Geräuschkulisserie

«Musik wird oft nicht schön gefunden», ließ uns Wilhelm Busch wissen, «Weil sie stets mit Geräusch verbunden.»* Ob er auch nur geahnt hat, wie das eines Tages einmal ausarten würde, vor allem dort, wo sie als Krücke für bewegende bewegte Bilder herhalten muß, quasi als sinnentstellendes Nebengeräusch?

Früher war es vor allem die Radio- und Fernsehwerbung, die mich, um's mal moderat auszudrücken, allzu oft in Erstaunen versetzte wegen ihres gnadenlos platten und inhaltsfreien Einsatzes klassischer oder sich der Klassik annähernden Musik. Deshalb will ich mich seit langem dazu äußern. Ausführlich. Es wird mir wieder nicht gelingen. Denn immer wieder entschwinden mir die Beispiele aus dem Kurzzeitgedächtnis. Bis ein abstruses, irgendetwas begleitendes Klangbild in mein Gehör hineinstreicht, daß es derart wehtut, als ob mich dieser niederländische fiedelnde Folterknecht namens André Léon Marie Nicolas in Arbeit hätte.

Vor ein paar Tagen war's mal wieder soweit. In einer Reportage über Deutsche, die sich in die Wärme Spaniens verflüchtigt und dabei nicht nur vergessen haben, wie sinnvoll es sein kann, sich mit einer Kultur und deren Sprache(n) zu beschäftigen, inmitten derer man zu leben gedenkt, sondern auch, daß der Mensch älter wird und möglicherweise gar gebrechlich. Und daß das Land, dem man den Rücken gekehrt hat, dafür nicht zahlt im fremden Land, Europa hin, EU her, man also wieder zurückmuß dorthin, wo man einst hineingeworfen wurde, um dort Altenpflege zu empfangen beziehungsweise zu erhalten. Viel Leid wird gezeigt in dieser Reportage, auch viel schöne Landschaft und herzallerliebst Inneres von Architektur, die man sich hingerichtet hat seit zwanzig oder dreißig Jahren für den Rest des Lebens, das nun vorbei sein soll. Dazu hier ein wenig untermalende Streicherei, dort mal etwas Kastagnette, die Gegend will schließlich illustriert sein, weil man sie sonst vermutlich nicht erkennt. Dann ein Schwenk über die Hügel der Costa Blanca oder noch weiter hinunter, wo alles staubt, obwohl sie das Wasser aus den Pyrenäen abziehen bis nach Frankreich. Und dazu plätschert dann Keith Jarrett in den Flügel, man erkennt sein Spiel gerade, wenn man ihn denn kennt, immerhin länger als die neunzehn Sekunden, nach denen die GEMA zugreift, mal kaum hörbar eben, dann wieder ein paar Tastengriffe lang deutlicher: Kölner Oper, am 24. Januar 1975, jenes Köln Concert, das der eine oder andere so langsam wieder vorsichtig zu hören beginnt, weil es lange Zeit in den Ohren wehgetan hat, so oft kam es einem entgegen aus dem Radio oder auch vom eigenen Plattenspieler (ich kann die Vinylscheibe mit dem Daumennagel abspielen). Jetzt, da ich dies hier schreibe, erinnere ich mich, es vor einiger Zeit schon einmal (wieder-)gehört zu haben, ebenfalls in einer Reportage. Damals ging es, wenn ich mich recht erinnere, um alte Arbeitersiedlungen im Bergischen Land. Alter. Architektur. Landschaft. War's derselbe Autor, zumindest der Redakteur, der ihm gesagt hat: Hier muß Musik drunter, das wird sonst zu trocken. Nun gut, Köln ist ja nicht weit weg ...

