Kladden und Zettelkästen oder was auch immer — um inspiriert die Frage von Nnier in meine (fast) tägliche Tagebuchnotiz auswalzend hinüberzuführen —, die haben ja nicht nur die Dichter und Denker und Buchhalter, nicht nur die literarischen, alle Zeiten benutzt, auf daß etwas nicht in den hinteren Hirnwindungen verschwinde und erst dann wieder auftauche, wenn bereits die fünfte Autobiographie gedruckt ist. Das war sogar noch notwendig, als die Schreibmaschine erfunden worden war, etwa die olle des Heideeinsiedlers, der seine Schmidtiomanien in sie hineinhackte. Auch ich habe irgendwann damit angefangen, durchaus schon, bevor ich beschlossen hatte, ein großer Romancier zu werden, also bereits vor den Zeiten, als das Herz voll wurde. Und genutzt habe ich diese Merkmittel sogar vermehrt, als der Computer als angeblich arbeitserleichternde, wenn auch ein wenig unhandliche Gedächtniskrücke erfunden worden war. Wenn man unterwegs ist, sieht man sich genötigt, besondere Bewegungen im Geiste zu notieren, aber da es nicht jedermanns Sache ist, angesichts jeder Elfe, die an einem vorüberschwebt, die Klappe des Rechners zu betätigen, um jede Besonderheit, etwa deren güldenen Haarsträhnen oder fischigen Füße, zu notieren, man vielleicht überhaupt nicht zu denen gehört, die ständig an solch einen Rechenschieber gekettet sein möchten oder der möglicherweise auch hinderlich sein könnte beim Abtauchen in die Archäologien eigener Meeresträumereien, da hat man eben so einen Kasten. Na ja, Kasten vielleicht nicht, aber immer ein Blöckchen oder Büchlein oder ein Moleskine, wie die gepflegte und gebildete, ja immer irgendwie künstlerisch angeatmete Bloggerwelt es grundsätzlich sein eigen nennt, in dem man festhält, was unbedingt nicht vergessen werden will oder aus dem ja nochmal was werden könnte. Hinzu kommt, daß ja bekanntlich offensichtlich alles, das man notiert hat, sich so eingebrannt hat in die organische Festplatte, daß man es oftmals gar nicht mehr übertragen muß in die elektronische, die zuhause oder im Hotel darauf wartet, zugetextet zu werden. Zettelkasten also. Bei mir müßte das eigentlich Zetteleien heißen. Irgend so einen Fetzen Papier trage ich immer am Leib. Kladden und Blöcke und gar aufbewahrungstechnisch erforderliche Kästen oder Laden tragen so auf und hemmen den Fortbewegungsdrang, wenn man im dünnen Hemdchen hüpfend über die Dünen kommt oder sich der Möwenangriffe erwehren muß auf der Îles Ratonneau. Also ein Stummel weich gleitenden Bleistifts sowie ein paar Blätter zurechtgerissenen Papiers in die linke Hinter(n)tasche (die rechte ist seit Urzeiten dem fein säuberlich beschnittenen geldwerten vorbehalten) für die Allzeitbereitschaft, zumindest stichwortartig festzuhalten, was an Besonderheiten auf mich zugeflogen kommt und Niederschlag finden könnte in einem gewaltigen Werk, das weit über 630 Seiten hinauslappt oder in einem Anmerkungsappendix aufgeht (so sich jemand bereiterklärt, sowas zu drucken und so zu verlegen, daß man es nicht ständig in irgendwelchen modernen Antiquariaten suchen muß). Nun, aus dem großen Romancier ist nichts geworden (wenn ich auch darüber sinniere, es doch nochmal zu versuchen, wobei mich die Mühsal daran auf Distanz dazu hält: Das ganze Gestern wirklich nochmal lesen?). Aber aus dem Schuhkarton vollgekritzelter Zettel wurde in Teilen wenigstens ein elektronischer Block. Zugestandenermaßen habe ich es doch immer wieder getan: es in den Rechner verklappt, was aus dem beschriebenen Hinterteil kam. Und so manches Mal scheine ich dieses paradoxe Gefühlerlebnis namens Déja-vu zu haben. So ging ich neulich in Marseille ins Kino oder spazierte die die Corniche entlang und hatte jeweils den Eindruck, das alles doch bereits einmal erlebt zu haben. Und tatsächlich, die Ereignisse fanden sich als erweiterte Notizen im Computer wieder. Ich habe sie dann mit aktuellen Eindrücken aufgefrischt und hier hineingesetzt. Aber geradezu mysteriös wird's, wenn man eigene Erlebnisse nahezu identisch bei anderen aufgeschrieben wiederfindet. Das ist mir passiert bei Kurt Tucholsky. Er lieferte in seinen Schnipseln, dieser anderen und für ihn typischen Art von ausformulierter Zettelwirtschaft, in den Zwanzigern eine Beschreibung des Ferry Boat, die eine schier unglaubliche Nähe zur eigenen aus den Neunzigern hatte: «In Marseille fährt diese wunderschöne alte Personenfähre für drei Francs vom Quai du Port hinüber zum Quai de Rive Neuve oder von dort aus zur gegenüberliegenden Mairie, dem barocken Rathaus aus dem siebzehnten Jahrhundert.» Aber er war's ja auch, der diese denkwürdige und von mir immer wieder gern zitierte Formel kreierte: Es gibt keinen Neuschnee. Was einem bei solchem Gekreisle alles einfällt: Das eigentlich Seltsame daran ist, daß mir bei wirklich (ge)wichtigen Versuchen, etwa denen, mich über die Künste zu äußern und nicht selber welche zu produzieren, alles aus dem Kopf auf die Tastatur fällt, ohne Struktur und doppelte Notizen. Aber möglicherweise wiegen die dann doch nicht so schwer wie der eigene Weltschmerz.
