Bis an des Wassers Scheide

Photographie: © Jean Stubenzweig

Neulich in Marseille, das sich von mir zu entfernen beginnt wie eine langjährige Geliebte, die sich einem vermeintlich Jüngeren zugewandt hat, der seine Attraktivität aus einer Anhäufung von Neuerungen nährt, die Stadt, die ihre in weit über zweieinhalbtausend Jahren gewachsene Natürlichkeit innerhalb kürzester Zeit drangibt, indem sie in scheinbar neue Gewänder schlüpft, die doch nicht mehr sind als die haarscharf an eigener schöpferischer Leistung vorbeikopierten Billigklamotten eines schwedischen sogenannten Modehauses, die Metropole kurz vor Afrika, die wie deren Einwohner jetzt unbedingt auch welteuropäisch sein will wie ihre Schwesterstadt Hamburg: Inmitten der Berge an Austern, Muscheln und Schnecken von Toinou am Cours Saint-Louis, direkt neben der inzwischen schön- und plattgebügelten Canebière, dem alten Hanfboulevard: die nicht endenwollende Eloge eines sportiven Jungmodernen mit Apfelphone und Funköffnung für ein schwarzes bayerisches Cabriolet auf dem Tisch neben der Flasche eines Rosé, der hier inmitten dieses Synonyms für eine aus einer unteren Mitte gewachsenen gastronomischen Heterogenität seines Preises wegen vielleicht zwei-, höchstens dreimal im Jahr verkauft wird. Er will der kürzlich aus Paris zugezogenen Marianne gegenüber gar nicht mehr aufhören mit seinem Lobgesang auf die Partnerschaft. Nein, keinen Antrag auf das mittlerweile multi- oder interkulturell gewordenen Bis-daß-der-Tod-euch-scheide stellt der Beur der Jungdirigeant aus der mittleren Etage der zum attraktiven Gebäude luxussanierten einstmaligen Seifensiederei im Anschlußgebiet des neuen Hafens, das eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Wohnqualität der Hamburger Speicherstadt aufweist. Selbst im katholischen Frankreich ist man ethisch längst im Temporären angelangt. Von der Beziehung zwischen der Commune und dem Capitale schwärmt er seiner Gegenüber vor, von der er vermutlich hofft, daß sie nach der reichlichen Zufuhr von eiweißen Aphrodiasika und rosénem Wein unter ihm und er anschließend schnaufend neben ihr liegt. Der am Nachbartisch versteckte Lauscher sieht ihrem ihm bekannten Gesicht deutlich an, wie wenig sie inzwischen einer solchen Lagerung zugeneigt ist. Doch der Vortragende hat wohl nicht die richtige Perspektive, um den Tatsachen in die Augen zu sehen und ist wohl auch ein wenig zu sehr in seine These verliebt, die er vor ein paar Tagen der der Privatwirtschaft sehr nahestehenden größeren der beiden örtlichen Tageszeitungen La Provence entnommen oder auch unüberprüft verinnerlicht hat.

Hätte er getan, was mittlerweile alle Welt tut, nämlich via Internet ein bißchen was über seine vor drei Tagen getroffene Verabredung herauszuschnüffeln, was im technikverrückten und scheinbar gänzlich kontrollfreien Linksrheinischen noch leichter zu bewerkstelligen ist als rechts des Rheins, wüßte er, daß sie den Aktivistinnen zuzurechnen ist, die noch als Studentin per Unterschrift mit dafür gesorgt hat, daß das Pariser Wasser nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Besitz der Stadt, also der Einwohner übergegangen ist, daß gerade sie als studierte Wirtschaftstheoretikerin dieser Art von Partnerschaft eine radikale Absage erteilt hat. Denn sie hat sich einen Teil des im sozialistischen Elternhaus vermittelten Wissens bewahrt, nach dem zumindest menschliche Grundbedürfnisse wie Energie, Lehre, Transport oder Wasser nicht in die Portemonnaies gewinnorientierter Konzerne, also nicht in private Hand gehört beziehungsweise man es ihr wieder wegzunehmen hat, wenn es dort hineingeraten sein sollte wie fast seit je üblich in den meisten Kommunen des Landes. Der hormongesteuerte Kulturmuslim aus dem bei Jean-Claude Izzo immer wieder beschriebenen Norden der Stadt, je nach Zuneigung oder Fluchtwillen Heimat oder Ghetto der Beurs, könnte das ebenfalls wissen, läse er manchmal das eine Zeitlang von Izzo edierte kleinere Blatt La Marseillaise und hörte wenigstens hin und wieder France Inter und nicht fortwährend Mucke auf Beur FM und manchmal, wenn die hartgegelten Kumpels nicht in der Nähe sind, heimlich Cherie FM oder Radio Nostalgie. So wird die junge schöne Blonde, die sich von dieser Begegnung eine andere Art der Annäherung erhofft hatte, nicht im schwarzen Cabriolet des sportlichen Redners nach Hause ins von Papa lange vor Umbaubeginn gekaufte Apartement fahren, sondern mit der Tram, die mittlerweile bis ans Ende der Rue de la République an der Joliette an jenem Teil des Hafens vorbeiführt, von dem aus nach Korsika oder Afrika übergesetzt werden kann, und am neuen, europäisch gestützten Medienzentrum ihr Ende findet.