Die Tage nun, in der TV-befreiten und nur dem Fernblick dienenden Landschaft fast ein bißchen übermäßig mit deutschem Lied aus französischem Radio überspielt, lese ich, fast schon seltsam anmutend anläßlich meiner musikalischen Gedanken: «Welch wunderbare Koppelung von Musik und Handlung. Auch wenn so was an und für sich unanständig, qualitativ beschneidend und fast schon zynisch gegenüber der absoluten Musik ist — es gibt Fälle, in denen das Zusammenspiel von Handlung in bewegten Bildern und Musik Gutes hervorbringt. Alleine das Setting: in einem Friseursalon; an einem Ort, der dem Putz dient, der Politur der Oberfläche, wird er mit seiner ganzen inneren Hässlichkeit konfrontiert.» Genelon beschreibt den musikalischen Strang einer filmischen Einheit. «Man vernachlässige den Film, den man einmal ansehen kann und adieu.» Er begründet das in Worten, die unsereins gerne öfter mal läse: «[...] Krankheit der Filmindustrie, die den Wunsch eines wachsenden halbweltlerischen Zielpublikums erkannt hat, sich mit dem erlesen-verruchten Geiste scheinbar scheinbar konventionsbrechender Einen-Schritt-Weiter-Denker besonders verwandt zu fühlen, der in Wahrheit nichts als intellektuelles Halbstarkentum ist, Schlausein für geistige Goldgräbertypen, die aus der innerfilmischen Logik auszutreten nicht imstande sind, aber mit Vorliebe und Kontinuität aus allen Filmen herausfischen, was sich besonders verwegen angehört hat, um es bei der nächsten sozialen Gelegenheit so beiläufig wie möglich als Marke Eigenbau wiederzuverkaufen.» Dann jedoch geht er auf den Kernpunkt ein, die Musik. Er beschreibt minutiös, was da vonstatten geht und schließt: «Man soll sowas nicht machen — der Musik Treibladungen unterschieben, etwa durch dabei vorgetragene Geschichten oder bewegte Bilder, dadurch verkümmert langfristig die reine musikalische Phantasie. Musik muss für sich selbst stehen [...].»

Nun ja, vielleicht ist das ein wenig viel verlangt, derart zugesoßt, wie wir nunmal sind. Bei den vielen einheitlichen Stimmungen, die da ständig erzeugt werden wollen. Von der Werbung soll hier nichtmal unbedingt die Rede sein. Gleichwohl es sicherlich einen gleichbleibenden Eindruck auf den Konsumenten macht, wenn Edvard Grieg auch über die sanfte thüringische Bratwurstlandschaft streicht. Es muß ja nicht gerade Ases Tod oder Solvejgs Lied sein, die sind schon zu bekannt geworden via KlassikRadio oder NDR-Kultur (als Literatur verschwindet sowas allerdings eher in der Stunde, die man krank war). Irgendwas aus der Mitte, das gut und gern auch ein bißchen Kalevala sein könnte, das macht sich auch ganz gut, denn irgendein irgendwie leicht rätselhafter Wiedererkennungseffekt möchte schon sein. Und richtig, Sibelius' Bläser hörte ich so manches Mal über die Wälder um die Villa Hügel tröten oder dessen Streicher den Schwarzwald einfärben. Sogar in Frankreichs Haute-Provence sind sie mir schon widerfahren, als es darum ging, den Mistral zu untermalen, auch wenn der dorthin gar nicht kommt, sondern kerzengerade die Rhône hinunterfegt. Solche lautmalerische Illustration geben die beiden Skandinavier eben am besten her. Auch wenn sie als Komponisten so grundverschieden sind, die vielzitierte «späte Romantik» hin oder her.