Welkendes und Welkes Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bin ich kaum zur place de Lenche hinauf, fast, als ob ich sie gemieden hätte. Obwohl ich früher so gerne dort saß, ja sogar zwischenzeitlich dort wohnte, im ziemlich engen achtzehnten Jahrhundert, sitzend auf den zweihundert und viel mehr Jahre älteren Fundamenten der rue de l’Évêché. Als ob ich Angst gehabt hätte — nach Hause zu gehen? Seltsam. Überall bin ich herumgewandert, wie auf der Spurensuche nach mir selbst. Bin mit dem Bus dann immer wieder Rive Neuve, den Boulevard Charles Livon entlang, Wasser gucken. Wie einst im sommerlichen Mai. Als ob ich mich darin finden könnte. Oft auch zu Fuß in Richtung Pharo, unten vorbei an der Plage des Catalans wieder zur Corniche. Aber länger aufgehalten habe ich mich in dieser Gegend eigentlich weniger. Dieses Terassenleben, vor allem in der Gegend hinter Malmousque, etwa an der Segelschule, dieser Exhibitionismus der mondänen Möchtegerne oder andersrum, das ist nicht das meine. Es hat aber wohl mit den Menschen dort zu tun. Sie stoßen mich eher ab, wie sie sich und ihre Körper dort präsentieren und auch noch Eintrittsgeld dafür bezahlen, daß man ihnen von oben auf die hochgezurrten verwelkenden Titten glotzen kann. Sie sehen halbnackt auch nicht anders aus als halbangezogen in ihrem teuren Tinnef aus der Budengasse Rue Saint-Férréol mit ihrem Markennamenterror. Dort habe ich einst das Fremdschämen gelernt. Dabei mag ich das Welkende. Nicht nur verwelkende oder verwelkte Rosen, die ich manchmal fast altarisiere. Auch erschlaffende Haut hat etwas Sinnliches. Je nach Trägerin sogar durchaus etwas Erotisches. Doch was da vorgeführt wird, ist eine unerträgliche Eitelkeit des Nichtseins oder die kunderasche Definition von Kitsch, nämlich die Kaschierung von Scheiße, vielleicht sogar deren versehentliche, aus Unwissenheit entstandene Umkehrung, auf jeden Fall absolut nichts als Eitelkeit. Ansonsten hohl im Kopf. Schaut alle her! Bin ich nicht schön? Schön dämlich vielleicht. Ich mag auch keinen Strip tease. Das ist nichts anderes als Schaufenstergucken. Alles Drapierte ist mir unangenehm. Als ob man ihnen die Knochen verrenkt hätte, stehen sie da oder sitzen, wie in meinem Blütensternengärtchen. Welkendes kann ich als erotisch empfinden, weil, besser: wenn es natürlich ist. Doch wer als alte Fregatte mit angefressener Takelage und schlaffen Segeln auf einem Laufsteg für Volksbegehrlichkeiten herumdümpelt, um sich begaffen zu lassen, ist nicht von anderem Format als die Mami, die ihre Kinder in Play-back-Shows oder zum Eiskunstlauf oder zum Hundefriseur schickt oder über den Tennisplatz jagt oder am Klavier oder als hoffentlich kommende Ballerina maltraitiert, weil sie möglicherweise an sich Versäumtes oder für sich selbst Erträumtes in ihre Brut hineinprojiziert. Aber die Jungen nicht anders. Dieses Geprotze, diese in Kürze aufplatzenden Früchte. Nur Muskelgeglitter. Beflieg mich, aber nur, wenn du ein starker Brummer bist, zumindest aber einen solchen hast. Körper wie aus riefenstahlschen Strahlgewittern. Zeitgenössisches Design. Außen Plastik und innen 1+0-Elektronik. So geistlos wie ein Computer eben. Oder die Wiederbelebung winckelmannschen Ästhetizismus': Nur Form, innen hohl. Fettfreies Fleisch: geschmacklos, da seines Aromentransporteurs beraubt. Da soll einem der Appetit nicht vergehen. Ich geh' jetzt trotzdem zu Toinou, lasse einen ganzen Kutter frischer Früchtchen in mich hineingleiten, lasse sie in mir weiterschwimmen in Sandwein. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