Die oben geschilderte Begegnung hätte auch in Hamburg stattfinden können, auch hier eine Speicherstadt, anscheinend gar eine mit Vorbildcharakter für die südliche Metropole. An der Elbe ist man zwar nicht so nahe am Kontinent der Armut, dafür näher an China, dieser kommunistischen Volksrepublik, der ein Großteil des Hamburger Hafens gehört und ohne deren Geld man nicht soviele schöne Menschen hätte speichern können in der Stadt, in der auch ein Sozialdemokrat als solcher nur gewählt wird, wenn er zumindest charakterlich ein Pfeffersack ist. Die Vorzeichen hätten ähnlich sein können, der Typ vielleicht ein anderer, sowohl der der Abstammung des PKW als auch der des Gesprächspartners. Die Unausgewogenheit zwischen Wissen und Uninformiertheit dürfte sich die Waage halten. Die einen bilden sich eine Meinung, die anderen lesen Bild. In letzterer und Artverwandten wird im unerschütterlichen Glauben an die Hoffnung des eines Tages vielleicht doch noch erreichbaren Reichtums gebetsmühlenhaft das Rad von der partnerschaftlichen Beziehung zwischen Mensch und Geld gedreht.

Hier war vor einiger Zeit bereits einmal die Rede davon: PPP, neudeutsch Partnership, von mir vor langer Zeit mal abgehandelt im Zusammenhang mit Privatwirtschaft als Kunstsponsor. Unverdrossen wird propagiert, von dem längst erwiesen ist, daß es immer nur einen Gewinner beziehungsweise Verlierer gibt. Letzterer ist der Bürger, jener Mensch, der in deutschen Medien fast nur noch als Steuerzahler erwähnt wird. Die von ihm gewählten sogenannten konservativen Politiker, gerne auch solche aus dem sozialgefärbten Lager, verscherbeln, um die von ihnen gerissenen Haushaltslöcher zu stopfen, die vor und von Generationen angeschaffte und — conservare — bewahrte Aussteuer (es könnte ja eines Tages noch der richtige Partner fürs Kind kommen) samt Tafelsilber.

Genauer: Konzerne bieten ihnen Geschenke an. Der Erste Bürgermeister oder Ministerpräsident erhält für die Stadt, für das Land ein paarhundert Millionen, und dafür dürfen sie ins Wasserwerk einziehen. Zur Miete sozusagen, denn alles bleibt offiziell und zu dessen Beruhigung in des Staatsbürgers Besitz, wenn der Mieter auch so tun und handeln darf, als gehöre alles ihm. Deshalb schaltet und waltet er nach Belieben, setzt beispielsweise Defektes nur instand, wenn der Gewinn von annähernd dreißig Prozent dadurch nicht in Gefahr gerät. Und daß das anfängliche, in Frankreich mittlerweile verbotene Geldgeschenk aus einem gigantischen Kredit besteht, den samt Zinsen der Wasser- und später dann auch noch Abwasserkunde im Fluß zu halten hat, das unterschlägt der rechnerische Hochleister Homo Politicus geflissentlich, denn wenn diese Flut dem Wähler erst bis zum Hals steht oder dann als Tsunami alles wegreißt, sind die Gewählten längst nicht mehr im Amt, sondern eher in später Rente oder bereits auf dem Friedhof. Verschwiegen wird auch, daß die in der Regel Investoren genannten Konzerne so gut wie kein eigenes Geld in die Hand nehmen müssen, um den Kunden das ihre aus der Tasche zu ziehen, damit wie in Italien seltsam anmutende Milliardenberge anlegen, die in anderen Branchen wie etwa kommunaler Verwaltung oder Bildungssponsoring wundersame Reinigung erfahren. Längst haben diese Unternehmen Zugriff auf private Daten und bestimmen mit über die Finanzierung von Lehrstühlen. Ich vermute, daß es ohnehin nicht mehr lange dauern wird, bis in Deutschland Städte in die Namen der Konzerne umbenannt werden, die an der Gesetzgebung mitschreiben. Im Ballspielsport wird das längst praktiziert, das österreichische Modell des Namensadelns per Penunze wird bereits umgesetzt: die roten Bullen rollen mittlerweile den Osten auf.

Am ärgsten schaudert mich bei alldem der Gedanke, daß ein ganzes Sparbuch- oder Bundesanleihenvolk in Panik gerät, wenn ein paar rachitische Aktienviren durch die Medien gejagt werden, aber überall dort, wo es mittels Wahlzettel oder Wutbürgertum etwas gegen die Machenschaften von Ganovenverbünden tun könnte, es genau diese als Segensreichtum begrüßt. Es sind beileibe nicht nur die radikalen Konsumenten der Verbreitungsblätter der Agentur- und Regierungsnachrichten et vice versa oder der privaten Radio- und Fernsehsender, in dessen Wahrnehmungsfenster solche Gelddruckmaschinen nicht sichtbar werden. Das mag zum einen an der Überbeschäftigung mit der Suche nach dem preiswertesten Bioprodukt aus einer kommunistischen Volksrepublik oder einem erzkapitalistischen Ausbeuterland liegen, das beim Kaputtmacher des Einzelhandels erhältlich ist. Egal woher, Hauptsache gesund, vor allem aber billig. Es kann aber auch der Realitätsverlust einer Nation sein, die längst dazu übergegangen ist, den Werbeverlautbarungen der Anbieter vollst zu vertrauen, obwohl es dazu in keinster Weise Anlaß gibt. Gestern bot der WDR eine (ausnahmsweise aktuelle) Reportage über ein sozusagen sattsam bekanntes piemontesisches Süßwarenunternehmen mit rechtem Sitz in Luxembourg, familiengeführt und arg zurückhaltend mit Auskünften, mit dem mittlerweile üblichen Umfrage- und Probierbrimborium. Was da an geradezu ehrfürchtigem Vertrauen in das Imperium mit einem im Vergleich zu anderen geradezu unglaublichen Werbetat zutage trat, war erschütternd. Selbst einer wie ich, der diesen Pappkram nicht kauft, weil er nichts ist als das Geschmacksempfinden ganzer Völker zerstörende Massenware, war besser über Inhaltsstoffe und Produktionsbedingungen informiert als diese ganzen gut- bis besserverdienenden Mütter und Väter, die ihren Kindern und sich selbst fortwährend und bei völlig überteuerten Preisen die Mäuler damit vollstopfen und die Fettleibigkeit fördern.

Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, nicht darüber informiert zu sein, was es mit diesen alchimistischen Operationen dieser Konzerne auf sich hat, die sich aus dem ihnen nicht gehörenden Element Wasser goldene Aussichtstürme bauen. Die Leutchens sind auf diese Werbeweise so sehr daran gewohnt, alles zu glauben, auch daran, grundsätzlich doppelt und dreifach bezahlen zu müssen, daß sie mittlerweile auch noch freundlich lächeln und sich verbeugend bedanken, wenn ihnen vor ihren Augen das eigene Portemonnaie aus der Tasche gezogen wird.

Wasser als Handelsware
Marseille und die Einwanderer
Mamans Brustduftdrüsen

 
Di, 09.08.2011 |  link | (6577) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Tiefes Radio aus flachem Fernseher

Vor einiger Zeit hatte ich davon erzählt, daß ich in meiner Nordbürodependance fernsehtechnisch digitalisiert wurde. Die Besitzer der Revolutionskate, die zu berufsgeschäftigen Zeiten jede Verbindung zu Kommunikationsmitteln ablehnten, die über das morgendliche chansonette Morgengedudel von Madame Lucette oder die für deren Gatten bestimmten Weinbörsenkurse hinausgingen, verweigerten mit der Begründung der Überflüssigkeit jede technische Neuerung, die über die Vermieterpflicht hinausging. Dann klingelte es eines Tages an unserer Bürotür, ein Fernsehtechnikus begehrte Einlaß, um das zu prüfen, um das ich in den Anfängen meines Mieterdaseins eine Zeitlang vergebens gebeten hatte: beispielsweise die Möglichkeit des Empfangs solcher exotischen TV-Stationen wie das der francophonen Gemeinde. Das ist für mich fast dasselbe wie für andere MTV.

Man hatte den Betrieb an den Sohn übergeben und offenbar mit einem Mal Zeit im Überfluß. Nach der Eindeckung sämtlicher zum Grundstück gehörenden Dächer mit Sonnenkollektoren war jene Technik dran, die unter anderem auch einen Blick erlaubte in diesen selbst vielen Franzosen unbekannten, tief ins Belgische hineinragenden ardennischen Zipfel der Grande Nation, aus dem Madame stammt. Wir konnten also fortan in die digitale Ferne blicken, und seitdem weiß ich annähernd, wie riesig der internationale Fernsehmüllhaufen ist und wie sehr man darin nach der perlenbekopften Stecknadel hoher Qualität suchen beziehungsweise daß man dafür gesondert bezahlen muß. In Erfahrung gebracht habe ich auch, weshalb deutsch-öffentlich-rechtlich eine so außerordentliche Kanalvielfalt geschaffen wurde: Es lassen sich so sehr viel besser rund um die Uhr Wiederholungen ausstrahlen, womöglich in der Annahme, der Gebührenzahler merke wegen dieser vorgetäuschten Vielfalt nicht, daß es bis auf Seifenopern und Breitenmassenmord mit Bällen keinerlei Neuproduktionen mehr gibt — mittlerweile nudeln sie sogar alle erdenklichen, allzu heftigem intellektuellen Tiefgang halbwegs unverdächtigen Arte-Reportagen nächtens durch die Dritten, und auch das Tabu, über die Regionalen keine Werbung auszustrahlen, wird bald so zerbröselt sein wie die Berliner Mauer für Touristen aus dem Sauerland oder Vermont.

Aber ach, darüber wollte ich doch gar nicht schon wieder motzen, so gerne ich das ansonsten grundsätzlich auch tue; das war mir vermutlich ohnehin Antrieb, mich vor etwa vierzig Jahren für gut ein Jahrzehnt im kulturellen Journalismus zu betätigen; so kann man beispielsweise Kritiker werden oder sich so nennen. Dem vielzitierten Positiven wollte ich mich widmen, allem voran dem des Radios, in dessen Umgebung ich mich überwiegend betätigte. Und das habe ich zufällig wiederentdeckt beim Fernsehen, genauer im Fernseher, meiner nach wie vor wunderschönen und wie ein alter Apfel bedienerfreundlichen, über zehn Jahre alten Loewe-Xelos-Bildbratröhre. Mülltrennung betreiben wollte ich, diese ganzen Dreckssender aussortieren, um sie wegzuschmeißen. Während der Suche in der Sortiermaschine nach dem Wegwerfprogramm stieß ich auf ein Symbol mit Kopfhörern, klickte darauf und landete im heute so genannten Audiobereich. Auch hier eine außerordentlich große Anzahl Wegzuwerfendem, beispielsweise den Sender für die auf Ballermann angesiedelten Deutschen oder Kanäle wie Notre Dame sowie Gloria, Horeb et cetera, aber insgesamt doch mehr Solitaire als im TV-Bereich: in allen erdenklichen Sprachen und meist auch aus dem Ausland noch kostenfrei.

Vor allem aber erfahre ich eines, von dem ich zwar schon immer überzeugt war, das ich jedoch immer nur dann bestätigt bekam, wenn ich mich in den Regionen aufhielt, in denen die jeweiligen Sender vor sich hinstrahlten: der Rundfunk schlägt das Fernsehen qualitativ um Längen. Unprofessionell assoziiert könnte das als Gleichnis für die Ausschüttung des Glückshormons im Gehirn des Marathonläufers stehen, die der Sprinter nie erfahren wird. Auf jeden Fall scheint mir das wie der Unterschied zwischen dem Buch und dem nach ihm gedrehten Film; seit der Absage von Gianni Celati an Hollywood heißt diese Rubrik bei mir Kopfkino. Ich entdecke also auf dem Umweg über den im All kreisenden Satelliten gerade das Radio neu, und zwar in einer zuvor allenfalls geahnten Vielfalt. Darüber hinaus muß ich neu unterscheiden lernen zwischen Fernseh- und Rundfunkanstalten, die zwar von einer Immobilie aus senden, aber in ihren Qualitäten von außerordentlichem Unterschied sind. So fiel mir beispielsweise auf, wie flach das offenbar ausschließlich auf Einschaltquote ausgerichtete TV-Programm des Hessischen Rundfunks ist im Vergleich zum Tiefgang der Audioabteilung hr2 Kultur. Eine einstündige Sendung wie die vorgestrige zur siebzehnten Stunde zum Thema der durch ein paar teetrinkende, in ihrer evangelikalen Machttrunkenheit jedwede soziale Gemeinsamkeit mit Andersdenkenden abtötende Republikaner schwer in Mitleidenschaft gezogenen USA war beeindruckend in seinem Facettenreichtum: ein sanftmütig, aber dennoch mit Bestimmtheit moderiertes Konzentrat aller erdenklichen Fakten und Meinungen zum Zustand eines Landes, das aufgrund zweier Legislaturperioden eines Mannes fast alleine zugrundegerichtet wurde und dessen aktueller Präsident das vermutlich auch nicht mehr repariert bekommt. Immer noch leicht euphorisiert behaupte ich: Das schafft nicht einmal Arte an einem Themenabend.

Das Schönste jedoch ist, daß ich jetzt auch mal eben dort hineinhören kann, wo ich früher teilweise selbst zugange war, angefangen beim damaligen Heimatsender Bayern, dem seinerzeit sehr geschätzten bremischen, dem saarländischen in Saarbrücken, südwestfunklich (früher allein auf dem Hügel über Baden-Baden) oder westdeutsch am Appellhofplatz in Köln, Frankreich und die Schweiz nicht zu vergessen. Nur bei einem, in den Achtzigern nicht nur ARD-weit überaus beachteten Auftraggeber bleibt mein vor etwa drei Jahren gefälltes vernichtendes Urteil bestehen, dem tagsüber zum öffentlich-rechtlichen Klassik-Dudel-Radio verkommenen NDR-Kultur. Aber das höre ich deshalb seit längerem nicht einmal mehr analog. Auch digitalisiert bleibt Müll ein Haufen Abfall, daran ändert auch nichts das in den Abenden leicht verbesserte Programm.

Die Digitalnativen, also diejenigen, denen mittlerweile qua Zeugung das Gehirn durch eine Festplatte ersetzt wird, zeigen sich nun äußerst verwundert, schließlich ließe sich das alles doch quasi durch Direktleitung oder gar per Funksignal am mobilen Computer erledigen, wozu seien diese Geräte denn sonst erfunden worden als zum live streamen und so, und fernsehen am Fernseher sei ohnehin überhaupt sowas von vorgestern oder, auf neudeutsch, oldschool. Nun gut, das bin ich ohnehin. Aber da seit einiger Zeit neunzig Prozent des in mir befindlichen Wassers sich in meinen Beinen zu versammeln scheint, wenn ich länger als fünf Minuten auf dem Stuhl an der Arbeitsplatte sitze, sind meine Live-Sende- und Empfangszeiten im Internet extrem eingeschränkt.

So gerate ich in eine Haltung, von der ich mir nie vorstellen konnte, sie einmal einzunehmen und die ich als zwar erfahrener, aber letztlich doch ziemlich altbackener Computernutzer immer bekopfschüttelt, zumindest aber ihrer komischen Wirkung wegen belächelt habe: Ich sitze auf meinem, nein, nicht schwedischen, sondern spanischen und holzmassiven, aber auch handgepolsterten Canapé oder auch Biplaza, habe die Beine hochgelegt und befehlige meine während des Verfassens entstehenden Gedanken in die auf den Schenkeln positionierte Tastatur meines im Jahr 2000 gekauften EiBüchleins mit nicht erweiterbaren zehn Gigabyte Festplatte, befülle eine portable Chipansammlung mehrfacher Kapazität und kippe den Inhalt anschließend in die Datenumlaufbahn.

Und schon bin ich zurück am Fernseher und höre wieder Radio.
 
Fr, 05.08.2011 |  link | (5402) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau



 

Sprachwu(r)st und Analogkäse

Käse wird mitterweile nicht nur auf der Alm via Edelstahl sündenfrei produziert, sondern auch im tiefen Jammertal der Medien massenhaft geredet. Zwar bin ich mittlerweile an einiges gewohnt, aber dennoch zucke ich immer wieder zusammen, wenn selbst in öffentlich-rechtlichen, also in gewisser Weise sprachlich an klare Standards gebundene Spartenkanälen oder sogenannten Einschaltprogrammen wie denen von Arte, 3Sat, Deutschlandradio Kultur und so weiter Wörter falsch oder zumindest in zweifelhafter Anwendung eingesetzt werden. Das brachte mich vor ein paar Wochen zu der Überlegung, bestimmte Begriffe aus meinem öffentlich geäußerten Wortschatz zu streichen oder nur noch apostrophiert anzuwenden.

Aus figurativer Malerei entwickelte Abstraktion

Kreativ wäre da zu nennen, meist dargeboten als Feld-, Wald- und Wiesenstrauß diffusen Werbe- oder Polit-PR-Geschwurbels, ein Wort, so analog wie das, das ungestraft Käse genannt werden darf (wobei selbst bei «echtem» zur Authentifizierung häufig noch die Kuh mit aufs Bildchen der Plastikverpackung muß, die noch nie Gras gesehen, geschweige denn gefressen hat). Ein weiteres Beispiel, das mir vor ein paar Minuten aus dem Kulturradio kreischend ins Gehör sprang und dort detonierte, ist abstrakt. Es ging, wie anders, um eines der vielen neuen Glaubensbekenntnise, die ihre Mißverständnisse aus den Katechismen des Marktes nähren: dem der bildenden Kunst. Eine Kunstkritikerin belehrte den Einschalthörer eindeutig über den Unterschied zwischen abstrakter und figurativer Kunst.

Aus geometrisch-konstruktivistischer Plastik entstandene zeichnerische Abstraktion (Ausschnitt)

Vor einiger Zeit habe ich hier bereits einmal den Versuch unternommen, auf die Verwaschenheit solcher Begriffsbestimmungen hinzuweisen, die in ihrer Klarheit eigentlich leuchten müßten wie das Weiß von Frau Clementine. Abstrahieren heißt nichts anderes, als das Unwesentliche vom Wesentlichen (oder umgekehrt) zu trennen. Abstraktion bezieht sich folglich nicht alleine auf Geometrie oder Konstruktion, sondern durchaus auch auf Figuration, das gegenständliche Bild, beispielsweise auch auf das von Herrn Rauch.

Es ging um diesen von mir bekanntermaßen nicht übermäßig geschätzten Hochpreisungsmaler. Der äußerte, als er noch im Dienst, also noch Lehrer oder, meinetwegen, Professor an einer Hochschule war, sich mal insofern besonders fachmännisch über einen Bereich, der, lies oben, gemeinhin der Abstraktion zugeordnet wird, der konkreten Kunst. Eines ihrer Bilder, meinte dieser qualmvoll nebulöse Neonarrativist auch noch, sei wesentlich schneller zu malen als eines aus der Gattung Realität. Darauf erteilte Wieland Schmied ihm in einem Branchenblatt gewohnt höflich, aber auch bestimmt und fachlich Nachilfe.
«Eines bedenkt Neo Rauch nicht: Ein abstraktes Bild (nicht unbedingt geometrisch-konstruktiv, nicht unbedingt Hard Edge) mag zwar als solches schneller ‹ausgeführt› sein als ein realistisches, das viele Details und kunsthistorische Anspielungen enthält, die penibel gemalt sein wollen. Aber die ‹Vorbereitungszeit› ist viel länger. Damit meine ich nicht, dass etwa Sam Francis stundenlang vor einem Bild, einer Leinwand, einem Lithostein unbewegt verharren, meditieren, ‹sich sammeln› konnte — um das Bild dann konzentriert in großer Geschwindigkeit zu realisieren. Damit meine ich vielmehr das langsame, lange Zeit währende Suchen nach dem ‹inneren Bild›, zum Beispiel bei Ad Reinhardt, Josef Albers, Barnett Newman, aber auch bei Mark Rothko. Dazu eine Anekdote: Eines Tages kam ein Besucher (ein möglicher Käufer) zu Mark Rothko ins Atelier, sah eines seiner ‹wolkigen› Bilder, eine rote oder violette Fläche mit unscharfen Rändern über einer orangenen oder dunkelblauen oder schwarzen Fläche als ‹Grund›, und fragte: ‹Sagen Sie mal ehrlich, Meister, wie lange haben Sie dafür gebraucht?› Mark Rothko überlegte einen Moment, dann sagte er: ‹Genau 58 Jahre›».
Die fünf Minuten sind um. Jetzt muß ich die Beine wieder hochlegen.
Beispielbildchen: Romain Finke und Robert Jacobsen (auch Jakobsen), beide Privatbesitz; Photographien: © Jean Stubenzweig
 
Mi, 03.08.2011 |  link | (3529) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca



 







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