Aber woher sollen die Rundfunk- und Fernsehautoren auch wissen, welche Musik wo einsetzbar ist? Für sowas ist doch keine Zeit. Schon an der Uni müssen sie sehen, daß sie den Lernstoff bewältigt bekommen. So ein Bachelor geht schnell vorüber. Die Journalistenschule oder ein BWL- oder Jurastudium mit Volontariat sind dabei auch nicht eben hilfreich. Und in der Penne haben sie gerade gepennt oder mußten zum Ohrenarzt. Im Deutschunterricht ging das ja mit Kempowski los, «eingeschränkte Halbwertzeit» eben. In Musik gab's nur Bach oder Beethoven oder diese Kunstlieder von diesem Schubert oder so'n Kram, in die hauptstädtische Oper mußten sie auch mal mit diesem gekreischfanatischen Lehrer, was aber allesamt schlecht einsetzbar ist für sowas. Es will aber produziert werden. Reportagen, Features, Dokumentationen. Sie alle benötigen Illustration. Mit dem zuhause gehörten Techno oder Punk oder Udo Jürgens oder «James Galway, diesem André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler) ist das irgendwie nicht so günstig für das eigene Ansehen im Bekanntenkreis. Also greift man in die unverfängliche Kiste mit den immergleichen fünf Musiken. Wie die Werbeindustrie. Bei der wehte eine Zeitlang ohn' Onterlaß ein molliger primavera über die fröhlich trocknende weiße Wäsche. Es spielt aber auch weiter keine Rolle, denn die geneigten Hörer oder Zuschauer beziehungsweise -seher können's ohnehin nicht unterscheiden. Die Zeit der aufklärerischen Enzyklopädisten ist unwiderruflich vorbei. Das Fernsehpublikum sehnt sich nach dem Schlichten, dem Wiedererkennbaren, nach der inszenierten biblia pauperum.

Aber wenn man's doch wenigstens erkennen könnte.


* Wilhelm Busch: Der Maulwurf. Sämtliche Werke I, Und die Moral von der Geschicht, Rolf Hochhuth (Hrsg.), München 1982
 
Fr, 27.03.2009 |  link | (5690) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ohrensausen



 

Hugenottenmetropole (La Rochelle)

Bretagne. Normandie. Massif Central. Auvergne. Dordogne, Cyranos Gascogne! Auch am Atlantik ist schon mal länger Station zu machen — Fahrt über Troyes, Auxerre, Orleans, Tours, Angers, Nantes. Immer die unglaubliche Loire entlang. Adolphe Desbarolles, Maler und Reiseschriftsteller des mittleren neunzehnten Jahrhunderts, hat sicherlich recht, wenn er schreibt:
Die Ufer des Rheins sind ohne jeden Zweifel schön. Aber ohne die romanischen, gotischen oder mittelalterlichen Städte fehlt ihnen eben etwas. Die Ufer der Loire und der Seine tragen ihre Fluten auf majestätische und authentische Weise zum Meer, während ihr sich Rivale dort wirr im Sand verirrt oder verliert, wo er nützlich und seine Schiffe zur Mündung tragen könnte. Darin ist er ein treues Emblem des deutschen Volkes — das seine Stimme erhebt und donnert und sich majestätisch gibt, aber am Ende seiner langen Sätze und Perioden nie zu einem konkreten Gedanken kommt.*
Nun denn. Na ja. Authentisch ja, aber majestätisch doch eher weniger. Denn authentisch ist ja wohl ein eher unpoetischer Begriff für einen solchen langen Minnesang, der seinen Lebenssaft bei Saint Nazaire in den Atlantik ergießt. Authentisch ist die Loire vielleicht, wenn man die Rennstrecke N 25 nimmt. Aber auf der linken Seite entlangrollend läßt sich die sanfte Wasserwalze immer mit den Augen besingen (wenn auch zwischendrin aus dem Gesang kurz ein Aufjaulen wird: bei der Zwangsumfahrung des Atomkraftwerkes, das sich aus der Loire seine Kühlung holt). Fast bis nach Nantes kann man die kleinen Straßen fahren. Ab Saumur sah man auf ihnen früher fast nur noch englische und irische Autokennzeichen auf Rover und Jaguar; sie sind etwas weniger geworden, das Geld ist nicht mehr so flüssig wie der Fluß. Doch auf die historisch fundierte Liebe der Briten zu diesem Landstrich muß man ja nun wirklich nicht eingehen. Es reicht ja, daß sie in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts in dieser Gegend von einer geharnischten Jungfrau mal fürchterlich verprügelt wurden. Warum also sollten sie nach so langer Zeit nicht wieder mal ein bißchen was von dieser unendlichen Rebenlandschaft haben? Zumal sie seit dem achtzehnten Jahrhundert keinen eigenen Wein mehr auf ihrer Insel haben beziehungsweise gerade mittels menschlicher Erderwärmungshilfe mühsam wieder damit anfangen müssen. Und halb Frankreich gehört ihnen eben auch nicht mehr. In Nantes sieht man dann sowieso wieder richtig viele Franzosen. Wo man hinschaut. Überall ist alles durch und durch französisch. Maritimfranzösisch. Überall kribbelt es. Das nahe Meer bemächtigt sich der Grundstimmung. Sie wird zum Gefühl. Dieses Herumsitzen. Nichts anderes möchte man mehr tun. Jedenfalls im Sommer. Aber schließlich tut man es dann doch. Doch bei sehr viel tiefem und ruhigem Atem. Je nachdem, wohin man möchte. Bei Bouaye bereits flirrt das Licht so seltsam. Wüßte man es nicht, es wäre eine Ahnung — la mer. Dann auf den Michelin die N 758 entlangschlurfen, und nach etwa sechzig Kilometern hat man es endlich erreicht, eines dieser vielen Denkmale französischer technophiler Gigantomanie — Brücken, die in den letzten fünfzehn, fünfundzwanzig Jahren gebaut wurden. Von Fromentine aus gelangt man zur Île de Noirmoutier — péage natürlich, man muß bezahlen. Auf der rechten Rheinseite denkt man ja immer wieder mal ebenfalls heftig über solche Straßen- oder Brückengebühren nach.

Rund hundertfünfzig Kilometer weiter südlich der Brücke zur Île de Noirmoutier habe ich mal stundenlang verzweifelt versucht, den Hafen wiederzufinden, von dem aus die Schiffe zur Île de Ré fahren. Ich wollte dorthin. Aber wen auch immer ich in der uralten Protestantenstadt La Rochelle gefragt hatte — niemand wußte mir den Weg dorthin zu nennen. Oftmals war die Reaktion sogar ein Kopfschütteln, das besagte, ich müsse nicht ganz dicht sein. Ich war jedoch mindestens zehnmal mit der Fähre zur Insel und wieder zurück gefahren. Doch ich hatte wohl nicht bedacht, daß es eine Weile her war. Also suchte ich mir einen an Jahren etwas fortgeschritteneren Menschen. Und vielleicht auch noch jemanden, der über ein paar Ortskenntnisse verfügen mußte. Der Taxifahrer lachte beinahe lauthals und meinte, ich sei wohl lange nicht hier gewesen. Er hatte recht. Gut zwanzig Jahre war es zu diesem Zeitpunkt her. In der Zwischenzeit hatten sie die bis zu diesem Zeitpunkt längste Brücke überhaupt gebaut. Knapp vier Kilometer schlängelt sie sich hinüber vom Pont Viaduc bis nach La Pallice.