Binsenwahrheiten? «Es ist damit nicht anders als mit der Demokratie oder der großen Liebe oder der heilen Familie oder dem Weltfrieden. Früher gehörte der liebe Gott noch dazu, und es ist immer dasselbe Prinzip: Entweder man glaubt es, oder man glaubt es nicht. Wenn alle daran glauben, heißt es, es funktioniert. Natürlich funktioniert es dann längst noch nicht unbedingt, aber das ist nicht so furchtbar wichtig. Wenn nur alle dran glauben, wird es schon funktionieren, und die, bei denen es nicht funktioniert, haben eben nicht stark genug dran geglaubt.» Ich lese, nach langer Zeit mal wieder, Birgit Vanderbeke, hier: Geld oder Leben. «Den Titel des [...] Buches von Birgit Vanderbeke», steht im Perlentaucher geschrieben, «bezeichnet Rezensent Martin Krumbholz rundheraus als Schlamperei. Hier werde, wie er findet, die Einsicht, dass Leben Geld kostet, was der Rezensent als ein Grundthema des Buches identifiziert, ‹frohgemut ins Gegenteil verkehrt›.» Tobias Döring wirft ihr in der FAZ gar vor, sie habe eine «triviale Bordüre aus Binsenwahrheiten» genäht, mit der sie sich über «Konsumterror und Markenwahn» der Neunziger entrüste. Kurzum, ein alter Hut sei das. Als solcher ließe sich allerdings auch die kommentierende Schilderung von Zuständen bezeichnen, wie sie in den fünziger Jahren ff. geherrscht haben und die manch einer sich wieder zurückersehnt beziehungsweise wie wir sie ja teilweise bald alle wiederhaben. Deshalb ignoriere ich die Vorwürfe, Vanderbeke komme mit diesem Buch schlicht und «gutgemeint» daher, und lese einfach mal weiter. Es könnte ja sein, daß sie schlicht recht hat mit ihrem «Genörgle», weil es weiterhin abwärts geht. Bis vor sechs Jahren hat mich ihr lakonischer Stil durchaus beeindruckt, ebenso ihre unprätentiösen Inhalte. Geld oder Leben ist von 2005. Daß ich (mal wieder) ein bißchen spät dran bin, tut überhaupt nichts zur Sache. Ich mag ältere Bücher nunmal, durchaus wie die Zeitung von (vor-)gestern. Dabei wird so manches Mal interessanter Kahlschlag neu belichtet, aufgeforstet im Wald eigener Erkenntnisse. – Schau'n mer mal, wie der große bayerische Philosph aus Giesing zu sagen pflegt.
|
![]() Jean Stubenzweig motzt hier seit 6297 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00 ... Aktuelle Seite ... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis) ... Themen ... Impressum ... täglich ... Das Wetter ... Blogger.de ... Spenden
Zum Kommentieren bitte anmelden.
AnderenortsSuche: Letzte Kommentare: / Echt jetzt, geht noch? (einemaria) / Migräne (julians) / Oder etwa nicht? (jagothello) / Und last but not least ...... (einemaria) / und eigentlich, (einemaria) / Der gute Hades (einemaria) / Aus der Alten Welt (jean stubenzweig) / Bordeaux (jean stubenzweig) / Nicht mal die Hölle ist... (einemaria) / Ach, (if bergher) / Ahoi! (jean stubenzweig) / Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut. (einemaria) / Sechs mal sechs (jean stubenzweig) / Küstennebel (if bergher) / Stümperhafter Kolonialismus (if bergher) / Mir fehlen die Worte (jean stubenzweig) / Wer wird schon wissen, (jean stubenzweig) / Die Reste von Griechenland (if bergher) / Richtig, keine Vorhänge, (jean stubenzweig) / Die kleine Schwester (prieditis) / Inselsommer (jean stubenzweig) / An einem derart vom Nichts (jean stubenzweig) / Schosseh und Portmoneh (if bergher) / Mit Joseph Roth (jean stubenzweig) / Vielleicht (jagothello) «Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.» Suche: Andere Worte Anderswo Beobachtung Cinèmatographisches + und TV Fundsachen und Liebhaberstücke Kunst kommt von Kunst La Musica Regales Leben Das Ende © (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |