughafen den Automaten, wenn sie's nicht ohnehin bereits via Internet erledigt haben wie auch den Kauf der erforderlichen Utensilien für die schönsten zwei, vielleicht drei Wochen des Jahres. Sollten sie die tausend oder zweitausend oder noch mehr Kilometer mit dem Auto absolvieren, wiederholt sich das Sparprocedere in den Raststätten. Gehören sie einer gemächlicheren Gattung an, checken sie ein- bis dreimal an der Autobahn oder Autoroute oder Autostrada oder Autopista ein in Hotels genannte Naßzellen mit angeschlossenen Betten, garantiert frei von lästigem Personal, alles mit Hilfe von Karten und Nummern. Möglicherweise haben sie auch das vorausschauend bereits zuvor übers flotte Netz gebucht, man weiß ja nie während der Hauptreisezeit, und Zeit will man letztlich ja nicht verlieren, was ein Ausritt ins nächste Dörfchen oder gar Städtchen nämlich zur Folge hätte, am Ende gar noch eine wegen des lahmarschigen Kellners und den sonstigen Gängen viel zu lang dauernde Abfütterung in einem Bistrot oder einer Trattoria oder einer Hosteria, nicht auszudenken. Der Strand wartet (nicht).

Gebräunt bis verbrannt und von ein paar Rettungsringen verziert, aber weniger aus dem nautical shop als aus der Gastronomie, somit rundum glücklich zurückgekehrt, berichten sie beseelt von den südlichen Serviceoasen und deren Gemächlichkeit. Herrlich war's, sich den lieben langen Tag reihum bedienen zu lassen. Und so freundlich waren die alle dort. Das bekämen die Deutschen einfach nicht hin, sie seien einfach kein Volk der Dienstleistung. Da könnten sie noch so schön herbeireden wollen, die Politiker. Schlimm, das alles.

Ein paar Tage nur gehen ins Land, dann helfen sie ihnen wieder sparen, auch sich selbst, Zeit und damit Geld, den schnellen Restauratoren und den Billig- oder Nichtsobilligheimern, reihen sie sich ein in die Kassen- oder sonstigen Warteschlangen, drücken ihnen zur Kostenreduktion und sich zur Zeiteinsparung wieder alle erdenklichen Knöpfe, touchen die Screens, im Nah- oder Fernverkehr, ob öffentlich-rechtlich oder privat gewinnorientiert, updaten Behördenformulare, aus Gründen der Papierersparnis, sagt der mittelalterliche Finanzamtsleiter, und druckt die zweizeilige eMail aus, um sie aktenkundig zu machen.

Ich stehe lieber beim deutschen Dorfkramer (oder dem arabischen in der Stadt) an der Kasse, die ja ebenfalls längst hochelektrisch scannt und mir, entgegen der landläufigen Meinung, obendrein keinen höheren Preis abverlangt als der augenwischerische Supermarkt und bei dem's auch nicht länger dauert als dort, obwohl er noch dies und das aus dem Hinterstübchen oder der Kühlung holt, um Sonderwünsche zu erfüllen. Mittlerweile haben ein paar wenige kluge jüngere Menschen sich der Lebensqualität erinnert, die die Älteren mal hatten mit ihrem zeitraubenden Rumgequatsche. Das wäre eine Zukunftsperspektive.

Madame Reverchon im beschaulich-betulichen hochprovençalischen, etwa eine Autostunde vom Meer entfernten touristenfreien Dörfchen, wies mich in einem Gespräch über südfranzösische Gepflogenheiten ausdrücklich darauf hin, daß es in Marseille erst gar keine Papierkörbe gebe. Es würde sie ja doch niemand benutzen. Die etwa fünfzigjährige, sehr gepflegte und nicht minder bürgerliche Dame setzte dann noch ein d’accord drauf: Das ist in Ordnung, da haben die Menschen Arbeit, und der Dreck kommt zweimal täglich wieder von der Straße. Und, nebenbei, an vielen Busstationen stehen freundliche, nicht nur auskunftsbereite Helfer, die nicht nur den kleinen Französinnen in die Kiste helfen, sondern durchaus auch schonmal der damenbehaarten Fischersfrau oder deren Altem nach dem zehnten, sozusagen aus dem Ruder gelaufenen Pastis. Die machen das einfach so, man muß sie auch nicht betasten oder drücken.

Angesichts der hiesigen Verhältnisse muß man allerdings froh sein, nicht mehr jung sein zu müssen.

* Ja, das war jetzt der klassische deutsche Satz im Sinne von Mark Twain, wie ich ihn manchmal sehr gerne mag, ihn und ihn.
 
Fr, 21.11.2008 |  link | (2519) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 







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