Erik Orsenna schrieb über seine (bretonische) Insel: «Die Einheimischen waren stolz auf die Entlegenheit ihrer Insel und machten sich über die falschen lustig, die, wie Noirmoutier, bei Ebbe durch eine Straße mit dem Festland verbunden waren, oder, noch schlimmer, durch die unendliche Vulgarität einer Brücke, selbst einer künftigen (arme Insel Ré).»**

Damals, etwa 1970, war die arme Insel Ré mal ausnahmsweise nicht von Engländern, dafür aber von Deutschen besetzt. Es handelte sich dabei zwar nicht um späte Ausläufer des zweiten Weltkrieges, doch in der Landnahme müssen die Deutschen wohl ihre Kriegserfahrungen zuhilfe genommen haben. Glücklicherweise verloren sich die Blechmassen im Inneren ein wenig, da die Insel doch recht groß ist. Doch dann, etwa 1991, habe ich verschwindend wenige deutsche Autokennzeichen gesehen. Die in dieser Gegend besonders kriegsgeübten Franzosen hatten ihre Insel zurückerobert. Ein paar Unentwegte, denen es dort immer noch gefiel, waren übriggeblieben. Sie scheuten auch die doch nicht ganz unerhebliche Brückenbenutzungsgebühr von hundertzwanzig Francs nicht (für die Jüngeren oder Vergeßlichen: damals etwa sechsunddreißig Mark oder heute achtzehn Euro). Man benötigt schließlich auf einer Insel ein Auto. Der Bus fuhr einen von der Grosse Horloge am Alten Hafen von La Rochelle für fünfunddreißig Francs bis ans Ende der dreißig Kilometer langen Insel, nach Ars-en-Ré oder nach Saint Clément. Für rund zwanzig Francs kam man bis nach Saint Martin-de-Ré mit der imposanten, von Sébastien de Vauban Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbauten Festung. Nicht nur Mirabeau hatte hier sozusagen eine feste Burg, sondern auch Dreyfus durfte darin auf seine Deportation warten. Und die vielen deutschen Urlauber der sechziger bis in die siebziger Jahre hatten hier wohl Opas Vergangenheit besucht, der als Gefangener des ersten Weltkrieges in diesem Gefängnis schmachtete. Er bekam vermutlich eine andere Suppe als die schräg gegenüber im Zentrum des Hauptstädtchens angebotene. In dieser Fischsuppe des kleinen Hotel-Restaurants möchte ich am liebsten heute noch schwimmen. Und die Begleiterin von damals aktuell dessen fruits de mer untersuchen ...

Besonders gerne waren die Engländer die Insel und die dahinterliegende Stadt angeschwommen. Sie nahmen 1154 La Rochelle in Schutzhaft. Die Hafenstädter hatten diese frühmafiotischen Methoden in Kauf genommen, um den Wohlstand nicht zu gefährden. Siebzig Jahre später ruderten die Engländer wegen des Drucks des siebten Ludwigs von Frankreich wieder auf ihre eigene, größere Insel zurück. Um zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts wiederzukommen. Es ist spürbar. Das Protestantische, das als das Hugenottische allerdings auch in Frankreich mal ein Schwergewicht war, jedoch (hauptsächlich) niedergemetzelt in der berühmten Pariser Bartholomäusnacht zum 24. August 1572, angezettelt von der Italienerin Katharina de Medici, der Mutter des französischen Königs Karl dem Vierten und als an ordentliches Essen gewöhnte Florentinerin Begründerin von Paul Bocuse' nouvelle cuisine, die ihren konvertierten Sohn wieder unter die Fittiche des Katholizismus zurückholen wollte. Rund 200.000 Hugenotten flohen daraufhin in alle Himmelsrichtungen. Die meisten französischen Elemente in der deutschen Sprache entstammen den Folgen dieses Pogroms. Das Protestantische hat deutlich seine Spuren hinterlassen in den überall sichtbaren achthundert und mehr Jahren aller Arten von Bauwerken von La Rochelle.

Daß diese geballte Architekturgeschichte noch heute zu sehen ist, obwohl vor noch nicht allzu langer Zeit die Deutschen auch hier ihre Neuformierung der Welt probten, ist zwei kunstsinnigen Hauptabteilungsleitern der beiden sich gegenüberstehenden Armeen zu verdanken. Der Gründer und Besitzer des kleinen Gestapo-Museums hat es der Freundin und mir im Keller seines Hauses erzählt. Er hat es selbst eingerichtet, und er wollte es nicht versäumt haben zu zeigen, was auch hier am Atlantik des Größten Feldherrns aller Zeiten Geheime Staatspolizei trieb. Auch beim Erhalt der ohne diesen heutigen Massenandrang nachgerade märchenhaft schönen Stadt sollte Sprache beziehungsweise Verständnis einmal mehr eine wesentliche Rolle spielen. Der französische Kommandeur war nämlich ein Landsmann von mir. Als Elsässer etwas zurückliegender Generationen spricht man zwangsweise Deutsch. Und da die beiden nicht nur Deutsch sprachen, sondern sich auch noch über einen kulturerhaltenden Dialekt verständigten, hieß es: Kein deutscher Häuserverteidigungskampf gegen die Alliierten. Royan wird freigegeben für die Kriegssüchtigen. Royan darf erschossen werden (so sollte es dann auch aussehen ), La Rochelle dafür am Leben bleiben. Nur der U-Boot-Bunker wird gesprengt (davon lebt heute noch das deutsche Kino US-amerikanisch-retrospektivischer Prägung: Das Boot). Ach, wenn die beiden Generäle das gewußt hätten ...

So dürfen sich also Myriaden von Touristen durch die historische Einkaufsmeile der wohl bereits im zehnten Jahrhundert gegründeten Stadt drängeln. Es ist mittlerweile so eine Art französisches Rothenburg ob der Tauber geworden. Und die rattern dann unter anderem auch in Massen hinüber zum Fort Boyard. Diese Festungsinsel, auf der die vermutlich dämlichste Serie ewig lange dauergedreht wurde (wird?), die das französische Fernsehen wohl je produziert hat. Und die sich selbstverständlich hervorragend ins Nachbarland verkaufen ließ und läßt. Die privaten Unterhalter führten (führen?) sie lange Zeit wiederholt vor, und die lustigen Spieleranten setzen es fort, das Fort. Es ist in der Charakteristik aber auch so eine Art Vorläufer von Big Brother. Womit nicht das Buch von Orwell gemeint ist. In dieser Fernsehunterhaltung in historischer Kulisse spielen Teilnehmer ein bißchen Überlebenstraining nach Punkten. So etwas ähnliches wie mittelalterliches Handwerken bei fließend Warm- und Kaltwasser sowie Kanalisation.

Das Ende habe ich hier vorweggenommen.


* Le Caractère allemand expliqué par la physiologie, Librairie Internationale, Boulevard Montmartre (A. Lacroix, Verboeckhoven & Ce, Éditeurs à Bruxelles, à Leipzig et à Livourne), Paris 1866

** Inselsommer

Die Photographie stammt von Frédéric Larré unter CC.

 
Do, 26.03.2009 |  link | (13624) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Generationenheim

Allüberall ziehen sie zusammen. In ein Haus. Sie wollen den Schluß nicht alleine verbringen. Schon gar nicht in einem Altenheim. Am Ende gar eins mit Pflege. Ich erinnere mich. Bald zwanzig Jahre ist das her.

Viel hätte nicht gefehlt, und ich würde heute an diesem dringenden Bedürfnis vieler Menschen, sich möglichst zugleich an einem Ort einzufinden, vollends verzweifelt sein. Oder längst wieder die Flucht ergriffen haben. Unter großer Schuldenlast. Wie es offenbar mit dem Pariser der Fall war, der im beschaulichen, von Reiseführern später gern als Bohème-Quartier angepriesenen Saint Nicolas sozusagen seine ewige Ruhe finden wollte. Gegenüber den beiden Türmen aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, die die Einfahrt des Alten Hafens bewachen. Dieses Hafens, in dem nicht nur ein bißchen Modder, sondern auch viel Gezeiten zu sehen sind. Alle sechs Stunden einige Atlantik-Meter. Alle sechs Stunden ein völlig neues Bild vom immerselben auf die Seite gekippten Kutter. Alle sechs Stunden Atlantikwasser, das in den Kanal hineindrückt. Dort, wo das zu Recht sagenumwobene, 1984 gegründete Chansonfest Francofolies begründet wurde, beehrt nicht nur von Léo Ferré. Der Pariser hat das Café und das dazugehörende Haus wieder verkauft.

Genau gegenüber stand und steht das Haus mit der Bäckerei. Es war offeriert worden. Es gab bereits drei Bekannte, die mit mir meine Vorstellung von einem Hort der Gemeinsamkeit in unterschiedlichen Altersgruppen verwirklichen wollten. Zu fünft oder zu sechst wollten wir es kaufen. Angefangen bei der Zweiundzwanzig- bis zum gut Fünfzigjährigen. Ein paar Jüngere, vielleicht Einheimische, sollten noch als Mieter hinzukommen. Es hat sich zerschlagen. Der eine konnte dann doch nicht so, wie er wollte. Und die andere wollte nicht, wie sie gekonnt hätte. Die anfängliche Euphorie war bald umgekippt. Vermutlich haben sie dann doch ein bißchen die Fremde gefürchtet. Oder vielleicht lag's ja auch daran, daß man sie ausgelacht hatte im Bekanntenkreis wegen dieser hirnrissigen Idee der Gemeinsamkeit von Generationen unter einem Dach.

Aber heute bin ich heilfroh, daß es nicht dazu kam. Denn als ich nach vielen Jahren mal wieder dort war in der Metropole des Charente-Maritime, überkam mich doch ein gewaltiger Schrecken über diesen Nebenzweig der Umweltverschmutzung. Der neu gewählte Monsieur le Maire hatte die Stadt von diesem sommerlichen Ruck- und Schlafsackgesindel säubern lassen, dem die Stadt die Francofolies zu verdanken hat. Dann hatte er sein La Rochelle ob der Tauber. Und zum Chansonfest reisten sie in Edelkarossen an. Zwischendrin war die singende Narretei mal so gut wie pleite. Mit Geld scheint doch nicht alles machbar zu sein. Und dann diese hinzukommende Volksseuche Massentourismus, die diese wunderschöne Stadt zerstört. Sie dürfte sich allenfalls noch in den Ameisenburgen aus Beton solcher eigens dafür hochgezogenen Städte wie Martigues derart drastisch zeigen. Oder in dem abstoßend monokulturellen Gewusel solcher Strand-Trabanten wie Pérpigan- oder Narbonne-Plage. Doch da können sie sich wenigstens gegenseitig tottreten. Während sie in La Rochelle über Jahrhunderte Gewachsenes erledigen. Bis zur Markthalle aus der Gründerzeit besteht die Rue des Merciers nahezu ausnahmslos aus Touristenfallen in Form von Edelboutiquen für diejenigen, die glauben sollen, es wären welche. Und einmal mehr haben nur ein paar wenige etwas davon – Francs. Von mir aus Euro. Und die anderen werden immer mehr zurückgedrängt in die letzten Winkel. Aber auch Saint Nicolas ist keiner mehr. Ich bin wirklich froh, nicht in dieser Art Gemeinsamkeit gelandet zu sein. Das Kino hatte mich glücklicherweise in den Süden geführt.


Das war mal mit ein Grund, dorthin ziehen zu wollen. Hier, in der rue St Nicolas, haben wir unseren Wein getrunken, nicht unbedingt den für achtzig Centimes das Glas. Für zwanzig Francs gab es ein Fläschchen von der gegenüber liegenden Île de Ré. Und das Gesicht der alten Wirtin erhellte sich. Die ganz edlen Stöffchen verschwanden im Giftschrank für Touristen, als sie in den Ruhestand gingen. Aber vorher noch einige in uns.
 
Mi, 25.03.2009 |  link | (4296) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 







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